(Am 11.05.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Seit es das Deutschlandticket gibt, bin ich mehr unterwegs als früher. Ich plane die Fahrten und Abstecher ins Irgendwo nie, sondern fahre meist einfach dann los, wenn ich lange genug gearbeitet oder zu lange gesessen habe. Ein solches Fahren und kurzes Reisen hat etwas stark Belebendes, vor allem, wenn ich den erstbesten Impulsen folge und mich spontan auf die Reize einlasse, die von der Umgebung ausgehen.
Jetzt, im Mai, hat das wache und explosive Grün der Bäume und Pflanzen etwas Berauschendes, und die lodernden Blütenfarben mischen sich dazwischen, als bestünde die Natur aus lauter Impressionismen. Felder mit gelbem Raps, die weißen oder violetten Fliederblüten, die drallen Blütenbündel der Kirschbäume – das alles könnte Gefühle wie Verbundenheit, Glück oder sogar Ekstase auslösen.
Spreche ich mit meinen Freunden davon, bleiben sie wortkarg. Die meisten verbieten sich positive Empfindungen, weil „das Leben“ oder „die Welt“ sie angeblich nicht mehr erlauben. Alles Wahrnehmbare wirkt wie von einer grauen Patina überzogen. Sie rührt von den aktuellen Bildern und Nachrichten her, die uns über die verschiedensten Kanäle erreichen. Der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel, die Folgen der Pandemie, soziale Verwerfungen – die massive Negativität solcher Themen, die durch die sozialen Medien noch rasant gepusht werden, wirkt erschreckend. Selbst Lachen oder Lächeln stehen schon unter dem Verdacht eines naiven Umgangs mit den laufenden Ereignissen, oder sie wirken wie fatale Anzeichen eines Eskapismus, der sich vor dem allgegenwärtigen Schrecken leichtsinnig aus dem Staub macht.
Freunde mit Berufen, die einer in langen Zeiträumen entwickelten künstlerischen Kreativität bedürfen, sprechen davon, dass sie sich gehemmt fühlen und nicht mehr frei an ihre Projekte denken. Vor jeden Handgriff, jeden Gedanken, jede Idee schiebt sich der Verdacht, das Angedachte oder Erfundene könne der Gegenwart nicht gewachsen sein. Die Kunst soll deren dunkle Zeichen und Bilder nicht ignorieren – handelt sie andererseits aber unablässig von ihnen, droht sie zu ersticken oder sich in banalen Gesten der Bebilderung zu verlieren.
Solche Erfahrungen machen bewusst, dass kreative Prozesse von Kunst, Musik oder Literatur ohne eine starke Naivität oder sogar Blindheit nicht möglich sind. Eingelagert ist ihnen der Glaube an eine mögliche, gelingende Zukunft und das Vertrauen darauf, dass Werke der Kunst Kräfte mobilisieren, die ungeahnte, nicht planbare Tiefenerfahrungen abrufen. Gerade sie sind so etwas wie die fernen Zentren eines gegenläufigen Lebens, das sich vor den negativen Erfahrungen der Gegenwart nicht versteckt, sondern sich ihnen gegenüber zu behaupten versucht.
Vor kurzem hat der Pianist Igor Levit vierundzwanzig Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch aus den frühen fünfziger Jahren eingespielt. Er hat diese Stücke eine Art Tagebuch genannt, entstanden in einer Lebensphase extremer Einsamkeit. Man kann sie hören wie ein unablässiges Grübeln, das lauter irritierende Gefühlszonen durchlebt, auf der Suche nach lichten, momentanen Intensitäten.
Manchmal denke ich, ich bin mit meinem Deutschlandticket ganz ähnlich unterwegs. Das Dunkle der Gegenwart geht mir nicht aus dem Kopf, und wenn ich Augenblicke erlebe, die etwas Befreites, Strahlendes haben, rührt mich das mehr als früher. Als enthielten diese unerwarteten Erscheinungen ein „Trotz alledem“ und eine innere Gegenwehr, die ich vielleicht auch nur in sie hineinschaue. Das aber hilft seltsamerweise, es justiert die Wahrnehmung und lässt sie wacher als je zuvor auf alles reagieren, was ihr an jedem einzelnen Tag begegnet und bevorsteht.
Meine Lieblingsstücke unter den vierundzwanzig Präludien und Fugen sind übrigens die in A-Dur. Sie dauern zusammen immerhin fast dreieinhalb Minuten.