Der ukrainische Dichter, Essayist und Übersetzer Ostap Slyvynsky hat nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 ein Internet-Projekt ins Leben gerufen, das die leidenden Menschen zu Wort kommen lässt.
Seine Idee war es, ein Wörterbuch des Krieges zu aktivieren, das nicht er selbst als alleiniger Autor, sondern an dem eine Vielzahl von Menschen mitschreiben sollte, deren Geschichte man jeweils unter einem Leitmotiv aufrufen kann. Um diese Geschichten zu erfahren, arbeitete er mit vielen Mitautorinnen und Mitautoren zusammen, denen diese kurzen Texte vor Ort erzählt wurden.
Nun liegen sie auch als Buch vor (Ostap Slyvynsky: Wörter im Krieg. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. edition.fotoTAPETA. Berlin 2023). Sie beginnen mit einem Text über „Abschied“ und enden mit einem über „Zimmer“.
An diesen Stimmenchor dachte ich gestern, als ich die Verleihung des Karlspreises an den ukrainischen Staatspräsidenten im Fernsehen verfolgte. So viele Rednerinnen und Redner – und so wenig Sprache, die das Kriegsgeschehen einzufangen versuchte! Stattdessen viel blasses politisches Reden, viele Phrasen, viele Wiederholungen!
Ich nahm das Buch zu Hilfe und las dagegen an – so etwa Gesang (von Frau Olha, Saporischschja):
„Es ist so schön, dass wir in einer Musikschule wohnen. Ich liebe es zu singen. Sogar als wir im Keller das Ende eines Bombardements abwarteten, habe ich gesungen. Zuerst laut, auch die Nachbarn haben miteingestimmt, und es war irgendwie gut. Dann wurde ich müde und habe für mich gesungen. Leise, nur für mich. Ich konnte mich an den Text aller Lieder erinnern. Wenn man versucht, sich zu erinnern, schläft man nicht ein. Einschlafen macht Angst.“ (S. 40)