Der Eisenbahn-Landwirt

All jene Leserinnen und Leser, die meinen Roman Ombra aufmerksam gelesen haben, wissen, dass ich auch ein Eisenbahn-Landwirt bin. Denn in dieser Rolle begegne ich den Patienten und Hilfskräften in der Reha-Klinik, in der viele Szenen des Romans spielen.

Manche Rezensenten haben das für einen mehr oder weniger gelungenen Scherz gehalten, der pure Fantasie und Teil eines inszenierten Humors sei. Der stützt und trägt den Roman in der Tat untergründig, wodurch aus einer Erzählung über eine schwere Erkrankung keine düstere, sondern (fast) eine heitere, helle geworden ist.

Jetzt möchte ich einmal bestätigen, dass ich auch ein Eisenbahn-Landwirt bin. Meine Gärten und Wälder, die ich in einem Buch mit gleichnamigem Titel durchstreift und deren Pflanzen und Bäume ich dort beschrieben habe, liegen meist entlang des Gleisgeländes, aber streng von ihm getrennt.

Es fahren nicht viele, aber doch einige Züge während des Tages an ihnen vorbei, alle in den Süden, Richtung Bodensee, Zürich – und sogar Richtung Norditalien.

Ich habe den Fahrplan in den Jahrzehnten, in denen ich an der Bahn wohne, verinnerlicht, das heißt: Ich weiß genau, zu welcher Uhrzeit welche Züge in welchem Tempo an meinen Gärten vorbeifahren.

Die Gärten sind durch Bäume und Buschwerk vom Gleisgelände getrennt. Auf dem Gleisgelände wachsen ganz andere Pflanzen, von denen sich keine einzige durch Ableger in das Gartengelände verirrt. Beide Pflanzenbiotope existieren und leben dicht beieinander, bleiben aber streng geschieden und wandern keineswegs aufeinander zu.

Das hat mich lange Zeit erstaunt und sehr fasziniert, konnte ich doch auf dem Gleisgelände Pflanzen erkennen, die ich noch nie an sonstigen Orten gesehen hatte und die „wie aus heiterem Himmel“ gerade dort einen steinigen Grund gefunden hatten, um zu wachsen und eine eigene Blütenpracht zu entwickeln.

Deshalb war meine Freude groß, als ich vor Jahren in einer kleinen, venezianischen Buchhandlung ein italienisches Buch mit dem Titel Flora ferroviaria („Eisenbahnflora“) entdeckte. Der Autor Ernesto Schick war kein professioneller Botaniker, sondern ein Pflanzenenthusiast und daher ein genauer Beobachter. Jahrelang hatte er auf dem Bahngelände des Bahnhofs von Chiasso Pflanzen und Blüten vorgefunden, von denen er viele auch gezeichnet hatte.

Was für ein schönes, seltenes Buch hatte ich gefunden!

https://www.humboldtbooks.com/it/book/flora-ferroviaria

Leider wurde es nie mehr aufgelegt, die Auflage ist vergriffen. Jetzt, in den Maitagen, bin ich mit seiner Hilfe auf den Pfaden neben dem Bahngelände unterwegs und fotografiere, was ich sehe und erkenne – Eisenbahnflora: Habichtskraut!