Am Pfingstmontag, 29. Mai 2023, betritt der Pianist Grigory Sokolov die Bühne der Kölner Philharmonie, verbeugt sich kurz, nimmt rasch Platz und spielt fünfzig Minuten lang (ohne längere Unterbrechungen) Kompositionen von Henry Purcell (1659-1695): Suiten, eine Chaconne, burleske Piecen (das Foto zeigt seinen Steinway-Flügel auf der Bühne).
Die meisten sind zu Lebzeiten Purcells nicht im Druck erschienen, es waren vor allem Übungsstücke für seine Schüler, Variationen von bereits bekannten Themen, luftige und entspannte Laune verbreitende Tänze, Auftritte und Sonderbarkeiten.
Nach fünfzig Minuten Purcell verschwinden Hunderte von Besucherinnen und Besuchern in die Pause, danach wird Grigory Sokolov wieder erscheinen, sich kurz verbeugen, rasch Platz nehmen und eine Klaviersonate von Mozart (KV 333) sowie Mozarts Adagio in h-moll (KV 540) spielen.
Mir aber ging der Purcell nicht mehr aus dem Kopf. Wer meine Autobiografie Ein Kosmos der Schrift (btb) gelesen hat, weiß genauer, warum.
Auf den Seiten 100/101 erzähle ich davon, dass ich nach einem wegen Krankheit abgebrochenen Klavierstudium aus Rom nach Deutschland zurückkam und eine Weile als Kellner in einem Ausflugslokal am Rhein arbeitete. Dort entdeckte ich ein abgestelltes Klavier, an dem ich tief in der Nacht, wenn die Gäste allmählich verschwanden, einfache Klavierstücke spielte. Es waren vor allem Suiten von Henry Purcell.
Die Gäste hatten bald raus, was ich da spielte. Es gefiel ihnen, und sie baten mich häufig, doch bitte „Purcell“ zu spielen, „einen Purcell bitte!“ riefen sie dann in Weinlaune, schließlich hatte ich meinen Spitznamen weg, ja, ich wurde „Purcell“ genannt, Purcell spielte um Mitternacht Stücke von Purcell.
Es waren keine Stücke für bedeutende Pianisten oder große Auftritte an Soloabenden, niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, fünfzig Minuten lang Purcell zu spielen.
Dann aber, am Pfingstmontag 2023, geschah es eben doch! Völlig unerwartet und überraschend spielte einer der größten Pianisten der Gegenwart fünfzig Minuten lang Purcell.
Ich saß unter den Zuhörerinnen und Zuhörern – und ich hörte zu wie wahrscheinlich kaum jemand sonst. Die früheren Welten waren plötzlich präsent, Bonn, Anfang der siebziger Jahre, Bonn am Rhein, ein Ausflugslokal, in dessen Hinterzimmer ein gescheiterter Pianist Stücke von Purcell spielte.
Tief durchatmen, die Zähne zusammenbeißen, zuhören, jede Note erleben…