„Die große Liebe“ – auditiv und visuell

Gestern habe ich im Kulturwerk von Wissen/Sieg aus meinem 2003 erschienenen Roman Die große Liebe (btb) gelesen. Nach den Lesepassagen wurden Fotoserien gezeigt, die der Fotograf Wolfgang Dickopp an den Orten des Romangeschehens gemacht hatte. So erlebten die Zuhörerinnen und Zuhörer eine zweigleisige Lektüre: auditiv und visuell, vergleichend, partizipierend.

In meiner Einleitung erinnerte ich mich daran, wie der Roman entstanden war. 1993 war ich auf Einladung von Freunden zum ersten Mal an die Adriaküste in die italienischen Marken nach San Benedetto del Tronto und Acquaviva/Picena gefahren. Die starken Bilder der Regionen am Meer und in den Bergen waren mir danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Zehn Jahre lang fuhr ich immer wieder dorthin und lernte die Menschen, Räume und Erlebnisrituale genauer kennen, bis die vielen Bilder in meinem Kopf schließlich auf textuelle Fixierungen gedrängt hatten.

Ab Januar 2003 schrieb ich Eindrücke und Szenen in ein Skizzenbuch, in dem ich Fotos, Bilder und Pläne der Region im Verbund mit den handschriftlichen Notaten sammelte. Daraus entstand mit der Zeit ein schlichter Plan: Ich schickte einen in München lebenden und als Journalist bei einem Fernsehsender arbeitenden Mann auf die Reise, um die von mir so geliebten Ländereien der Marken zu besuchen und Szenen für einen Dokumentarfilm zu sammeln.

Der Journalist war dadurch so etwas wie mein Stellvertreter – er reist los, und schon während der Zugreise in den Süden setzt die Faszination durch die Umgebungen ein:

Plötzlich das Meer, ganz nah, eine graue, stille, beinahe völlig beruhigte Fläche. Ich reckte mich auf und schaute auf die Uhr, zwei, drei Stunden hatte ich vielleicht geschlafen, jetzt war früher Morgen, kurz nach Fünf, ein Juli-Morgen an der italienischen Adria-Küste. Ich hatte das Meer einfach vergessen, jahrelang hatte ich es nicht gesehen, jetzt lag es vor mir wie eine Verheißung zu Füßen, unaufdringlich und groß, als bekäme ich mit ihm zu tun…

Der ruhige Anfang enthält ein erstes, markantes Signal: Ein weites Bild breitet sich aus, und ein Verdacht entsteht. Er zielt darauf, dass der Raum auf intensive, emotionale Weise eine Figur für sich einnehmen wird.

Die wenigen ersten Sätze deuten bereits an, dass Die große Liebe kein „realistischer Roman“ ist, sondern eher ein Roman, den man „spirituell“ nennen könnte. Seine Figuren (im Grunde sind es nur zwei) werden zu Empfindungsträgern von räumlichen Sequenzen und Szenen, sie übersetzen den Raum in nahe und starke Erlebnisse, so dass die Räume sich „zeigen“ und „offenbaren“.

„Liebe“ ist das mystische Stichwort für diese Prozesse, und auf solche tiefergehenden Schichten treibt der Roman zu, bis in die entlegenen Gebirgsregionen des Piano Grande. (Das Foto unten zeigt den Fotografen Wolfgang Dickopp und mich selbst gestern Abend vor diesem Gebirgsplateau – der Zuschauer Wolfgang Pfeifer hat es mir nach der Lesung geschickt…)

Während ich las, zog es mich auf berührende Weise zurück in die Zeiten vor zwanzig Jahren, als ich an dem Roman geschrieben hatte. Im dunklen, großen Saal des Kulturwerks war es stundenlang „mucksmäuschenstill“, und ich hatte das Gefühl, einer intensiven Meditation beizuwohnen, die sich mit Hilfe der Bildgeschichten von Wolfgang Dickopp in einen vielschichtigen Film verwandelte.

Zwei Stunden lang war dieses Changement der Eindrücke zu erleben – horchend auf die Musik des Textes, schauend auf die Bildsprachen der Fotografien. Ein auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer wohl unvergessliches Erlebnis!

(Der Abend ist aufgezeichnet worden, die Aufzeichnung wird zurzeit noch bearbeitet. Vielleicht wird es gelingen, sie zum Beispiel auf Youtube zu präsentieren. Mal sehen…)