Völkerwanderung ans Meer

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Anfang Juli beginnen in Italien die sommerlichen Endlosferien für die ganze Familie. Zweieinhalb Monate dauern sie im besten Fall und führen an den heißen Tagen fast immer ans Meer. „Il mare“ ist das im ganzen Land zu hörende Stichwort für die große Völkerwanderung, über deren kulinarische Details überall ausgiebig berichtet wird.

Wandern wir also mit und studieren wir, was der Strand uns beschert: Menschen aller Altersstufen, auf dem Bauch, auf dem Rücken, oft in der prallen Sonne, hingebungsvoll, im Halb- oder Tiefschlaf. Niemand versteckt seine „bella figura“, sondern zeigt sie bereitwillig her, und niemand spricht darüber, wieviel Pfunde der Nachbar seit dem letzten Sommer zugelegt hat. Die Entblätterung ist vielmehr Ausdruck einer sich radikal darstellenden Passivität, die allem entkommen will, was nach dem sonstigen Leben aussieht.

Im Bereich der Liegestühle und Sonnenschirme herrscht der männliche Strandbesitzer über ein beachtliches Territorium. Er verteilt die Plätze, erste Reihe oder eine der preiswerteren im Hinterland. Vor allem ist aber auch der zentrale Kommunikator, denn seine Aufgabe besteht darin, den Kontakt zwischen den Sonnenhungrigen zu gewährleisten und anzuregen. Wen also postiert man neben wem, damit die Unterhaltung schäumt und gedeiht? Wo ergeben sich Inseln des Diskurses, die auf andere abfärben?

Ein Buch oder eine Zeitung wird man vergeblich suchen. Wenn gelesen wird, dann höchstens die neusten Meldungen aus den Nachrichtenportalen der Smartphones. Besser aber ist es noch, die anderswo sich aufhaltenden Familienmitglieder mit ihren gut geölten Stimmen zuzuschalten und deren neuste Leidenschaften unter das bereitwillig zuhörende Strandvolk zu senden.

So herrscht eine allseitige Privatheit der Mitteilungen, die sich streng von politischen Diskursen abgrenzt. Am Strand wird weder diskutiert noch politisch infiltriert. Berlusconi? Tempi passati! Meloni? Duckt sich weg und wartet noch auf ein Profil. Lieber nicht drüber reden, das führt zu nichts, und erst recht interessieren keinen Menschen die deutschen Energiedebatten, die einfach niemand verstehen oder verfolgen will.

Der Strand ist vielmehr ein zweites Zuhause, das sich von dem eigentlichen dadurch abgrenzt, dass man es wie ein Wanderer aufsucht, kurzzeitig zum Pranzo verlässt, wieder in Besitz nimmt und am Abend melancholisch verabschiedet. Der Tag vergeht mit Liegen und einigen kurzen Gängen am Meer entlang, schwimmen kostet Überwindung, muss nicht sein und ist etwas für jene Ruhelosen, die sich anstrengenden und eher lästigen Sportarten widmen.

Überhaupt bleibt man auf einigem Abstand zum Meer, es ist die weite Sphäre des grollenden und rumorenden Ungewissen, launisch, verführerisch und vielstimmig, etwas für große orchestrale Musik – und damit das genaue Gegenteil zu den Plauderzonen des Strandes, wo die Kammermusik der Familienstimmen und die kindlichen Solisten den Ton angeben.

Nirgendwo ist die Familie in all ihren Schattierungen noch derart präsent. Großeltern erfinden postmoderne Sandburgen und schleppen das Baumaterial für die staunenden Enkel eigenhändig herbei, während die Eltern sich fortgeschritteneren Passionen widmen und die etwas älteren Kinder an der abendlichen Menükomposition beteiligen. Essen wir Ravioli mit Sugo oder lieber mit Salbei und Öl? Und wie viele Kugeln ungezuckertes Eis müssen wir in der Gelateria auftreiben, damit alle etwas davon haben und jeder die Sorte bekommt, die er über alles mag und bereits sein Leben lang isst?

Für zweieinhalb Monate sind solche Fragen lebenswichtig – und sonst einfach gar nichts.