Erlebte Intensitäten

(Am 4.8.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Die Hitzewellen im mittelmeerischen Süden führen in den Nordländern momentan zu Debatten über neue Formate des Urlaubs. Selbst Karl Lauterbach ist während eines Ferienaufenthaltes in Rom aufgefallen, dass es dort wärmer war als er erwartet hatte. Leider konnte er sich nicht beherrschen und griff wie ein hastiger Jüngling gleich zur Twitter-Konsole, um sich für immer vom sommerlichen Süden zu verabschieden.

Nun richtet sich das Wetter zum Glück nicht nach Karl Lauterbach, und seine italienischen Freunde haben das einzig Richtige getan und ihn zur Strafe nach Rimini eingeladen. Der Sommerurlaub bleibt dennoch ein akutes Thema, zu dem die alten Römer viel hätten beitragen können. Sie liebten es nämlich, sich in den heißen Jahreszeiten in ländliche Gegenden zurückzuziehen und dort möglichst viele ruhige Tage zu verbringen.

Erwachen bei Sonnenaufgang, kleine, sorgfältig zubereitete Mahlzeiten, Vertiefung in die Künste, Gedichte und wohlklingende Prosa, kurze Spaziergänge, am Nachmittag ein Bad, später heitere, nicht allzu tiefgehende Gespräche, Tanz am Abend, Staunen über die Schönheit der Sterne in der Nacht. Das waren Tagesabläufe, die der jüngere Plinius in seinen Briefen bis ins Detail beschrieben und ausgemalt hat, so dass man sich während der Lektüre augenblicklich in einen Menschen verwandelt, dem ein stabiles Glück verheißen wird.

Unsere Ferienanbieter scheinen davon wenig gehört zu haben. In ihren trubeligen Reiseprogrammen jagt eine flüchtige Aussicht auf eine Bucht und ein Ferienparadies die nächste, und man tut alles, damit der für wenige Wochen in der Fremde lebende Urlauber die Tage wie Jagdmanöver gestaltet, die fürs Smartphone zelebriert werden. Das alles hätte dem bevorzugt in entlegene Bergregionen reisenden Philosophen Theodor W. Adorno gar nicht gefallen, der in solchen Fällen kritisch und scharf eingewandt hätte, dass es sich nicht um Aktionen „in menschenwürdigem Sinne“ handle.

Bei näherem Hinsehen planten die alten Römer ihren Sommer auf dem Land wie einen intensiv gewordenen Alltag. Keine politischen Debatten, nicht die üblichen Themen des Tages, sondern klug Ausgewähltes sollte diesen Alltag gestalten. Nicht allzu weit entfernt also vom Bekannten, nur bewusster, gezielter und wacher – das waren ihre Urlaubsideen. Solchen Vorstellungen von gelingendem Leben entsprach es nicht, den Menschen in einer der schönsten Jahreszeiten so lange auf den Kopf zu stellen und durchzuschütteln, bis er halb bewusstlos wieder nach Hause kommt, um bereits wenige Tage später vieles wieder vergessen zu haben. Stattdessen ging es ihnen um erlebte Intensitäten, die umso stärker wirkten, je näher sie sich an dem orientierten, was einem vertraut war.

Heutige Urlaubsideen wollen aus dem Urlauber dagegen oft einen anderen, neuen Menschen machen. Die Nachwirkungen der geplanten Hektik sind jedoch nicht selten depressive Verstimmungen, die daher rühren, dass man von allem zu viel und nichts tiefergehend erlebt hat. Vielleicht hilft die Plinius-Lektüre: „Du fragst mich, wie ich in Tuscien im Sommer meinen Tag einteile. Ich werde wach, wann ich mag, meist um die erste Stunde, oft auch früher, seltener später. Die Fenster bleiben geschlossen; wunderbar, wie ich, durch die Stille und Dunkelheit geschützt gegen alles, was ablenkt, frei und mir selbst überlassen, nicht den Augen mit dem Geiste, sondern dem Geist mit den Augen folge…“

Das ist es, ganz einfach – und schon kann ein Tag beginnen, der seinesgleichen sucht. Dem Geist mit den Augen zu folgen, diese Umkehrung aller Urlaubswerte liest sich geradezu revolutionär und könnte sogar Karl Lauterbach stimulieren, sofern er nicht gleich wieder zupackt und Plinius-Botschaften per Twitter in alle Welt versendet.