(Am 16.08.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Meine Freunde entwickeln in letzter Zeit einen zunehmenden Widerwillen gegenüber bestimmten Nachrichten. Vor allem solche über den Zustand der Ampel-Koalition nerven stark. Sie kommen ihnen vor wie Folgen einer trashigen Serie, die jeweils andere Protagonisten für kurze Zeit in den Vordergrund rückt und sich abmüht, Interesse für sie zu wecken. Heute Frau Baerbock, morgen Herr Lauterbach, dann wieder Herr Lindner, nur an Olaf Scholz tropfen diese zähen Bemühungen ab, weil er sich schon seit langem dafür entschieden hat, nicht interessant sein zu wollen.
Es geht aber um Grundsätzlicheres, denn schon früher habe ich mich oft gefragt, welche Nachrichten meine Freunde bewusst aufnehmen, durchdenken oder gleich wieder im Kleinhirn verschwinden lassen. Momentan verbringen sie noch ein wenig tägliche Zeit damit, Meldungen aller Art aufzuschnappen, zu überfliegen oder sogar zu lesen. Ob sich das lohnt, fragen sie sich jedoch immer kritischer: Von wo kommen sie, gehen sie einen wirklich etwas an oder täuschen sie Wichtigkeit vor, um uns bei der Stange zu halten?
Der Philosoph Walter Benjamin hat in einem Essay über das Erzählen den Verleger Hippolyte de Villemessant zitiert: „Meinen Lesern … ist ein Dachstuhlbrand im Quartier Latin wichtiger als eine Revolution in Madrid.“ Solchen Lesern kam es also vor allem auf Informationen an, die sie direkt mit ihren Lebensverhältnissen zu verbinden wussten. Die Informationen konnten alarmierend sein, und sie wirkten kurzfristig wie Signale, um bald danach zu verpuffen.
Anders dagegen die Erzählung. Sie prägt sich dem Gedächtnis ein, bleibt dort gespeichert und wird, wenn sie von Mund zu Mund wandert, um benachbarte Erzählungen erweitert und angereichert. Dafür braucht es jedoch Erzählerinnen und Erzähler, die sich Zeit nehmen. Benjamin glaubte, dass gutes Erzählen aus der eigenen oder berichteten Erfahrung komme. Erreiche es das Publikum wirklich, werde es wiederum zu dessen Erfahrung.
Unserer TV-Sender haben sich diese Erkenntnis zu eigen gemacht und schicken Reporterinnen und Reporter an die Nachrichtenorte. Da stehen sie dann in der Dunkelheit oder bei Wind und Wetter vor den Toren der Katastrophengebiete und versuchen, davon zu berichten, worum es sich handelt und was gerade los ist. Solche Berichte erreichen uns jedoch ebenfalls kaum, weil auch sie wie Informationen wirken und nicht die Kraft von Erzählungen haben. Auf X (ehedem Twitter), TikTok und anderen Social-Media-Kanälen nehmen sich unterdessen Scharen von Nutzerinnen und Nutzern der herumflatternden Meldungen an und versuchen, sie aus eigener Perspektive zu teilen.
Das jedoch hilft langfristig auch nicht weiter, weil sie ebenfalls im nackten Nachrichtenmodus verbleiben und kein weiteres Fleisch ansetzen. Es ist wie verhext. Noch nie stürzten täglich so viele Informationen wie jetzt auf uns ein, und noch nie waren wir derart unfähig, mit ihnen umzugehen und sie wirklich mit unserem Leben zu verbinden. Beinahe rührend wirken da schon die Momente, in denen die Nachrichtensprecher sich nach Personen umschauen, die eine „Einordnung“ vornehmen. Dann müssen Shakuntala Banerjee oder Theo Koll ran und die Welt in zwei Minuten möglichst lebensnah sortieren.
Letztlich spricht auch das mehr denn je für das analoge Erzählen. In älteren Zeiten saß man mit seinen Freunden, Bekannten oder Nachbarn einige Zeit zusammen und hörte zu, wie sie sich einen Erzählpfad durch das Lebensdickicht bahnten. Solche Erzählungen blieben haften, und sie machten einen großen Teil der Bedeutung und Schönheit des Lebens aus. „Erzähl mal!“ lautete das Signal, und es brauchte nicht unbedingt einen Dachstuhlbrand, um unser Interesse zu fesseln. Ein Spaziergang zu zweit in unbekanntes Terrain reichte oft schon als Thema, Hauptsache, wir hatten etwas Nahes intensiver gespürt und gesehen als Ampeln in jedweder Form.