Die Lesung im TAL – ein Rückblick

Die Lesungen dieses Jahres überbieten sich darin, die typischen, althergebrachten Strukturen von Lesungen zu überwinden und mit neuen Konzepten aufzuwarten.

So war die Lesung im TAL (Hasselbach/Ww.) am letzten Samstag eine Kombination aus Spaziergang (durch das Kunstgelände des TALs) und Lesung aus den Kunstmomenten, mit der besonderen Pointe, dass sie mit Texten über eine Skulptur des TAL-Gründers Erwin Wortelkamp und eine Skizze über die Entstehung des TALs ausklang.

Viele Leserinnen und Leser waren zum Teil von weither gekommen und erlebten den Nachmittag, den Abend und die anbrechende Nacht als eine „runde, stimmige Sache“, wie ich mehrmals zu hören bekam. Das freut mich!

Die Lesung selbst bot dabei eine weitere Gelegenheit, genauer zu erläutern, was ich unter Kunstmomenten verstehe. Denn es handelt sich in diesem Buch keineswegs um eine Folge beliebiger Kunst-Beschreibungen, sondern um eine biografische Reihung bestimmter Momente, in denen Kunst manchmal, aber nicht immer die Funktion eines auslösenden Erlebnisfaktors spielt.

Kunstmomente, wie ich sie nenne, entstehen zunächst durch die Wahrnehmung eines Faszinosums in der Umgebung (Außenwelt), die sich als ein Bilderlebnis (geformt, strukturiert) ereignet. Ein solches Erlebnis drängt in einem zweiten Schritt danach, festgehalten und als „inneres Bild“ aufbewahrt zu werden. Das kann durch eine Intensivierung des Blicks (mit Hilfe eines Fernglases, einer Fotokamera etc.) geschehen. Der auf diese Weise gespeicherte Bildzusammenhang löst in einem dritten Schritt eine Bearbeitung durch einen Text aus, der auf die Besonderheiten des jeweilen Bildblicks reagiert.

Kunstmomente lassen viele dieser Blickkompositionen Revue passieren: 1) Den Kindheitsblick durch ein Fernglas, 2) Den fotografischen Blick auf ein Fotoalbum, 3) Den Museumsblick, 4) Den Filmblick, 5) Die Blickzusammenhänge in christlichen Kirchen, 6) Die Blickzusammenhänge in städtischen Räumen (wie Rom oder Venedig), 7) Die Blickzusammenhänge in Griechenland (im Blick auf antike Skulpturen und Tempel), 8) Die Blickzusammenhänge in Paris (als Blicke auf Pariser Boulevards, Straßen und Ateliers) – bis das Buch langsam in der Gegenwart (im TAL, aber auch in Mainz, im Atelier einer dort lebenden Künstlerin) ankommt – und nach dem Ausgangsort der Bildwanderung (nach Köln) zurückkehrt.

In diesem Sinne sind die Kunstmomente eine „visuelle Autobiografie“: Autobiografisches Material wird gesehen, gedeutet und analysiert, wodurch eine autofiktionale Erzählung entsteht. Es ist, wie so oft in meinen Büchern: Ich sehe und betrachte mich „als einen Fall“, ich untersuche ihn, und zwar so, dass die Leserin oder der Leser leitend aufgefordert werden, sich selbst ebenfalls „als Fall“ zu verstehen – und, im Idealfall, ebenfalls darüber zu schreiben.

(Das Foto zeigt den Künstler und TAL-Gründer Erwin Wortelkamp am letzten Samstag im Gespräch mit dem Schriftsteller O)