Ein starker Kunstmoment

Ich erhalte, wie schon hier und da gesagt, viele Mails der Leserinnen und Leser dieses Blogs. Die meisten kommentieren eine Passage aus meinen Büchern, andere erzählen eigene Lebensdetails, die sich an Szenen der Bücher anlehnen.

Es gibt aber auch Mails, die dadurch glänzen, dass sie Themen dieser Bücher weiterdenken. So hat mir vor kurzem ein Leser geschrieben, der meine Lesung aus den „Kunstmomenten“ in Erwin Wortelkamps TAL erlebt hatte. Er schrieb, dass ihm nicht aus dem Kopf gehe, wie ich in dieser Lesung den Begriff des „Kunstmoments“ erläutert und umkreist habe.

Weitergehend habe er sich gefragt, wo und ob er auch in seinem eigenen Leben auf diese Form der „Kunstmomente“ gestoßen sei. Und – er habe einen solchen  Moment auf diesem Foto gefunden:

Es zeige seinen Enkel in einem venezianischen Hotelzimmer, voller Erstaunen und Aufmerksamkeit für den „alten, schönen Raum“. Sei das nicht ein „Kunstmoment“, so wie ich ihn verstünde?

Ja, da stimme ich zu. Der Enkel nimmt einen Raum als etwas Besonderes, Einzigartiges wahr – das ist eine ästhetische Wahrnehmung (distanziert, aber voller Emphase). Damit daraus ein „Kunstmoment“ wird, kommt aber noch etwas hinzu. Denn der Enkel bleibt mit seiner Wahrnehmung nicht allein. Er wird vielmehr von einem Beobachter wahrgenommen, dem dieser Moment aufgefallen ist und der ihn festgehalten (fotografiert) hat.

Und, drittens: Der Leser meines Blogs hat das Foto wiederum staunend „studiert“ (wie Roland Barthes sagen würde) – und das Foto als Fixierung einer ästhetischen Wahrnehmung empfunden und wahrgenommen.

Damit schließt sich der Kreis: Ein „Kunstmoment“ beginnt mit einer ersten Aufmerksamkeit für ein Detail der realen Welt. Dieses Detail wird als ein ästhetisches (organisiertes, strukturiertes) empfunden. Das hält eine andere Person fest und macht diese Aufmerksamkeit zu einer geteilten. Und diese Übertragung wird drittens von einer weiteren Person beobachtet und festgehalten. Der Leser schrieb mir, dass er das Foto „immer wieder“ anschaue.

In der Tat: Man glaubt, dass eine bildliche Szene festgehalten ist. Wie auf einem Gemälde oder in einem (britischen?) Film, der in viktorianischen Zeiten in Venedig spielt: Der junge Engländer ist gerade angekommen und mustert das Hotelzimmer, das mit vielen venezianischen Insignien aufwartet. Come bello!

Ich danke dem Leser für seine Mitarbeit! und würde mich freuen, von den Leserinnen und Lesern dieses Blogs weitere „Kunstmomente“ zu erhalten.

Ich wünsche ein entspanntes, ruhiges Wochenende, verbunden mit einer feurigen Aufnahme des Trios in C-Dur (KV 548) von Wolfgang Amadeus Mozart: