Die Podcastschwemme

Ein Freund sagte neulich, wir seien in einer neuen Phase der Digitalisierung angekommen. Er nennt sie die Podcastschwemme und erklärt ihre Entstehung durch einen Rückblick auf die lange Phase des pandemischen Schweigens. Heute fragt er sich, wie er diese Stille überhaupt ausgehalten habe, dabei habe er sie bei näherer Betrachtung mühelos ertragen: Schluss mit dem multimedialen Gerede! Konzentration auf einige ruhig verlaufende, virtuelle Gespräche oder auch Telefonate mit Freunden, länger als je zuvor. Gute Dialoge waren das, sagt mein Freund, ein großes Studio der schweigsamen Mitteilungen von Du zu Du, fast wie in Stücken des Nobelpreisträgers Jon Fosse.

Jetzt aber haben sich der Rederausch und die Redeflut breitgemacht, und überall gibt es Podcasts, Reden über alles und jedes, als hätten die digitalen Rednerinnen und Redner das Radio neu erfunden. Das sind Radio-Atmosphären wie in den fünfziger Jahren, als man noch süchtig mit dem Ohr dicht am Empfänger saß, während man ein erotisches Kribbeln der Kontaktaufnahme mit den fremden Stimmen empfand. Damals hat man „atemlos“ zugehört, mit geschlossenen Augen – Hörspiele hatten Hochjunktur.

Die Podcasts haben sich inflationär vermehrt, weil viele jetzt sprechen und nochmal sprechen wollen, mit sich selbst, mit anderen, in allen Richtungen, zu allen Zeiten, beim Joggen, bei der Haus-, ja selbst bei der Gartenarbeit. Die Themen sind austauschbar, Hauptsache, das Sprechen wirkt „authentisch“, improvisiert und nicht einstudiert.

Vielleicht, sagt mein Freund, ist diese Welle auch eine andere Seite der gegenwärtig oft spürbaren Gereiztheit und Wut. Viele auf den ersten Blick harmlose Themen entfalten beim zweiten Blick Stör-und Gewaltpotentiale, das dazu gehörende, hässliche Schlagwort heißt „Positionierung“: Habe ich mich richtig und angemessen „positioniert“, darf ich sagen, was ich sagen will? – das sind die Fragen. Die ungezählten Podcasts könnten auch Versuche sein, friedliche Positionierungen zu betreiben, nicht direkt spürbar, sondern durch die Hintertür. Um die mögliche Wut im Voraus zu bremsen.

Mein Freund hat „De ira“ von Seneca gelesen und entdeckt, wie dieser altrömische Philosoph die Wut beschrieben hat: „Wir werden oft nicht auf diejenigen wütend, die uns bereits verletzt haben, sondern auf diejenigen, die das erst noch vorhaben.“ Demzufolge wittern wir also, was uns an Verletzungen von diesem oder jener droht. Und da wir das im engen Kontakt mit den Social-Media-Kanälen täglich genau verfolgen, kocht in uns eine immer stärker werdende Empörung, die nach Entladung drängt. Dem, meint mein Freund, kommen die Podcasts vielleicht zuvor, sie reden die bedrohliche Wut weg.

„Das“, habe ich zu meinem Freund gesagt, „hört sich aber sehr einseitig an, schließlich haben Podcasts doch auch viel Gutes, sie können unterhalten und informieren!“ Als ich darauf beharrte, gab er zu, Podcastsüchtig zu sein, es handle sich um eine neue Phase der Handysucht. „Und was tust Du dagegen?“ fragte ich. Mein Freund zeigte mir sein Handygefängnis. Es ist eine abschließbare Box, in die man das Handy für einen frei gewählten Zeitraum einsperren und wegschließen kann. „Endlich kann ich mich wieder auf etwas Anderes konzentrieren“, sagt mein Freund, „auf die Familie, auf Freunde, auf die Tiere im Zoo, die Box ist eine fabelhafte Erfindung.“

Ich wurde still und vertiefte mich später in Seneca. Wie wäre es, die aufkeimende Empörung dadurch zu drosseln, dass man das Wutgerede nicht an sich heranlässt? „Grobe Beschimpfungen, von Kritikern zerpflückt zu werden, all das sollten wir verachten und mit unserer großen Seele (magno animo) solche kurzzeitigen Unannehmlichkeiten ertragen.“ Seneca, dachte ich, muss eine Ahnung von den Social-Media-Kanälen und den Handygefängnissen unserer Tage gehabt haben. Er verachtete die Wut als etwas Kurzfristiges. Der Schlusssatz von „De ira“ betreibt dagegen eine Positionierung langfristiger Art: „Wir brauchen nur hinter uns zu schauen und uns einmal umzudrehen, wie man so sagt, und schon ist die Sterblichkeit da.“