(Am 24.10.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Der Schriftsteller Robert Musil hat in seinem großen Romangebirge Der Mann ohne Eigenschaften einen Wirklichkeits- von einem Möglichkeitssinn unterschieden. Der Wirklichkeitssinn orientiere sich am festen Rahmen unserer Umgebungen. Wer ihn besitze, sage: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen. Menschen mit Möglichkeitssinn dagegen würden erfinden: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen.
In älteren Tagen blieben die beiden unterschiedlichen Sinne eng aufeinander bezogen. Ein stabiler Wirklichkeitssinn war die Basis für die vielen Fantasien, die sich dem Möglichkeitssinn entsprangen. Schauen wir aber auf etwas mehr als die vergangenen zwei Jahrzehnte zurück, so erkennen wir schnell, dass es dieses Gleichgewicht nicht mehr gibt. Vielmehr hatten wir es mit lauter Krisen und Katastrophen zu tun, die sich kein Möglichkeitssinn hätte ausdenken können.
Es begann mit dem Angriff auf die Twin Towers in Manhattan, setzte sich mit der Pandemie fort und führte schließlich zu den Kriegen in der Ukraine und in Israel. Das aber waren nicht nur reale Attacken, die unvorstellbar viele Menschen das Leben gekostet haben, sondern zugleich Attacken gegen den Möglichkeitssinn. Er brach zusammen, niemand hätte sich vorstellen oder erfinden können, was da – etwa am 11. September 2001 – geschehen ist.
Aber auch der Wirklichkeitssinn war von alledem betroffen. Da der Möglichkeitssinn versagte, geriet der Glaube an die Wirklichkeit in Gefahr, und an seine Stelle rückten viele imaginäre Glaubensangebote, die jede Basis im Wirklichen verloren hatten. Fake News und imaginäre Welten rückten vielerorts an die Stelle, und die Folgen waren Spaltungen im Kern der Gesellschaft. Er zerfiel in unendlich viele Atome, in denen jeweils eigene Wirklichkeitskonstruktionen regierten, mit Ersatz- und Fantasiewelten angeblich bedrohlicher Mächte im Hinter- oder Untergrund.
Das hat zu einem Zerfall der öffentlichen Rede geführt, die von keiner übergeordneten Vernunft mehr zusammengehalten wird. Jede aus dem Ruder laufende Talkshow ist dafür ein Beispiel, denn es schreien sich keine politischen Gegner mit vergleichbaren Programmen an. Im Gruselkabinett des Doktor Lanz konkurrieren vielmehr imaginäre Monolithen mit grundsätzlich unterschiedlichen Wirklichkeitsvorstellungen.
Früher war eine große Aufgabe der schönen Literatur, die virtuose Gestaltung von Wirklichkeiten mit Hilfe erfundener Möglichkeiten zu betreiben: fabulierend, rhetorisch, kreativ. Auch diese lebensnotwendige Verbindung ist aber derzeit gestört. Das zeigt sich daran, dass selbst die fabulierenden, fiktiven Texte unserer Zeit vor allem daraufhin abgeklopft werden, welche politische Programme sie enthalten oder zu welchen Debatten sie sich melden. Solche Fragen zielen letztlich auf die Geister des Erzählens. Um ihr Lebensprofil geht es oft als erstes: Wo stehen sie, wo dürfen sie stehen, wer erlaubt ihnen was zu sagen?
Das trifft ihren Freiheitsgeist und lässt sie zu bloßen Meinungstypen schrumpfen, die man mit journalistisch geschultem Blick vor allem auf ihren aktuellen Tagesgehalt hin abklopft und feiert. Dann ist dieser oder jener Roman nichts anderes als ein Debattenbeitrag zu einer durch die Sozialen Medien hochgezüchteten Kontroverse, und er erhält seine Anerkennung nicht durch ein literarisch fundiertes Urteil, sondern durch die Zahl der Follower, die der Autorin oder dem Autor in die biederen Gefilde einer breitgetretenen Öffentlichkeit folgen.
Was tun? Nüchtern, aber doch schwungvoll und kritisch bleiben, so, wie es Salman Rushdie, der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, in Frankfurt, der Stadt der Frankfurter Schule Adornos und Horkheimers, beschwor: „Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann.“