Eine Ecke auf einem großen Friedhof. Spätherbst. Es hat eben geregnet. Schwarze Bäume. Wenige Blätter hängen noch an den Zweigen, etwas Laub liegt am Boden. Ein Kiesweg, eine Bank mit abblätternder Farbe. Der Mann kommt über den Kiesweg, verlässt ihn, geht zu einem Grabstein, liest die Inschrift, steht eine Zeit lang da und blickt darauf, geht dann zu einem anderen Grabstein, liest auch dort die Inschrift, schaut eine Weile darauf, kehrt auf den Kiesweg zurück, geht zur Bank und setzt sich. Er schaut hoch, er kann endlich weinen…
Das ist die anfängliche Regieanweisung des Theaterstücks Traum im Herbst von Jon Fosse. Ich lese sie heute Morgen wie eine Regieanweisung für Allerheiligen. Wie oft bin ich an diesem Tag auf den Friedhof meines westerwäldischen Heimatortes Wissen an der Sieg gekommen, um dort von Grab zu Grab zu gehen und mich an die gestorbenen Liebsten zu erinnern.
Oft kam es mir so vor, als seien sie erst gerade gestorben und ich könnte mich noch gut an Details ihres Lebens erinnern. Und so war es denn auch. Ich erinnerte bestimmte Szenen, Gespräche und Gesten, die ich durch Jahrzehnte im Kopf bewahrt habe.
All diese Erinnerungsstücke sind verschieden und spielen zu unterschiedlichen Zeiten. Als sei jede einzelne mit der Person eng verbunden und bringe diese Person vor dem Hintergrund der Historie so zur Geltung, dass beide eng und unkündbar zusammengehören.
Ein Onkel lebt weiter in den fünfziger Jahren, als wir Birnen in seinem Garten ernteten. Ein Großvater taucht aus den sechziger Jahren in seinem Geschäftshaus am Schreibtisch auf. Eine Tante steht in der Küche und erklärt die Zubereitung von Kartoffelbrot.
Ich sehe sogar Menschen, denen ich in meinem Leben nie begegnet bin, weil sie längst vor meinem Leben gestorben sind. Ich glaube sie durch Fotografien zu kennen, deren Details ich genau vor Augen habe. Wenn es möglich wäre, würde ich ihre Hand nehmen und mit ihnen über den Kiesweg gehen, als wären wir ein Paar.
Solche Allerheiligenwege sind von großer Gelassenheit und Schönheit. Als würden Leben und Tod sich berühren, weil sie Teil einer einzigen Geschichte sind, die in meinem Kopf vor sich hinbrütet.