(Am 5. Januar 2024 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
In meinem Freundeskreis hört man seit einiger Zeit häufig ein Wort, das man früher nie so oft und wenn, dann nur ungern hörte. Diese oder jener wird jetzt „dünnhäutig“ genannt: „Mann, bist Du heute wieder dünnhäutig! Was ist denn bloß mit Dir los?“
Ja, was ist da los? „Dünnhäutigkeit“ erscheint in Form einer bei vielen Gelegenheiten aufflackernden, plötzlichen Gereiztheit, als wirkten geheime Kräfte von außen auf Körper und Geist ein und entzündeten verborgene Feuer. Die davon Betroffenen geraten eine Weile außer sich und wollen sich nicht mehr beruhigen: „Lass mich in Ruhe, mir ist eben so!“
Der Bundespräsident hat in seiner Weihnachtspredigt behauptet, viele Menschen wollten keine Nachrichten mehr hören oder sehen. Solche Fluchtgedanken könnten die Folge eines Drucks sein, der auf sie einwirkt und sie derart berührt, dass sie sich nicht mehr zu helfen wissen. Das alles sollte man nicht leichtnehmen und lässig abtun, denn die Erschütterungen können sich laufend wiederholen und verstärken, so dass schließlich auch tiefersitzende Krankheiten nicht ausbleiben.
Psychologisch betrachtet, erleben viele irritierende Störungen des inneren Gleichgewichts, die keine direkt nachweisbaren Ursachen haben, sondern einen wie Viren befallen, die sich schleichend und heimlich festgesetzt haben und später als Erreger zum Ausbruch kommen. In meinem Freundeskreis kursieren dazu einige Diagnosen. Mal hat alles mit den Kriegen in Nahost und in der Ukraine, mal mit apokalyptischen Szenarien des Klimawandels, mal aber auch, simpler und überschaubarer, mit den hilflos wirkenden Programmen der Regierenden zu tun, die sich den großen Krisen mit lauter kleinen Hilfspaketen wie übermüdete Weihnachtsmänner annehmen.
Solche Konstellationen haben auch etwas Gefährliches, denn die zunehmende Überreizung weckt Sehnsüchte nach einfachen und mit Gewalt herbeigeführten Lösungen. In den öffentlichen Diskursen spürt man momentan genau diesen Trend, der immer dann stärker wird, wenn Menschen jede Geduld verlieren und bereit sind, sich mit möglichst schlagkräftigen Beruhigungsversuchen abzufinden. Im Normalfall hätten sie diese nie akzeptiert, jetzt aber herrscht ein Ausnahmestatus.
Viele warten, ohne dass ihnen das deutlich bewusst wäre, auf einen radikalen Schnitt. Neuwahlen, eine andere Regierung, Programme, die weiter reichen und gedacht sind als nur bis morgen Abend, wenn die nächste Nachrichtensendung alles Unerledigte von neuem aufrollt. Solche Erwartungen heften sich an einen größeren Zeitraum und kehren sich ab von den kleinteiligen Minimallösungen, die für jedes Problem lange und umständlich diskutiert werden.
Das Gegenbild zur Dünnhäutigkeit wäre die Dickfelligkeit. Auch sie hatte Frank Walter Steinmeier wohl im Blick, als er davon sprach, viele seien dabei, sich in Deckung vor der Wirklichkeit zu begeben. Die Dickfelligen schotten sich ab und sind dann oft nicht mehr fähig, Empathie für andere zu empfinden. Genau das kann man von jenen Dünnhäutigen nicht behaupten, denen ihre Dünnhäutigkeit eine besondere Empfindlichkeit für ihre Umgebungen verliehen hat.
Vielleicht ist die jetzige Zeit zwischen den Jahren besonders geeignet, zwischen beiden Extremen eine Balance herzustellen. Von den täglichen Pflichten für ein paar Tage entbunden, könnte man diesen Freiraum nutzen, die eigenen Erlebnisprozesse genauer zu überdenken. Dann ginge der Blick zurück und nach vorn, wie in einem facettenreichen, anregenden Bilderbuch.