(Am 16.01.2024 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4
Die Stimmungen im Land sind „aufrührerisch“, so nennen es viele meiner Freunde und meinen damit etwas Rebellisches, das seit Beginn der Zwanziger Jahre immer stärker wurde. Manche, sehr unterschiedliche, aber in den Methoden vergleichbare soziale Gruppen artikulieren sich in Massenprotesten, weil sie sich abgehängt fühlen. Die Bauern blockieren die Straßen, die Lokführer streiken – überfüllte Autobahnen und menschenleere Bahnhöfe, das sind die dramatisch wirkenden Signale eines Ausnahmezustandes, den man lange nicht so massiv erlebt hat.
Auffällig sind auch die Sprachen des Protests, deren Wortwahl aufhorchen lässt. Das Angebot der Bahn sei „vergiftet“, glaubt etwa der Führer der Lokgewerkschaft sagen zu müssen, weil er mit dieser überdrehten Formulierung Empörung auslösen und die Proteste anheizen will. Erscheint der Bundeskanzler in einer vom Hochwasser mitgenommenen und zerstörten Region, wird er als „Vaterlandsverräter“ beschimpft und bekommt als Begrüßung ein „hau ab!“ zu hören. Unter Androhung von Gewalt wird der Vizekanzler auf seinen privaten Wegen am Fortkommen gehindert und muss auf einer Fähre die Flucht ergreifen, weil die Weiterfahrt auf dem nahen Festland zu gefährlich ist.
Dazu passen die plumpen Vokabeln der Passanten auf den Straßen, die von manchen Medien gierig aufgeschnappt und gestreut werden. Beckenbauer, sagt ein älterer Münchener, sei eine „Koryphäe“, privat aber „eine Niete“ gewesen. Beide Zuordnungen sind schief und abstoßend. Wer so spricht, ist außer sich und vergreift sich in der Wortwahl, ohne zu erkennen, welche von ihm gar nicht bedachten Vokabeln er im Mund führt. Im gesellschaftlichen Umgang miteinander geht jede Fassung verloren, die Worte zündeln und taumeln.
Das alles sind Warnzeichen unserer frühen zwanziger Jahre, und im Ausmaß der Anspannung erinnern sie an frühe Warnzeichen der Weimarer Republik, als der atmosphärische Überdruck breite Schichten ins rechte Lager abdriften ließ. Minister Habeck nimmt diese Zeichen ernst und spricht bereits von Umsturzfantasien, die sich keine Bahn brechen dürften. Meine Freunde verstehen seine Sorgen und bringen die Erregung mit der Pandemie in Verbindung.
Verräterisch sei es, wie rasch sie totgeschwiegen und abgetan wurde, als habe es sie nie gegeben und als könne man endlich zur ersehnten Normalität übergehen. Dabei erkenne man die tiefersitzenden Nachwirkungen jetzt deutlich. Die Zwanziger Jahre hätten mit massiven Eingriffen des Staates in die privaten Belange der Menschen begonnen, die zum Schweigen angehalten und deren Verhaltensformen bis ins letzte Detail geregelt worden seien.
Dieses Schweigen und die aus ihm resultierende Stille säßen noch tief in den unterbewussten psychischen Schichten sehr vieler Menschen. All das habe Angst gemacht, und diese Angst sei noch latent vorhanden und suche sich nun Kanäle der Befreiung. Die Massenproteste mit ihrer marktschreierischen Wortwahl und die Aussetzer vieler Einzelgänger seien deshalb nichts anderes als eine späte Reaktion: Schreien, möglichst lauthals und so, dass man unüberhörbar und unübersehbar sei, das sei an der Tagesordnung.
Wie aber weiter? Fragt man Soziologen oder Psychologen und liest man ihre Expertisen, wird man beinahe mutlos. Denn sie bieten meist nichts anderes an als die gute, alte Geduld der Dialogkunst. Miteinander reden, aufeinander zugehen, obwohl gerade das die Wenigsten können und wollen. Das explosive Gemisch dieser Tage hat seine ganz eigenen Kulissen und Formate, sie sind nebelverhangen und undurchsichtig, und sie ermöglichen keine beruhigten Zonen des Gesprächs oder des Nachdenkens. Vieles liegt in der Luft, und man kann nur hoffen, dass es nicht im Entsetzen endet.