Besser streiken

(Heute, am 7.3.2024, auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Meine älteren Freunde haben momentan ein besonderes Gefallen an den vielen Streiks und Protesten, die uns gerade stark beschäftigen. Oberlokführer Weselsky gibt den Ton an und bläst kräftig in seine Trillerpfeife, auf den Flughäfen dreht alle Welt Däumchen, und verärgerte Bauern aus nah und fern entladen ihren Mist nicht auf ihren Feldern, sondern auf Bundesstraßen.

Noch mehr würde das alles meinen Freunden, von denen die wenigsten „geregelter Arbeit“ nachgehen, gefallen, wenn diese ambitionierten Lahmlegungen des öffentlichen Lebens koordiniert würden. Viele Streiks, aber bitte alle auf einmal! Endlich wieder zurück in die Zeiten der Corona-Pandemie, diesmal aber freiwillig und mit dem Anspruch, den Müßiggang und den Stillstand endlich einmal voll zu genießen.

Dann könnte auch den Arbeitswilligen aufgehen, wie schön es sein kann, sich der ewigen Pflichten einmal für einen begrenzten Zeitraum zu entledigen und sich Fantasien hinzugeben, die schon immer eine besondere Quelle für Kreativität waren. Zu Fuß durch die rheinischen Landschaften, am Rhein entlang, von Lokal zu Lokal! Mit dem E-Bike über Feldwege, den Flügen der Reiher hinterher, die auf den feuchten Frühjahrswiesen beste Nahrung finden! Oder, der Gipfel, himmlische Expeditionen im Fesselballon!

Solche Umtriebe würden uns mit Zeiten vertraut machen, die weder Urlaub noch Ferien wären, sondern etwas bisher nicht Gekanntes, Drittes: Die erfüllte Pause! Erfüllt, weil bewusst gelebt, Pause, weil deutlich begrenzt, mit der Ahnung eines Weitermachens irgendwann, bald, aber nicht zu bald. Solche Pausen vermitteln Zeiterfahrungen, die uns vom üblichen „Ernst des Lebens“ entfernen und Entspannung verheißen. Wir denken erst gar nicht mehr daran, mit dem Zug oder dem Flugzeug zu reisen, wir lassen es einfach und wenden uns ab von dem Gezerre, das die Bahn oder die Lufthansa mit uns betreiben, weil sie uns als Fahrgäste eigentlich überflüssig und anstrengend finden.

Sollen Züge und Flugzeuge doch stillstehen oder, noch besser, leer durch und über unser Land kreisen – wir schauen ihnen nicht mehr nach und stehen auch nirgendwo mehr an, sondern gehen im wörtlichen Sinn unserer eigenen Wege. Der Mensch als stiller, autarker Wanderer, der keine Hilfen mehr braucht, sondern für sich und bei sich unterwegs ist – das war und ist eine der schönsten und edelsten Formen des Existierens.

Schriftsteller wie Johann Gottfried Seume auf Fußwegen ins sizilianische Syrakus, asiatische Wanderpoeten wie Matsuo Bashō auf einsamen Pfaden durchs japanische Bergland, Werner Herzog auf seinem langen Fußmarsch von München nach Paris – das sind einige der Großen, die uns ein solches Leben vorgemacht haben. Sie machen mit einem anspruchslosen, anderen Dasein bekannt, das sich dem täglichen Einerlei entzieht und starke Ekstasen im Blick hat.

Als ich meinen Freunden davon erzählte, konnten sie es kaum erwarten, endlich auch aufzubrechen. „Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache“, zitierte einer von ihnen den legendären Anfang des Buches, das zu ihrer neuen Bibel geworden ist. Joseph von Eichendorff erzählt in „Aus dem Leben eines Taugenichts“ davon, wie aus einem scheinbaren Taugenichts nach einem elegant lässigen Aufbruch von Haus und Hof gen Süden ein virtuoser Lebenskünstler wurde. Ihm nach!, rufen meine Freunde, und ich erlebe sie jünger denn je.