Das Grundgesetz ist aktueller denn je

(Am 20.4.2024 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Ich erinnere mich noch gut an den Politiker Hermann Höcherl, der in den sechziger Jahren Bundesinnenminister war. Er stammte aus Regensburg, war ursprünglich Jurist und ging in die Geschichte mit einem legendär gewordenen, flapsigen Satz ein. Als der Verfassungsschutz gegen das Telefongeheimnis verstoßen und alliierten Stellen Abhörmaßnahmen erlaubt hatte, stellte er lakonisch fest, „Beamte könnten nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“.

Heutzutage würde so eine Bemerkung zu zähen Debatten in den Social-Media-Kanälen führen, mindestens ein Untersuchungsausschuss und die Entlassung des Ministers würden gefordert. Damals galt sie als bayrischer Joke aus den Reihen der CSU, leicht überdreht, nicht ernst zu nehmen, eher Komödienstadl.

Anlässlich der 75Jahr-Feier des Grundgesetztes kann man jetzt erstaunt feststellen, dass unser Grundgesetz in ein schmales, gelbes Reclam-Bändchen passt, was ein Tragen unter dem Arm zwar nicht einfacher macht, durchaus aber ein lockeres Mitführen in der Hand ermöglicht.

Auf übersichtlich wenigen Seiten kann man die 146 Artikel Revue passieren lassen. Sie werden von dem Staatsrechtler Alexander Thiele außerdem noch „verständlich erklärt“, so dass man die reine Freude an dem haben kann, was momentan Tag für Tag als „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ in allen Medien beschworen wird.

Was damit wiederum genau gemeint ist, bleibt nicht selten im Dunkeln, dabei lassen die 146 präzise formulierten Artikel in Verbindung mit den gut nachvollziehbaren Erklärungen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Bereits die Präambel zum Beispiel verpflichtet die gesetzgebenden Institutionen darauf, sich für ein vereintes Europa einzusetzen.

In den darauffolgenden Artikeln findet man viele solcher eindeutigen Festlegungen, die momentan wie sprachliche Bollwerke gegen zersetzende Umtriebe verfassungsferner Gruppierungen oder Parteien erscheinen. Dazu gehört die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz ebenso wie der Schutz der Freiheit des Glaubens und der religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse.

Widmet man sich dem Studium der Grundrechte, entdeckt man ebenfalls viele Details, die heute geradezu brennend aktuell wirken, wie etwa, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden, oder, dass kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden darf. Wer als Deutscher oder Deutsche im Sinne des Grundgesetzes zu betrachten ist, ist ebenfalls eindeutig geregelt. Dieser Status ist nämlich nicht an ethnische, religiöse oder kulturelle Voraussetzungen gebunden, sondern viel schlichter daran, ob man die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht.

Eine entspannte Lektüre des Grundgesetzes ist also durchaus als hilfreiches Mittel gegen Anders- und Querdenkerei auf den Straßen zu empfehlen. Von den Artikeln geht eine sachliche Ruhe und Entschiedenheit aus, die im Grunde nur entschlossener Bejahung bedarf, um rundum Gutes zu bewirken. In den letzten Zeilen des Reclam-Bandes konstatiert Alexander Thiele, dass alle, die nach der durch das Gesetz formulierten Ordnung leben wollen, eine Mitverantwortung für ihre Funktionsfähigkeit tragen: „Es lohnt also nicht nur die Lektüre seiner 146 Artikel, sondern auch, sich für deren Wirksamwerden im täglichen Leben zu engagieren.“

Mit dem Grundgesetz leben, heißt also die konkrete Devise. Nicht mit dem Text unter dem Arm und nicht in verstaubten Büros, sondern in der Öffentlichkeit, auf unseren Straßen und Plätzen. Und mit einem handlichen Reclam-Band in der Hand, der helles Licht in viel Dunkles bringt.