(Am 13.6.2024 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Um was geht es beim Fußball? Um Taktik, Effizienz und Charakter? Jaja, schon gut. Vor allem geht es aber um etwas sehr Einfaches: Um Tore! Alles Taktieren, Planen und Laufen, die uns oft kostbare 90 Minuten Lebenszeit kosten, weil kaum etwas in Tornähe geschieht, kann man vergessen, wenn es um die großen Augenblicke geht. Und die bestehen aus den Sekunden, in denen ein Spieler den Ball ins Netz jagt und das Glück ihn übermannt.
Ist es geschehen, kann er es nicht fassen, er läuft quer über den ganzen Platz oder tanzt mit der Eckfahne oder lässt sich fallen, um die unterste Lage einer Traube mit anderen Spielern zu bilden. Damit nicht genug, denn das Glück übermannt auch die Fans, die mit den Armen rudern, in Tränen ausbrechen und mit den Fäusten die Fußballgötter beschwören.
Tore sind die Momente des Durchbruchs: Die lang ertragene Langeweile und das ewige Hin und Her des Lebens, das auf dem Rasen Gestalt angenommen hatte, erscheinen wie weggefegt. Plötzlich gilt eine andere Zeitrechnung, denn mit dem ersten Tor beginnt das Spiel eigentlich erst, um Fortsetzung und Überbietung einzufordern. Tor um Tor soll nun fallen, an nichts anderes denken die Fans, deshalb sind ihre Chöre so laut geworden, denn Fußball ist nicht nur ein Spiel, sondern vor allem eine Leidenschaft, die erwachsene Menschen in schreiende Kinder verwandelt.
Zwanzig Jahre lang hat sich der Sportjournalist Javier Cáceres auf die Suche nach legendären Toren begeben. Welche es genau waren, wollte er von den Spielern wissen, die sie geschossen hatten, und so hielt er allen, denen er auf seinen weiten Wegen durch die Welt begegnete, ein Moleskine-Notizbuch vor die Nase und bat sie, ein von ihnen geschossenes Tor zu skizzieren und dazu die Geschichte seiner Entstehung zu erzählen.
Tore wie gemalt (erschienen im Insel-Verlag) heißt das schönste Buch zur EM, das einhundert Tore ins Bild setzt und zu Wort kommen lässt, als sprächen nicht die Menschen, sondern die Tore selbst, von denen jedes etwas von einer magisch wirkenden Szene hat. Ich weiß nicht, wie es passiert ist, warum kam der Ball ausgerechnet zu mir, ich wusste gar nichts mit ihm anzufangen und schoss ihn einfach wieder weg, und das noch mit links – so die häufigsten Eingeständnisse dafür, dass Spieler in den Augenblicken des erlösenden Torschusses zu Medien des Balles werden.
Anscheinend führt er ein sonderbares Eigenleben und hat durchaus die Fähigkeit, dem Denken der Spieler voraus zu sein. Die eigentliche Schönheit des Spiels, sagt der Ball, kommt ohne viele Gedanken und Absichten aus, sie besteht aus einem unerwarteten Zauber, indem einem Spieler vorgeführt wird, wozu er, ohne es je geahnt zu haben, fähig ist.
Selbst Franz Beckenbauer gerät so ins Staunen über sein Tor gegen die UdSSR im Halbfinale der WM von 1966. Herrgott, dieser schöne Linksschuss ebnete den Weg ins Finale und überwand den damals besten Torwart der Welt, Lew Jaschin, nicht zu fassen! Und Jean-Marie Pfaff, früher Torwart von Bayern München, denkt an ein endloses Elfmeterschießen beim Stand von 8:8, als ihn der Trainer auffordert, den nächsten Elfer zu schießen.
Trainer, antwortet Pfaff, ich habe noch nie einen geschossen – du musst aber, sagt der Trainer, es gibt nur noch dich. Da nimmt Jean-Marie sich ein Herz und jagt den Ball in den rechten, oberen Winkel. Zum ersten Mal merkt er, wie sich ein Spieler fühlen muss, der schlecht spielt, aber das entscheidende Tor schießt: Großartig!
Genau darin besteht das Geheimnis, in der Verwandlung der Kraftlosen, Gehemmten, Enttäuschten in Verzauberte, die den Fußballglauben wiederfinden und von da an bekehrt sind. Weil sie ein Leben lang auf dieses eine Tor angesprochen werden, jahrelang von ihm träumen und es auf YouTube selbst hunderte Male anschauen.
Günter Netzer war der einzige Spieler, der kein Tor zeichnen und von keinem erzählen wollte, aber dann hat Javier Cáceres ihn doch rumgekriegt. Natürlich hat Netzer von einem der legendärsten Tore überhaupt erzählt, dem 2:1 für Borussia Mönchengladbach im DFB-Pokalfinale von 1972/73. Trainer Hennes Weisweiler hatte ihn nicht aufgestellt, deshalb saß Netzer bis zu einer historischen Sekunde der Verlängerung auf der Bank. Da zog er plötzlich und „instinktiv“ Jacke und Hose aus und rief dem Trainer „Ich spiel dann jetzt“ zu. Zwei Minuten später wollte der Ball zu ihm, aber alles lief scheinbar schief. Der Ball sprang auf, so dass Netzer ihn nur noch mit dem Außenspann nehmen und oben in den Winkel feuern konnte.
Der Schluss von Netzers Erzählung ist Literatur: „Alle sprangen auf. Außer, wie mir später gesagt wurde, Hennes Weisweiler. Der blieb sitzen.“