Papst Franziskus hat ein erstaunliches Schreiben veröffentlicht. Nur vordergründig wendet sich sein Brief „über die Bedeutung der Literatur in der Bildung“ an Priester und Priesteranwärter. Tatsächlich spricht er alle Gläubigen an. Dabei geht es zentral nicht um bestimmte Glaubensthemen, sondern eher darum, wie der Umgang mit diesen Themen zeitgemäßer gelebt und gestaltet werden kann.
Dem Papst scheint nicht entgangen zu sein, dass Gottesdienste auch deshalb immer seltener besucht werden, weil sich die frohen Kanzelbotschaften in Phrasen und endlosen Wiederholungen totgelaufen haben und dringend einer fundamentalen Erneuerung bedürfen. Woher aber soll die kommen?
Die päpstliche Antwort verblüfft, weil er sie in mehreren, immer wieder neu ansetzenden Gedankengängen so ausgefeilt und innovativ formuliert, als habe sie nicht ein Theologe, sondern ein Literaturliebhaber par excellence erdacht. Als ein solcher stellt sich Franziskus vor, als begeisterter Leser von Literatur und als früherer Lehrer an einem Gymnasium, der viel Verständnis für jene Schüler aufbrachte, die vor allem Texte lesen wollten, mit denen sie etwas verbinden und in denen sie Teile ihrer Lebenswirklichkeit entdecken konnten. Dieses Verständnis hat er sich erhalten und sagt: Lest bloß nichts aus falschem Pflichtgefühl, weil man euch nötigt, etwas zu lesen, entdeckt vielmehr eure eigenen Lektüren und literarischen Wegbegleiter!
Als Gewährsmann zitiert Franziskus den ebenfalls aus Argentinien stammenden Schriftsteller Jorge Luis Borges, der seinen Studenten empfohlen habe, sich nicht in Kommentaren und Theorien zu verlieren, sondern auf die lebendigen Stimmen in den Texten zu hören: „Das ist eine Definition von Literatur, die mir sehr gefällt: die Stimme von jemandem hören.“
Nicht die Wucht päpstlicher Autorität spricht aus solchen Sätzen, sondern die Emphase eines Liebhabers, der die Literatur gerade deshalb schätzt, weil sie lebensnäher sein kann als bloße Lehre oder Theorie. Sie kann berühren und die ganze Vielfalt und die Abgründe der menschlichen Schwächen, Laster und Geheimnisse darstellen. Dadurch regt sie zu Einfühlung, Mitleiden und Empathie mit Schicksalen an, die von einem harten Leben gezeichnet sind.
Auf kluge Weise bringt Franziskus an dieser Stelle das Leben Jesu als Leidensgeschichte ins Spiel und spricht von Jesu „Leib, der aus Leidenschaften, Emotionen, Gefühlen, konkreten Geschichten, Händen, die berühren und heilen, Blicken, die befreien und ermutigen“, bestehe. Nicht durch die Verkündigung abstrakter Weisheiten, sondern durch seine dunkle und zum Tod führende Lebensgeschichte sei uns Jesus als Mensch nah.
Genau hier macht Franziskus auch die Verbindung von Glauben und Literatur aus. Die Literatur begebe sich auf die Suche nach den rauen und kruden Geschichten der Gegenwart, die vom Glauben aufgefangen und befragt werden sollten. Ohne die Kenntnis einer solchen Literatur bleibe unser Fühlen und Denken beschränkt.
Anders als im Umgang mit den neuen Medien habe der Leser hier zudem eine enorm wichtige, aktive Aufgabe: „Er schreibt das Werk in gewisser Weise um, erweitert es mit seiner Vorstellungskraft, erschafft eine Welt, nutzt seine Fähigkeiten, sein Gedächtnis, seine Träume, seine eigene Geschichte voller Dramatik und Symbolik“.
Im Brief des Papstes sind das keine bloßen Worte. Erstaunlich ist vielmehr, dass er diese Erkenntnisse auch direkt umsetzt und zeigt, wie und was er selbst gerne liest. So durchziehen den Text viele Verweise auf Autoren, von denen man bisher nicht einmal ahnte, dass Franziskus Passagen aus ihren Büchern in sein eigenes Denken aufgenommen hat. Marcel Proust, T.S. Eliot, Jean Cocteau, Paul Celan – Franziskus betrachtet sie ganz selbstverständlich als seine eigenen Wegbegleiter auf einer Hinführung zu einem großen Lektüreraum, zu dem nicht nur ebenfalls genannte theologische Klassiker wie Ignatius von Loyola oder Karl Rahner gehören, sondern der gesamte Raum von Weltliteratur.
Auch das beweist, dass er an einen „radikalen Kurswechsel“ im Umgang mit Literatur denkt. Die zu einer aktiveren Wahrnehmung führenden Lektüren dürfe man nicht wie bisher als bloße Unterhaltung oder als papierne Bildungsanstrengung abtun. Lesen sei auch in pragmatischem Sinn etwas Elementares, Tiefgehendes. Es rege Fantasie und Kreativität an, vergrößere den Wortschatz, verbessere die Konzentrationsfähigkeit und helfe, sich besser auszudrücken.
Voilà! Das hat Schwung und trifft ins Ziel. Der Brief des Papstes sollte von allen Kanzeln Wort für Wort verlesen werden.