Hildesheimer Wege 2

„Salve, mein Sohn“, hatte mich Rainald van Dassel in Hildesheim begrüßt, „wohin führen Dich Deine Wege?“ Ich hatte geantwortet und gesagt, dass ich zunächst den altägyptischen Schreiber Heti im Roemer- und Pelizaeus-Museum aufsuchen werde. Das hatte ich dann auch getan.

Am nächsten Tag aber ging ich in den Hildesheimer Dom. Dort befand sich an einem Pfeiler die zweite „Ikone“ des Hildesheimer Schreibens, die ich in meinem Buch „Nach allen Regel der Kunst, Schreiben lernen und lehren“ auf den Seiten 165ff. u.a. so beschrieben habe:

„Es ist eine gotische Madonnenfigur aus Holz, blau gewandet, mit großer, goldener Krone, die dem nackten Jesusknaben auf dem linken Arm einen Sitzplatz bietet.

Einzigartig an dieser Skultur ist das Tintenfass in der rechten Hand der Madonna. Der Jesusknabe hält eine Schreibfeder in Händen, die anscheinend dazu bestimmt ist, die Buchrolle auf seinen Knien zu beschriften. Gleich wird er die Feder in das Tintenfass tauchen, das ihm seine Mutter hinhält. So erscheint die Tintenfassmadonna wie eine zeichenhafte, vorwegnehmende Vorausdeutung auf eine Einweisung in Schreiben und Schrift.“

Mit den Jahrhunderten wurde oft vergessen oder vernachlässigt, dass die Gestalt der Gottesmutter Maria oft als Leserin (in der Bibel), sehr selten aber auch als Schreiberin dargestellt wurde. Hier ist sie nicht nur das, sondern auch eine Lehrerin, die Lehrerin der Kunst, Buchstaben zu malen und auf einem Papier zu ordnen.

So gesehen, ist sie das christliche Pendant zu Heti, dem männlichen altägyptischen Schreiber, der übrigens von seinem Vater (als Lehrer) in die Kunst des Schreibens eingeführt wurde.