(Am 21.2.2025 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Lange Zeit hat eine Bundestagswahl meine Freunde nicht mehr so intensiv beschäftigt wie die anstehende. Viele schlafen schlechter, weil sie den Druck der Verantwortung spüren. Im Ernst? frage ich, und sie bestätigen: Ja, wir spüren den Druck, es liegt an den allgegenwärtigen Krisen. Wohin man schaut, es fällt schwer, an eine gute Zukunft zu glauben. Es muss sich etwas ändern, und wir Wähler haben das in der Hand. Das sagt auch Friedrich Merz, antworte ich, und meine Freunde entgegnen, dass seine Stimme eben eine der vielen ist, die sie in der Wahlkabine wie flüsternde Geisterstimmen zu hören glauben.
Das Betreten der Kabine markiert den Ernstfall. In ihr ist man mit sich allein, es darf und kann keine Beobachter geben. Was im Freundeskreis besprochen wurde, verhallt in einer momentanen, erschreckenden Stille, der Moment des Rückzugs auf sich selbst ist ungewohnt und erinnert einige an das Beichten in Kindertagen. So gesehen, hat die Kabine etwas von einem Beichtstuhl, man soll sich zu etwas bekennen, zu einer Partei, zu Kandidatinnen oder Kandidaten.
Nach Paragraph 33 der Rechtsgrundlagen für die Bundestagswahl muss in jeder Kabine ein Schreibstift bereitliegen. Indem man den Stift in die Hand nimmt, spitzt sich die Lage zu, und man wird mit den möglichen Verhaltensvarianten konfrontiert. Von den vielen untereinander gereihten, leeren Kreisen auf dem Stimmzettel stellt jeder einzelne Kreis eine Frage: Kreuzt Du mich an, und bist Du Dir bewusst, was Du da tust?
Man soll eine Erst- und eine Zweitstimme vergeben. Mit der Erststimme in der linken Spalte wählt man eine Person in den Bundestag und traut ihr zu, dort tätig zu werden. Weiß man von ihr genug, um schwerwiegende Entscheidungen über die Zukunft des Landes auf ihre Schultern zu laden? In den meisten Fällen kennt man nur ihre politischen Verlautbarungen, weiß sonst aber kaum etwas über sie. Reichen die Parolen sowie ihr Porträt auf der Wahlwerbung? Unter ihren Namen sollten auf dem Stimmzettel auch ihr Beruf sowie ihr Wohnort angegeben sein, diese Lektüren könnten nachdenklich stimmen.
Die Zweitstimme vergibt man durch Ankreuzen in der rechten Spalte. Dort werden die Namen der Parteien genannt, und unter jeder Nennung auch die ersten fünf Bewerberinnen oder Bewerber der zugelassenen Landeslisten. Bestätige ich diese Runde mit meinem Kreuz etwa gleich mit? Oder hat man noch Einfluss auf diese ominösen Listen, an deren Zustandekommen man sich nicht erinnert? Welcher Parteiname steht übrigens ganz oben? Und in welcher Reihenfolge werden die weiteren Namen genannt? Etwa in alphabetischer? Die Reihenfolge der Nennungen könnte provozieren, bis hin zum Durchstreichen oder Korrigieren. Es soll sogar Wählerinnen und Wähler geben, die sich durch leere Stimmzettel nicht nur zur Stimmabgabe, sondern zum Schreiben schlechthin aufgefordert fühlen. Sie kommentieren die leeren Kreise, malen sie aus oder ändern die Reihenfolge durch markante Striche.
So ist es kein Wunder, wenn sich manche Wahlentscheidung länger hinzieht. Dann verbringt man einige Minuten in der Kabine, während die Luft immer dünner wird. Das Ideal der Stimmabgabe ist ein rasches, entschlossenes Ankreuzen von zwei Kreisen, einmal links, einmal rechts. Aber wer ist angesichts all der Überlegungen, die spätestens in der Kabine auf das angespannte Wählerhirn einprasseln, zu diesem Tempo fähig?
Schließlich werden auch die Stimmen der Parteien lauter. „Alles lässt sich ändern!“ Schön und gut, aber wem kann man diese tiefe Einsicht glauben? „Die Brandmauer? Das sind wir!“ Huch, das hört sich triumphal an, aber wem traut man so etwas wie eine Brandmauer noch zu? „Auch guter Wille muss Grenzen setzen.“ Das wiederum erscheint zu dekorativ und harmlos, wahrscheinlich ein Spruch aus der Kita-Welt.
Im letzten Moment der Stimmabgabe werden die Geister lebendig, und ihre Köpfe schauen über den Vorhang der Kabine. Olaf mit seinem verschmitzten Dulderlächeln, Friedrich mit seinem siegesgewissen Wohlfühlgrinsen, Robert mit seinem ernsten Ministrantenblick. Spätestens dann geht ein starker Ruck durch die arme Kreatur, die in der Kabine wählen soll: Nichts wie raus, es ist höchste Zeit!
Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich darüber hinaus ein befreites Wochenende!
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