(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Mindestens einmal am Tag sprechen meine Freunde von der ausufernden Bürokratie und den nervigen Erscheinungen der Bürokratisierung. Fragt man sie genauer und will Beispiele hören, weichen sie aus und flüchten sich schließlich zu Gemeinplätzen. Bürokratie sei einfach überall, sie lähme das Leben, mache es langsamer und trostloser und lade jedem alltäglichen, einfachen Vorgang einen Packen von unnützen Vorschriften auf.
Frage ich nach, wie sich „Bürokratie“ feststellen lässt, sagen sie, es gebe sie überall da, wo kleinkariert oder pedantisch gedacht werde, der Staat das alleinige Sagen und Befehlen habe, an Details herumgedoktert werde – und das alles in einem meist unverständlichen Beamtenjargon.
Bürokratisch sei dementsprechend die Geisteshaltung all derer, die nichts rasch und elegant erledigen, sondern jeden Vorgang in ein Säurebad der Petitessen tauchen. Von der fortschreitenden Digitalisierung erhoffe man sich das Gegenteil, smart und digitalaffin sei die Haltung aller, die kaum noch etwas körperlich in die Hand nehmen, sondern alles lieber ihren Smartphones überlassen. Die brächten Tempo in den Alltag. Das reiche vom bargeldlosen Bezahlen über das Online-Banking bis hin zum Zeitmanagement, das von den neusten Apps längst auch im lockeren Gesprächsmodus durch einen digitalen Assistenten erledigt werde.
In der Tat hat die Bürokratie ihre Wurzeln in der Konzeption des Büros und geht, historisch noch weiter zurückverfolgt, auf die Schreibstube von Mönchen und späteren Verwaltungsbeamten zurück. Alles beginnt mit dem Abschreiben und Ablegen von Dokumenten, die in Ordnern und Regalen ein langes Leben führen. Der bürokratische Mensch sitzt auf seinem Arbeitsstuhl an seinem Arbeitstisch und bewegt sich nicht im Freien. Er atmet die schädliche Büroluft und verliert allmählich das Bewusstsein von Dringlichkeit oder Zeit.
Wie in Trance verlässt er in den späten Nachmittagsstunden seinen Arbeitsraum, um sich endlich dem Höhepunkt des Tages, der Afterhour, zu widmen. Erfahrene Genießer dieser Überlebensstunden dehnen die Minuten und Stunden bis in die Nacht aus. Sie wechseln rasch das Outfit, kommen einander näher und bewegen sich langsam hinüber ins Reich der ozeanischen Empfindungen, die sie erst am nächsten Morgen in ihrem bescheidenen Büro wieder versachlichen.
Mit den Jahren ist in mir jedoch ein bestimmter Verdacht gewachsen. Könnte es sein, dass die Erlebnisse der vielberedeten und allgemein als störend erlebten Bürokratisierung vielleicht auch eine Folge der Digitalisierung sind? Mir kommt es jedenfalls oft so vor, als wären all die vielen Apps, die laufend aus den Netzen schießen, in nicht geringem Maße schuld an der Erziehung zum kleinkarierten Abhaken, Akzeptieren, Verwerfen, Anmelden und Abmelden.
So gesehen, wirkt das Fummeln mit Apps extrem bürokratisch. Gefragt wird alle paar Sekunden nach Details, die niemanden etwas angehen und durch deren Preisgabe ich mich angeblich in den Zonen des mühelosen und leichten Lebens bewege, umsorgt von den unvermeidlichen Cookies, die sich an jeder Internetkreuzung in Scharen melden, Zähne und Zunge zeigen oder ungefragt vor sich hinplappern.
Meine Freunde halten meinen Verdacht für „gewagt“. Sie wollen sich die schöne, neue Welt der scheinbar lässigen Attitüden und die dauernde Nutzung ihres Handy-Büros nicht verderben oder ausreden lassen. Stattdessen knien sie jetzt im Frühling vor jedem blühenden Pflänzchen, fotografieren es xmal und legen die selbstverständlich überarbeiteten Fotos den Liebsten ins Instagramkörbchen. Die Großtante Meta führt Protokoll, zählt die Aufrufe und Interaktionen und lässt das bürokratische Registrieren durch hemmungsloses Lob vergessen: „In den letzten 30 Tagen hast Du dreitausend Aufrufe erzielt.“ Na denn, wenn das nichts ist!