Die ganze Welt im Wirtshaus

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Vor kurzem ist der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel im Alter von 89 Jahren gestorben. Er war ein Großmeister der Kolumne und hat diese kleine Form wie kaum ein anderer Schriftsteller zu einem erst genommenen, literarischen Genre gemacht. In jeder steckte auch eine Geschichte, Bichsel switchte geschickt zwischen Berichten und Erzählen hin und her, und als aufmerksamer Leser fragte man sich, wo man sich gerade an seiner Seite befand. In einer Nachrichtenwelt, wo die Fakten des Alltags gedreht und gewendet wurden? Oder in einer frei erfundenen Fantasie?

1964 erschien sein erstes Buch im Walter-Verlag in einer Auflage von 1200 Exemplaren. Es hieß Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen und war ein schmales Bändchen mit kurzen Erzählungen. Von einer Frau, die sich ein Klavier wünscht. Von einem Pfingstrosenstrauß, den jemand in einen Briefkasten steckt. Vom Milchmann, der keine Butter mehr hat. Oder von Beamten, die ihre Arbeitszimmer verlassen und zum Mittagessen eilen. Am Ende liegt Schnee auf einer halben Seite, und ihre Leere signalisiert, dass Schnee entlegene Dörfer einsam macht.

Eine ruhige, stille Eigenheit durchzog das Bändchen und machte in einer Zeit, in der gerade noch die Blechtrommel  kräftig gewirbelt hatte, Furore. Dieser Schweizer Schriftsteller musste in verborgenen Gegenden zuhause sein. Einen umfangreichen Roman würde er wahrscheinlich nicht schreiben, und seinen Stoff würde er in der Zukunft wohl aus ähnlich abseitigen Welten beziehen. Mehr über ihn zu erfahren, war nicht leicht. Man wusste höchstens, dass er in Solothurn lebte, von Beruf Primarlehrer war und nicht gerne weit reiste.

Peter Bichsel erhielt danach für seine kurzen Geschichten zahlreiche Preise, und bald bestätigten sich die Vermutungen. Nein, er schrieb keine langen Romane, und seine Texte zur Lage der Dinge und der nahen Welt nannte er Kolumnen und sammelte sie in schmalen Bänden. Wie aber stellte er es an, von seinen Umgebungen zu erzählen? Er saß meist unter Menschen, am liebsten in einer kleinen Beiz, trank Wein und hörte zu. Das geduldige, lange Dasitzen nannte er „wohnen“ – „nur noch in der Beiz, in der kleinen Beiz, erlebe ich nostalgisch noch ein bißchen städtisches Wohnen, ein bißchen Zusammenrücken.“

Zusammenrücken, zuhören, an Gesprächen teilnehmen, ohne den Ton anzugeben – das bildete den Unter- und Hintergrund seiner Texte. Im Grunde schrieb er sie im Namen der anderen, fischte in ihren Meinungen und ließ oft mehrere zugleich zu Wort kommen. Nicht der Schriftsteller in ihm stand im Mittelpunkt, sondern sein Gehör, das immerzu auf Empfang geschaltet war. Wurde es um ihn herum einmal zu still, ließ er das Radio laufen und erlebte „Gesprochenes“, auch dann, wenn er es gar nicht verstand: „Es darf auch Japanisch sein, einfach menschliche Stimmen. Offensichtlich gibt es so etwas wie eine Hörsucht, und offensichtlich kann eine Sucht nicht brutal genug befriedigt werden; Radio ist jedenfalls eine brutale Form der Hörbefriedigung.“

Lange Zeit ahnte ich nicht, wie nahe meine eigenen Kolumnen denen von Peter Bichsel kamen. Seit nun mehr als sechs Jahren erscheinen sie im Kölner Stadt-Anzeiger, S. 4. Und fast immer erzählen sie von meinen Freunden und all dem, was in meinen Freundeskreisen gerade zu Wort gekommen ist.

Mein Solothurn ist Köln-Nippes, genauer, die Läden, Cafés und Kneipen entlang der Neusser Straße, mit dem Gesprächszentrum des Goldene Kappes. Längst haben meine Freunde sich angewöhnt, mich mit den neusten Themen ihrer Haushalte zu füttern. Wir trinken ausschließlich Kölsch und bewegen uns nach alter Bichsel-Art nicht von der Stelle. Um uns herum flutet das farbige und oft turbulente Leben, und ich habe das Glück, dieser Flut einige Gesprächsbrocken zu entnehmen.

Als Peter Bichsel gestorben war, habe ich oft und lange an ihn gedacht. Im Fernsehen lief ihm zu Ehren die Doku Zimmer 202. Sie zeigte, wie er einmal nach Paris reiste und im Bahnhofshotel des Gare de l‘Est einige Tage und Nächte verbrachte. Nur die nächste Umgebung sah er sich an, mehr nicht, und als ihm der Regisseur vorschlug, mit dem Taxi zu den Champs-Élysées zu fahren, um das Ende der Tour de France zu erleben, winkte er nur freundlich ab und sagte: „Aber das muss doch wirklich nicht sein…“