Friedl Benedikt und Elias Canetti

Ich lese gerade Warte im Schnee vor deiner Tür, Tagebücher und Notizen der Schriftstellerin Friedl Benedikt (1916-1953), herausgegeben von Fanny Esterházy und Ernst Strouhal im Paul Zsolnay Verlag.

Die Texte befanden sich im Nachlass von Elias Canetti (1905-1994), der an Friedl Benedikt geschrieben hatte: „Du bist ein geborener Erzähler, und eigentlich solltest Du täglich etwas für Dich erzählen.“

Die Aufforderung war mehr als eine Empfehlung, sie war eine dringende Bitte, die von der Schriftstellerin ernst genommen wurde. Sie verstand Canetti als einen Lehrer, und damit entstand eine besondere Konstellation des literarischen Schreibens: Ein älterer, bekannter Schriftsteller betreute eine jüngere Autorin beim Schreiben, las ihre Texte und redigierte sie.

Das historische Bedeutsame dieser Konstellation liegt in Raum und Zeit, denn Friedl Benedikt war eine österreichische Schriftstellerin, die in Wien aufwuchs. 1938 emigrierte sie nach London und teilte das Schicksal der Emigration mit Canetti und seiner Frau, die sie bereits in Wien kennengelernt hatte.

Friedl Benedikt hat sich der von Canetti gestellten Schreibaufgabe mit Passion und Leidenschaft gewidmet und versucht, die Begegnungen mit anderen Menschen in der englischen Emigration detailliert festzuhalten. Die „geborene Erzählerin“, wie es richtig heißen müsste, urteilte und reflektierte nicht, sondern porträtierte die ihr nahen Menschen sehr direkt: Durch Skizzierung ihrer Eigenheiten und Spleens, durch knappe Studien der Räume, in denen sie sich bewegten, und der Dinge, mit denen sie sich umgaben.

Ich lese diese Aufzeichnungen wie Lehrstücke in der Porträtkunst und damit wie Studien für einen Roman. Seltsam und überraschend ist, dass auch Canetti von dieser Porträtkunst lernte. In seinen späten Lebensjahren dachte er daran, seine dreibändige Autobiografie um einen Band über die „englischen Jahre“ während der Emigration zu verlängern. Dazu kam es nicht mehr, wohl aber sind die Entwürfe und Skizzen zu diesem Projekt erhalten. Nachlesen kann man sie in dem Nachlass-Band Party im Blitz, der Canettis Studien der britischen Gesellschaft sammelt.

Man sollte beide Bücher, das von Friedl Benedikt und das von Canetti nacheinander lesen und vergleichen. Was wird man entdecken? Die Spuren eines Unterrichts, in dessen Verlauf die Schülerin sich emanzipiert und zur Romanautorin wird – und in dessen Verlauf der Lehrer seine Aufgabenstellungen allmählich vergisst und sich die Aufgaben selber stellt.