Stillstand – und der Blick in die Wolken. Wie sie das Bild zum Horizont hin verdichten und sich dem breiten Pinselstrich unterwerfen. Wie sie in nächster Nähe in Bewegung geraten und sich langsam öffnen. Wie sie erste Durchblicke gewähren – und die Freude am ungeminderten Hellblau. Wie sie von Sekunde zu Sekunde schwelgen, zerfasern und neue Verbindungen in Clustern eingehen. Wie sie das vergehende Jahr fortschwebend zitieren und in all dieser Flüchtigkeit bereits das Neue Jahr anklingen lassen. Und danach, was dann?! Zum Jahresausklang liest Du in dem schönen Buch von Klaus Reichert (Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen. S. Fischer-Verlag 2016) …
Die Zeit zwischen den Jahren 4
Stille Gänge?! Was soll das heißen? Wir gehen nicht, wir stehen – und das stundenlang. Stilles Stehen ist cool, Du spielst Backgammon oder Blackjack im Kopf, das sind genau die richtigen Spiele vor der großen Silvestersause. Du solltest vorbereitet sein, Baccara spielen ist was für den Einstieg, damit kannst Du mal anfangen. Du solltest lernen, das Neue Jahr in Partien zu denken. Also los, Du Langweiler: Iiro Rantala & Ulf Wakenius spielen Good Stuff.
Die Zeit zwischen den Jahren 3
Stille Gänge. Die abgebrochenen Experimente des noch laufenden Jahres am Wegrand. Was hast Du vor? Was wirst Du so alles tun? Welche Ideen wirst Du weiter verfolgen und welche Projekte? Wohin wirst Du reisen? Worüber wirst Du schreiben? Jeroen van Veen spielt Arvo Pärt: Für Anna Maria. Immer kürzere, langsamere Schritte. Immer stiller. In den feuchten Erdschwaden: Abdrücke Deiner Sohlen. Bis zum frühen Abend werden sie leuchten.
Die Zeit zwischen den Jahren 2
Paul (71) lebt im Garten, egal, ob das Wetter sich dafür eignet oder nicht. Statt spazieren zu gehen, widmet er sich täglich den Bäumen und Pflanzen, und immer hat er die passenden Gartengeräte dabei. Zwischen den Jahren ist die Zeit, sie instand zu setzen oder zu reparieren, auch die großen Regale in der Garage werden jetzt aufgeräumt. Die Kübelpflanzen hat er rechtzeitig vor Winterbeginn mit Winterschutzmatten aus Jutefilz eingekleidet, sie stehen jetzt – dickbäuchig und umknotet – wie verwöhnte Patienten herum. Der Weihnachtsbaum, den Paul im Topf gehalten hat, kommt in diesen Tagen bereits ins Freie, wird in den Garten gesetzt und erhält ein Vliesgewebe, das die Spitze vor der Kälte schützt. An etwas wärmeren Tagen streut Paul feinen Kompost auf seine Beete und betrachtet sie lange. Zur Hälfte herrscht noch der Winter, die Gedanken ans Frühjahr sind jedoch schon lebendig. Wenn Paul träumt, sieht er kleine Narzissen und Krokusse in vertraut erscheinenden Inselgruppen. Auf der Bank neben der Haustür sitzt er am liebsten, und wenn es nicht gerade regnet, raucht er ein Zigarillo der Marke Davidoff (Exquisitos). Komme ich bei ihm vorbei, nickt er und ruft mich danach beim Namen. Wer bin ich? Sein Neffe? Der Gartengehilfe? Oder doch nicht eher der Herumwanderer, der zu allen Zeiten des kommenden Jahres mit ihm durch den Garten gehen wird, eingedeckt von Pauls Erzählungen und Kommentaren, in denen die Bäume und Pflanzen so leben, als wären sie „das Mass aller Dinge“ und auch „das Mass des (bedürftigen) Menschen“.
Die Zeit zwischen den Jahren 1
Das Grosse Fest, auf das wir einen Monat lang hingelebt haben, ist vorbei, die Chöre, Trompeten und Posaunen haben drei Tage lang musiziert und selbst die ältesten Werke (wie etwa die geheimnisvolle Missa Puer natus est des Thomas Tallis (1505-1585)) wieder ins Bewusstsein gerückt. Jetzt sollten wir aus dieser Hochfeier-Stimmung wieder herunterkommen – und in einem kurzen Anlauf auf Silvester zu andere Tempi (und damit auch Melodien) einschlagen. Die Zeit zwischen den Jahren ist in dieser Hinsicht (Entspannung nach dem Fest, Etüdenstimmung, Vagabundieren in den unterschiedlichsten Kulturen) eine der schönsten des Jahres. Wir sind also viel unterwegs, schauen uns um und verzeihen Benny Andersson, der sich auf seiner Piano-CD am Ende schon in die Zielbereiche des Happy New Year vorwagt, alles: Einfach mal hin- und weghören, einfach mal dies und das mitsummen und in den Pausen der Stunden unterbringen, einfach mal auf schmalen Pfaden, freundlich begleitet, „das Herz ausschütten“.
Das kleine Feuer (Haiku)
Meine Ganzjahreslektüre des Japanischen Taschenkalenders 2017 kommt langsam ans Ende. In den Tagen vom 18. – 24. Dezember 2017 verweist er auf eine Haiku-Dichtung des japanischen Haiku-Meisters Ôshima Ryôta (1718-1787): Zur Lampe schauend/ merke ich, dass Wind aufkam;/ Schnee in der Nacht (übersetzt von Ekkehard May). Berühren, frage ich mich, diese alten Verse nicht meine eigenen, gegenwärtigen Zeilen vom „kleinen Feuer“, die ich gestern notiert habe? Ryôta spricht von einem einsam, allein dasitzenden Menschen, der zur brennenden Lampe schaut. Ein Windzug weht (von draußen?) herein ins schlichte Haus – und lenkt diesen Blick unvermutet in die weitere Umgebung, wo der Einsame den Schnee der Nacht vermutet.
Das kleine Feuer
Der Blick auf das kleine Feuer der schmucklosen Kerze erinnert ihn an die Winterfeuer auf den verschneiten Feldern in seiner Kindheit. Die Flamme zieht den Blick an und hält ihn, er kann nicht mehr wegschauen. Sehr leise, im Dunkel des Hintergrunds, spielt Bugge Wesseltoft It´s Snowing on My Piano. Die Szene ist die eines Wartens und der baldigen, schönen Erwartung: In wenigen Tagen wird er die Stimmen und den Gesang hören, die Chöre, Trompeten und auch die Posaunen.
Es weihnachtet sehr 6
Im sechsten (und letzten) Teil seiner Fotoserie Es weihnachtet sehr porträtiert der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil eine Diskursentfaltung asiatisch anmutender Schriftzeichen, deren ockergelbe Tönung durch eine feine Streuung von Zuckerkristallen betont und bereichert wurde. Das so entstandene textuelle Gewebe arbeitet mit einer gewellt-weißen, leuchtenden Hintergrundfolie zusammen, die den Textzeichen eine irritierende Plastizität in Reihenformationen kurz vor dem allmählichen Zerfall und Verzehr (jeweils einzeln, nach einer Badephase im Mund) verleiht.