Aufzeichnungen aus drei Grashütten

In dem gerade erschienenen Buch Die Klause der Illusionen. Aufzeichnungen aus drei Grashütten (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Mainz, 18 Euro) findet man drei Texte asiatischer Dichter aus verschiedenen Jahrhunderten. Sie erzählen davon, wie sie sich (auf der Wanderschaft oder während einer Phase der Meditation) in kleine Hütten zurückziehen.

All drei sind erfahrene Dichter und inhalieren den umgebenden Raum, die Natur und die Jahreszeit.

Lesen kann man dieses wunderbare Buch auch als eine Folge der Inszenierungen von Kreativität, die in diesen Formen auf uns Westeuropäer fremd wirkt. Die Inspiration kommt aus unauffälligen rituellen Handlungen und wird gesteigert durch das Innehalten. Registriert werden winzige Details, deren Wahrnehmung eine gesteigerte Aufmerksamkeit beweist.

Der Hintersinn dieser Anteilnahme am Leben ringsum ist Verankerung. Alles Flüchtige wird abgestreift, und es entstehen von Moment zu Moment Texte, die das Leben in all seiner Tiefenpräsenz einfangen.

Vor wenigen Tagen hat der Schriftsteller und Journalist Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau eine große Rezension zu diesem Buch geschrieben und darin auch seine Leseeindrücke geschildert: „Ein Urknall!“ Hier kann man sie nachlesen:

Klause der Illusionen

Über Fernsehen schreiben

Als Kind und als Jugendlicher bin ich in einem fernsehfreien Haushalt aufgewachsen. Niemand sah fern, meine Eltern nicht, die Freunde kaum, fernsehen machte müde und war eintönig.

Auch später bin ich kein regelmäßiger Fernseher geworden, bis heute nicht. Noch immer werde ich beim Fernsehen rasch müde und langweile mich, als hätte ich alles bereits einmal gesehen und als lohnte es sich nicht, auf Neues oder gar Überraschendes zu warten.

Dafür ist es mir oft passiert, dass vor allem jüngere Verwandte mich gebeten haben, mit ihnen zusammen fernzusehen. Wenn ich bei Ihnen auftauchte, wollten sie meist eine bestimmte Sendung sehen, und ich sollte dabei sein und sagen, wie es mir gefallen habe.

Auf diese Weise habe ich zum Beispiel mehrmals „Die Küchenschlacht“ im ZDF gesehen, auch „Bares für Rares“ wollen meine jungen Verwandten gerne gucken. Das Fernsehen ist in solchen Fällen mehr als bloßes Hinschauen und Stillsitzen. Fast immer besteht es aus improvisierten Wettbewerben: Wer rät den Gewinner /die Gewinnerin einer „Küchenschlacht“ im Voraus? Wer kommt mit seiner Schätzung des Geldbetrages für etwas Rares dem später ausgehandelten Verkaufspreis am Nächsten?

Fernsehen besteht dann aus Geschichten und rituellen Abläufen, von denen der Schriftsteller Jochen Schmidt in seinen Kolumnen für die FAS erzählt hat, die jetzt in einem Buch gesammelt wurden: Zu Hause an den Bildschirmen. Schmidt sieht fern. C.H.Beck Verlag 2023.

Auch dieses Buch ist eine ideale Vorlage für Schreiberinnen und Schreiber, die alltägliche, herausgehobene, vorstrukturierte Eindrücke skizzieren oder festhalten wollen.

Hier bin ich sogar auf eine Erzählung über jene Sendungen gestoßen, die ich – außer dem Alpenpanorama auf 3sat (Meiner Lieblingsfernsehsendung – immer live, morgens ab 7.30 Uhr: die Berge, das Wetter, die Wege und Pfade, fast keine menschlichen Erregungen) gerne sehe: Snooker (später mal mehr darüber).

Eine herbstliche Lesereise in den Norden und wieder zurück

Nach dem Beginn meiner herbstlichen Lesereise in Mainz am 11.11.2023, 16 Uhr (siehe Blogeintrag vom 4.11.2023) fahre ich nach Hamburg, wo ich am Dienstag, 14.11.2023, 19.30 Uhr, aus mehreren Büchern (Ein Kosmos der Schrift aus Kunst, Musik und Literatur) lese und von den Hintergründen der angesprochenen Lebensthemen erzähle:

https://www.hamburg-magazin.de/veranstaltungen/hanns-josef-ortheil-1035252

Von Hamburg fahre ich zur nächsten Lesung – nach Wolfenbüttel. Sie findet am 16.11.2023 um 19.30 Uhr statt:

https://www.wolfenbuettel.de/index.php?

Am 19.11.2023 bin ich dann zurück in der westerwäldischen Heimat zu einer nun wiederum sehr besonderen Lesung, im Kulturwerk von Wissen/Sieg, um 18 Uhr– darauf werde ich in diesem Blog noch eigens hinweisen.

Abschied von Bo Svensson

Bo Svensson (1979 geboren) ist ein dänischer Fußballspieler und Trainer, der zuletzt 16 Jahre für den FSV Mainz 05 in den verschiedensten Funktionen gearbeitet hat, zuletzt als Trainer der Bundesligamannschaft.

In Mainz ist er wegen seiner sachlichen, klugen Art (Svensson hat Literatur studiert!) besonders beliebt. Er ist bei den früheren Mainzer Trainern Jürgen Klopp und Thomas Tuchel in die Schule gegangen und setzte damit die Tradition von bekannten Mainzern Trainern fort, die mit dem Trainieren einer Mannschaft mehr verbinden als Geld und Ansehen.

Überhaupt kann man als langjähriger Begleiter des Auf und Ab gerade dieses Vereins gut erkennen, was „Fanbindung“ in diesem Fall bedeutet. Die Fans lieben nicht nur den Verein, sondern bringen durch diese Bindung auch ein besonderes Bewusstsein von „Heimat“ zum Ausdruck. Kein pathetisches, kitschiges, sondern eines, das die Stadt in einen „Charakter“ übersetzt.

Im Falle von Mainz lebt dieser „Charakter“ von guter, aber nicht übertrieben heiterer Laune, von Selbstironie und einer Spur altrömischer Gelassenheit.

Zu Beginn der Fußballsaison war man in Mainz guter Dinge. Man hoffte sogar auf einen Platz in den oberen Rängen. Dann aber kam alles anders. Von Spiel zu Spiel wurde die Situation kritischer, der Verein gewann kein einziges und landete schließlich auf dem letzten Tabellenplatz.

Bo Svensson wusste, was er zu tun hatte: Er wartete nicht auf eine mögliche Entlassung, sondern kündigte schweren Herzens von sich aus. In einem berührenden Video verabschiedete er sich von „den Mainzern“ und seinen Fans.

Schaut man sich das an, begreift man, was Fußball auch sein kann und ist. Eine Passion, die das Leben prägt, Verbindungen intensiver Art herstellt und zu einer „Geschichte“ beiträgt, die man als eine Fortsetzungsgeschichte erzählt.

Nach Bo Svenssons Rücktritt hat am letzten Wochenende sein Co-Trainer das Training zunächst für eine Übergangszeit übernommen. Am Samstag stand das schwere Spiel gegen RB Leipzig auf dem Programm. Die Mannschaft hat dieses Spiel 2:0 gewonnen, wider alle Erwartungen. Hinterher sprachen alle davon, welcher gute Geist an diesem Sieg mitbeteiligt war.

Eine besondere, herbstliche Lesung in Mainz

Mit einer ganz besonderen Lesung in Mainz beginne ich am kommenden Samstag, den 11.11.2023, meine herbstliche Lesereise. Sie findet bei guten Freundinnen, der Galeristin Dorothea van der Koelen und der Mainzer Künstlerin Lore Bert in der einzigartigen CADORO, dem von ihnen entworfenen und gestalteten Zentrum für Kunst und Wissenschaft in der August-Horch-Straße 14 statt.

Schon allein der Besuch dieses wunderbaren Gebäudes lohnt sich, dazu kommt aber noch ein herbstlicher Nachmittag, in dem ich ab 16 Uhr mein neues Buch Kunstmomente vorstellen und über die Erfahrungen und Erlebnisse sprechen werde, die ich als Schriftsteller mit einer klugen Galeristin und einer erfahrenen Künstlerin in aller Welt und besonders in Venedig gemacht und geteilt habe.

Wo berühren sich Schreiben (Literatur) und künstlerische Arbeit? Welche Rolle spielen Galerien und Ateliers für das Schreiben? Wie arbeitet man als Schriftsteller Tag für Tag und wie tut das eine Künstlerin/ Galeristin?

Ich lade Sie zu diesem Nachmittag sehr herzlich ein. Der Eintritt ist gratis, aber man sollte sich unbedingt vorher anmelden, da mit vielen Besucherinnen und Besuchern zu rechnen ist. Anmeldung bitte unter: info@vanderkoelen.de

Ein ruhiges Herbstwochenende wünsche ich Ihnen

Klaus Siblewskis Biografie über Peter Härtling

Klaus Siblewski ist der langjährige Lektor des Schriftstellers Peter Härtling. Er hat seine Gesammelten Werke herausgegeben und viele andere Härtling-Titel mit konzipiert und verantwortet. Niemand kennt dieses große Gesamtwerk besser, und niemand war den Gedanken und Überlegungen Härtlings im Zeitraum seiner Veröffentlichungen näher.

Heute, am 2. November 2023, erscheint die erste umfangreiche Härtling-Biografie, die niemand anderes als – na klar – Klaus Siblewski schreiben konnte und geschrieben hat (Unterwegs sind wir alle. Eine Biografie. Kiepenheuer & Witsch Verlag). 

Siblewski hat sich dabei nicht nur auf die privaten Kenntnisse von den Wegen seines Autors verlassen, sondern erhielt auch Einblicke in viele unveröffentlichte Dokumente und Archive. Dadurch ist eine sehr ungewöhnliche, ja einzigartige Biografie entstanden.

Sie stolpert nämlich nicht wie oft üblich von einem biografischen Datum zum nächsten, sondern verwandelt sich mitdenkend und mitempfindend in den Autor. So entsteht ein erzählender und nachdenklicher Text über die einzelnen Schritte, die Härtling von Buch zu Buch führte: Woher bezog er seine Themen? Wie dachte er über die Genres (Gedichte? Essays? Erzählungen? Roman?) nach, mit deren Hilfe er diese Themen aktualisieren wollte?

Siblewskis Biografie ist daher eine Biografie der größtmöglichen Nähe, indem sie das poetologische Denken Härtlings als Antwort auf seine inneren Debatten und möglichen Selbstgespräche versteht. Das als Leser zu verfolgen, ist nicht nur spannend, sondern auch enorm lehrreich. Man lernt eine Autoren-Biografie als Biografie von Projekten, Büchern und Fragestellungen kennen und erfährt an diesem Beispiel exemplarisch, wie Autoren im Einzelnen denken und handeln.

Kein Buch also nur für die vielen Härtling-Leserinnen und Leser, sondern vor allem ein Buch für all die, die auch selbst schreiben und erfahren wollen, welche konkreten Szenen, Krisen und Höhenflüge eine Autorenexistenz durchlebt.

Allerheiligen – Traum im Herbst

 

Eine Ecke auf einem großen Friedhof. Spätherbst. Es hat eben geregnet. Schwarze Bäume. Wenige Blätter hängen noch an den Zweigen, etwas Laub liegt am Boden. Ein Kiesweg, eine Bank mit abblätternder Farbe. Der Mann kommt über den Kiesweg, verlässt ihn, geht zu einem Grabstein, liest die Inschrift, steht eine Zeit lang da und blickt darauf, geht dann zu einem anderen Grabstein, liest auch dort die Inschrift, schaut eine Weile darauf, kehrt auf den Kiesweg zurück, geht zur Bank und setzt sich. Er schaut hoch, er kann endlich weinen…

Das ist die anfängliche Regieanweisung des Theaterstücks Traum im Herbst von Jon Fosse. Ich lese sie heute Morgen wie eine Regieanweisung für Allerheiligen. Wie oft bin ich an diesem Tag auf den Friedhof meines westerwäldischen Heimatortes Wissen an der Sieg gekommen, um dort von Grab zu Grab zu gehen und mich an die gestorbenen Liebsten zu erinnern.

Oft kam es mir so vor, als seien sie erst gerade gestorben und ich könnte mich noch gut an Details ihres Lebens erinnern. Und so war es denn auch. Ich erinnerte bestimmte Szenen, Gespräche und Gesten, die ich durch Jahrzehnte im Kopf bewahrt habe.

All diese Erinnerungsstücke sind verschieden und spielen zu unterschiedlichen Zeiten. Als sei jede einzelne mit der Person eng verbunden und bringe diese Person vor dem Hintergrund der Historie so zur Geltung, dass beide eng und unkündbar zusammengehören.

Ein Onkel lebt weiter in den fünfziger Jahren, als wir Birnen in seinem Garten ernteten. Ein Großvater taucht aus den sechziger Jahren in seinem Geschäftshaus am Schreibtisch auf. Eine Tante steht in der Küche und erklärt die Zubereitung von Kartoffelbrot.

Ich sehe sogar Menschen, denen ich in meinem Leben nie begegnet bin, weil sie längst vor meinem Leben gestorben sind. Ich glaube sie durch Fotografien zu kennen, deren Details ich genau vor Augen habe. Wenn es möglich wäre, würde ich ihre Hand nehmen und mit ihnen über den Kiesweg gehen, als wären wir ein Paar.

Solche Allerheiligenwege sind von großer Gelassenheit und Schönheit. Als würden Leben und Tod sich berühren, weil sie Teil einer einzigen Geschichte sind, die in meinem Kopf vor sich hinbrütet.

Eva Menasse über die Folgen der Digitalisierung

Am 23. August 2023 habe ich anlässlich einer Neuerscheinung im Verlag C.H.Beck über das Thema Digitalisierung nachgedacht und auf meine Bitte hin viele Reaktionen von Leserinnen und Lesern dazu erhalten, wie sie die Folgen der Digitalisierung in ihrem privaten Raum erleben.

Die österreichische, in Berlin lebende Schriftstellerin Eva Menasse hat nun einen Langessay zum Thema der Digitalmoderne geschrieben, der am 2. November 2023 als Buch im Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheint.

Ich empfehle dieses Buch sehr und übernehme einen Vorabdruck, der im Standard erschienen ist.

https://www.derstandard.at/story/3000000192868/digital-na239ves

Le Moissonnier als Bistro

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts habe ich einige Zeit in Paris gelebt, auch, um mein Französisch zu verbessern. Die Familie Ortheil hatte französische Wurzeln, ein nachforschendes Mitglied der Großfamilie hatte das herausgefunden. Der Name Ortheil entstand wohl aus dem französischen Orteil – und Orteil bedeutete: Der Zeh.

Später bin ich oft in Paris gewesen, hatte französische Freundinnen und Freunde und sehnte mich nach den Pariser Bistros, in denen man einen guten Schluck Wein und kleine Gerichte erhielt.

In Erinnerung an diese Aufenthalte habe ich später in Köln häufig das Restaurant Le Moissonnier besucht, das Liliane und Vincent Moissonnier 36 Jahre geführt und zu einem Zwei-Sterne-Restaurant höchster Qualität machten. Ich ging dorthin aber nicht, um in einem Nobelrestaurant zu essen, sondern um eine Weile in einem wunderschönen, intimen Raum zu sitzen, der ganz und gar französisch war. In meinem Vorwort zu Der Käse kommt vor dem Dessert habe ich über diese Atmosphären und ihre kulturellen Hintergründe geschrieben.

Nun haben Liliane und Vincent nach der Schließung ihres Restaurants im Juni Anfang September das Bistro Le Moissonnier eröffnet. Ich habe es inzwischen besucht und war sehr erleichtert, als ich die mir vertrauten Räume fast unverändert wiederfand. Statt der weißen Tischdecken gab es jetzt zwar nur einfache, glatt polierte Holztische. Gerade sie brachten den Bistroflair aber verstärkt in die schöne Stube, in der jetzt fünfzig offene Weine und Bistrogerichte (einschließlich einer Plat du Jour) angeboten werden:

https://www.lemoissonnier.de/Le-Moissonnier-Bistro/

Meine Begeisterung hält also an, und ich freue mich schon jetzt darauf, dieses Pariser Bistro immer wieder zu besuchen, zumal mir Vincent einen Stammplatz nahe dem Fenster in Aussicht gestellt hat, wo ich…, ja was?… – wo „Sie in Ruhe schreiben können“ (Vincent Moissonnier).

Vielleicht, liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, begegnen wir uns dort einmal, um ein Glas zusammen zu trinken. (Als ich das Bistro besuchte, begegneten mir bereits einige von ihnen und kamen an meinen Tisch…)