Der chinesische Pianist Lang Lang hat die Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach eingespielt. Auf der neuen CD findet man zwei Aufnahmen: Eine im Studio entstandene und den Live-Mitschnitt eines Konzerts in der Leipziger Thomaskirche.
3sat hat eine Dokumentation über Lang Langs Vorstudien und Überlegungen gesendet (Lang Langs Goldbergvariationen, bis 11.12.2020 auch in der 3sat-Mediathek), und im SPIEGEL dieser Woche (Nr. 38) findet man ein langes Interview, dessen Inhalt sich mit der 3sat-Doku teilweise überschneidet.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich Lang Langs Spiel früher nicht besonders gerne gehört, sondern mich oft weggeduckt, wenn ich seinen Auftritten begegnete. Das änderte sich, als ich erfuhr, dass er nach zu intensivem Üben von Maurice Ravels „Klavierkonzert für die linke Hand“ eine Sehnenscheidenentzündung bekam, die ihn fünfzehn Monate pausieren ließ. Seither habe ich ihn als einen Leidensgenossen gesehen, denn eine Sehnenscheidenentzündung habe auch ich in der Jugend nach zuvielem Üben bekommen. Vor diesem Hintergrund werde ich mir seine Einspielung der „Goldbergvariationen“ besonders genau anhören, viele Male, immer wieder. Erst dann werde ich dazu etwas sagen.
Die 3sat-Doku und das Interview im SPIEGEL vermitteln jedoch darüber hinaus gute Vorstellungen davon, was „Klavierüben“ bedeutet. Das normale Konzertpublikum ahnt davon wenig: Einsatz der Finger (und ihr individuelles Training), Haltung der Hände, Körperschulung, Analyse eines Stückes, die Suche nach dem Charakter des Spiels, das Verwerfen, Proben, die Fragen danach, welche Anlage man einer Komposition geben möchte.
Pianistisch ambitioniertes Klavierspielen erfordert den Einsatz eines ganzen Menschen. Welche Aspekte und Themen dabei alles eine Rolle spielen, erfährt man durch Lang Langs Überlegungen in aufschlussreicher Weise. Übt man Tag für Tag mehrere Stunden, operiert man fortlaufend mit dem aufmerksamen Blick auf eine zu erhaltende physisch-psychische Balance, die von jeder Komposition anders eingefordert wird. Der Auftritt im Konzertsaal ist nur das flüchtige Endergebnis, viel existentieller ist das Üben und Trainieren selbst, das einen Menschen oft von Kindheit an in eine Art Extremsportler mit zehn flinken Fingern verwandelt. Hochempfindlich, eingeschränkt beweglich (Sportarten wie Rudern, Basketball oder gar Turnen sind viel zu gefährlich). Als sei man ein neurotisches Studienobjekt mit einem sehr individuellen Training, das ein erhofftes Zusammenspiel von Körper und Psyche laufend neu strukturiert.
Von all diesen Themen habe ich übrigens in meinem Buch Wie ich Klavierspielen lernte (Insel Verlag) detailliert erzählt. Viele Leser haben mir nach seinem Erscheinen geschrieben und davon berichtet, wie dieses Buch ihren Blick auf musikalische Darbietungen, Spielformen und Techniken erweitert hat. „Ich erlebe ein Konzert jetzt ganz anders als früher, als ich noch nichts davon wusste, was das Üben eines Instruments eigentlich so alles mit sich bringt und worauf es vor allem ankommt. Und ich habe nun selbst wieder große Lust bekommen, Klavier zu spielen und zu üben“, schrieb eine Leserin.
Ergänzend dazu noch eine gute Meldung:
Am 07. Oktober erscheint das viel gelesene Buch auch als Insel- Taschenbuch!