Eine Botschaft für Frau Merkel

(Am 30. Oktober 2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger, S. 4)

Guten Tag, Frau Merkel, ich melde mich aus meiner einsamen Klause: Häuschen, Garten und ein Stückchen Wald. Ich bin gesund, ich habe die neusten Beschlüsse zur Kenntnis genommen und handle entsprechend.

Der Morgen beginnt mit einem Blick auf das Alpenpanorama von 3sat, minutenlange Bilder von Alpengletschern und weiten Tälern. Der Wilde Kaiser, das Nebelhorn. Kein Mensch ist zu sehen, kein Tier, keine Bewegung, selbst die Sessellifte stehen still – das ist ein wunderbarer Auftakt für den weiteren Tag, an dem nichts so sehr geboten ist wie das Vermeiden von Kontakten oder intensive Bewegung.

Ich tröste mich mit dem Blick auf die hochaktiven Eichhörnchen, sie planen den Winter und sammeln momentan eine unvorstellbare Zahl von Nüssen und anderen Delikatessen. Ich selbst vermeide Delikatessen, schon das Wort ist mir fremd geworden, lieber gehe ich in mich gekehrt und selbstverständlich allein durch den Garten, ernte Äpfel, Birnen und Quitten und verspeise sie morgens, mittags und abends.

Ich denke nicht mehr daran, meine nächsten Kreise längere Zeit zu verlassen, schon bei der bloßen Vorstellung sehe ich Sie vor mir, wie Sie ihr strenges Pokerface aufsetzen oder genervt mit den Augen rollen. Wenn Sie Putin, Trump oder Boris Johnson begegnen, lassen Sie diesen Merkelroller kreisen, ich träume bereits davon, und wenn ich einen Schritt hinaus ins freiere Leben mache, begleitet er mich, und ich blicke verschämt zu Boden. Wie konnte ich nur daran denken, mich mit meinen Freunden zu treffen? Wie kam es mir bloß in den Sinn, meinen baldigen Geburtstag fröhlich und in großer Runde zu feiern?

Ich werde natürlich darauf verzichten, liebe Frau Merkel, ich werde allein bleiben, nur meine Frau wird mir als einzige Live-Gratulantin ein Ständchen singen. Nein, sie wird mich nicht umarmen, auch einen Kuss ersparen wir uns. Wir werden sprachlos durch die herbstlichen Wälder tappen und schnüffelnden Hunden ebenso ausweichen wie kinderreichen Familien. Sollte es uns dennoch für ein Stündchen zum Einkauf in die Stadt verschlagen, werden wir unser markantes Maskendeutsch intonieren: Knappe Ansagen, keine Adjektive und Verben, Ausrufezeichen nach jedem Substantiv!

Hehre Mutter des Landes, ich werde gehorsam sein und mich so wenig regen wie möglich. Das ferne Leben werde ich über Webcams verfolgen und mir den Angsttraum eines Grabsteins verbieten, auf dem stehen könnte: „Er war mit allem einverstanden.“