Alexander Melnikov spielt Rachmaninow

 

19.58 Uhr. Gleich wird Alexander Melnikov die Bühne betreten und den ganzen Abend lang ausschließlich Klavierwerke von Sergej Rachmaninow (1873-1943) spielen.

Vor der Pause zwei Variationen über Themen von Chopin und Corelli, nach der Pause die Études-Tableaux (zweite Sammlung).

Gleich zu Beginn tun sich weite Felder auf, und es fragt sich, wo wir uns befinden. Ein Prélude von Chopin gibt den Ton an, und wir erfahren, wie Rachmaninow sich virtuos in ihm verliert. Er verwandelt es laufend, in eine Toccata, eine Sarabande, in ein Nocturne. Bei der Uraufführung im Jahr 1903 soll er diese Variationen selbst gespielt haben.

Dann gibt Arcangelo Corelli ein Thema vor, etwas Eingängiges, fast rührend. Und wieder macht Rachmaninow sich daran, es zu durchlaufen und von allen Seiten in zwanzig Variationen und einer Coda zu beäugen. Dieses Stück wurde 1931 uraufgeführt, und Rachmaninow hat es oft selbst gespielt, fast jedes Mal unzufrieden mit der eigenen Aufführungspraxis und empört über Huster im Publikum.

Pause. Hinter uns liegen zwei Mittelgebirge, aber wir haben den Schöpfer aus den Augen verloren. Wohin ist er geflohen? Mit vier Jahren erhielt er von seiner Mutter Klavierunterricht und studierte an einem der besten russischen Konservatorien, dem in Petersburg, von wo aus er später an das in Moskau wechselte. 1891 schloss er das Klavierstudium ab und widmete sich mehr seinen Kompositionen.

Er wird ein gefeierter Pianist, er geht auf Tourneen, bis die Russische Revolution dem ein Ende setzt. 1917 verlässt er seine Heimat für immer und konzertiert in den USA und der halben Welt.

Hier treffen wir ihn nach der Pause wieder, denn die Études Tableaux, die Alexander Melnikov nun spielt, sind kurz vor dem Abschied von Russland entstanden.

Wir erleben, wie er die Felder noch weiter bestellt. Er soll Bilder und dramatische Szenen im Kopf gehabt haben, als er die Études komponierte. Uns erscheint es so, als habe er vor allem seine eigene psychische Disposition im Kopf gehabt: ein Herumirren, mal blockiert, mal schwelgerisch, mit vielen Einbahnstraßen und dunklen Sackgassen.

„Musik“, hat er einmal geschrieben, „sollte der Ausdruck der komplexen Persönlichkeit eines Komponisten sein“ – dieser zentrale Satz ist eine Art Credo, das die Études Tableaux in Szene setzen.

Nach alldem spielt Alexander Melnikov eine Zugabe, das Prélude op. 32 in G-Dur. Und plötzlich taucht Rachmaninow hinter dunklen Vorhängen auf, bittet um eine Spur mehr Licht und spielt ergeben eine Komposition von der Art, die sein Publikum liebte.

Wir gingen grübelnd durch die Nacht, Rachmaninow verfolgte uns , und wir nahmen uns vor, die vor Jahrzehnten geschlossene Freundschaft weiter zu vertiefen.

Der Klang der Gegenwart

Selbst wenn wir beflissene und häufige Besucherinnen oder Besucher von Konzerten sind, bekommen wir doch meist nur die vertrauten Kompositionen der großen Meister zu hören. Beethovens Violinkonzert, eine Symphonie von Brahms oder den Walzer von Ravel, zum hundertsten Mal.

Es hat den Anschein, als habe sich kompositorisch seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert wenig getan oder als wollte man uns nicht mit den neusten Klängen behelligen. Dabei hat sich natürlich seit Anfang des letzten Jahrhunderts durchaus viel getan und sich zu dem entwickelt, was man, um einen einfachen Begriff zu bemühen, „Klangsphären“ nennen könnte.

Die Neue Musik ist nur noch selten tonal, sie ist eher ein experimentelles Labor, in dem Instrumente auftreten, die eigens für bestimmte Klangmöglichkeiten entwickelt wurden. Schulen im altmodischen Sinne gibt es nicht mehr, eher Experimentierfelder, allesamt hoch interessant, auch an der Schwelle zum Free Jazz oder zum Hip Hop.

Björn Gottstein hat mehrere Festivals für solche Darbietungen kuratiert, er ist ein exzellenter Kenner, der uns in 17 Kapiteln die wichtigsten Strömungen für unsere „Horizonterweiterung“ vorstellt. Und da wir heutzutage die Musikbeispiele mühelos über YouTube oder anderswo abrufen können, steht unserm neuen Hörbewusstsein nichts mehr im Wege.

  • Björn Gottstein: Der Klang der Gegenwart. Eine kurze Geschichte der Neuen Musik. Reclam Verlag

Eine Lesung in Altenberg

 

Zwanzig Minuten vor Beginn meiner Lesung im Rahmen des Festivals Literatur am Dom im bergischen Altenberg sitze ich mit dem Moderator Denis Scheck bereits auf der Bühne. Wir besprechen den Einstieg.

Ich werde aus meinem neuen Buch Von nahen Dingen und Menschen lesen, soviel ist klar. Könnte man in der Moderation aber auch etwas weiter ausholen und darüber sprechen, wie es zu diesem Buch gekommen ist? Indem man den Blick nicht nur auf dieses eine wirft, sondern zu verstehen versucht, wie es sich einreiht in die Folge der zuletzt erschienenen Bücher?

Guter Einfall! Und so werde ich darüber sprechen, dass ich in meinem zuletzt erschienenen Roman Ombra (2021) von einer schweren Herzoperation im Jahr 2019 und ihren nicht geahnten Folgen erzählt habe. Lange Zeit konnte ich nicht mehr Klavierspielen und nicht mehr mit der Hand schreiben, hinzu kamen erhebliche Erinnerungsdefizite (Worte, Fremdsprachen etc.).

Zu den Räumen, Ereignissen, Dingen und Menschen in meiner Nähe musste ich erst wieder einen physischen und psychischen Kontakt herstellen, Stück für Stück. Damit habe ich in meinem Buch In meinen Gärten und Wäldern (2020) begonnen, in dem ich von den Blumen, Bäumen und Sträuchern in meinem Garten erzählt habe.

Fortgesetzt habe ich diese Erzählungen aus der Nähe mit Geschichten über meinen Freundeskreis (Charaktere in meiner Nähe). Der nächste Schritt war eine Rückbesinnung auf das Sehen (Kunstmomente. Wie ich sehen lernte), das eine Autobiografie meiner Annäherung an Bilder, Fotografien und Filme enthält.

Von nahen Dingen und Menschen ist der Schlusspunkt dieser Tetralogie der Rückeroberung der Welt in der Form von kurzen Erzählungen und Geschichten, die ich in den letzten Jahren frühmorgens geschrieben habe, um wieder Boden unter den Füßen und einen Halt im Kopf zu gewinnen.

Davon erzählte ich zum Einstieg in die sich anschließende Lesung und nutzte die Gelegenheit, im Publikum das Verständnis dafür zu schärfen, wann und warum Bücher nicht „allein“ sind, sondern oft Geschwister und Begleiter haben.

Und was erscheint nun als nächstes? Vielleicht wieder ein Roman? Darüber bald mehr …, wenn der Regen vorbei ist!

Ciao amore, ciao

In meinem Blogeintrag vom 5. Mai 2022 habe ich das Buch Azzurro von Eric Pfeil vorgestellt, in dem er über hundert seiner italienischen Lieblingssongs geschrieben und sie porträtiert hat.

Nun gibt es den zweiten Band: Ciao amore, ciao (KiWi), den ich ebenfalls sehr empfehle. Für den inneren oder äußeren Aufbruch in den Süden!

Leider taucht Pippo Pollina darin nicht auf, was ich dadurch ausgleiche, dass ich eines seiner schönsten Lieder hier im Blog präsentiere, verbunden mit guten Wünschen für ein hoffentlich südliches, erlebnisreiches Wochenende!

Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2024

Gestern hat in Klagenfurt der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2024 begonnen. Vierzehn Autorinnen und Autoren lesen eine halbe Stunde lang einen noch unveröffentlichten Text, der danach von sieben Jurorinnen und Juroren besprochen und bewertet wird.

Das alles wird in 3sat gezeigt und dokumentiert. Heute beginnen die Lesungen um 10 Uhr. Für alle, die schreiben, der Tipp: Mal reinschauen und tief durchatmen!

https://bachmannpreis.orf.at/

Das Phänomen Sokolov

Er betritt die Bühne des Konzertsaals mit kurzen Schritten, ohne nach rechts oder links zu schauen, er hat nur den offenen Flügel im Blick, vor dem er Positur bezieht und sich zweimal verbeugt. Er nimmt Platz und beginnt sofort mit dem Spiel, als wäre dem Flügel ein Warten oder eine erste vorsichtige Berührung nicht zuzumuten. Schlagartig tut sich der Klang auf, als entstehe die Komposition gerade in diesem Moment, im Kopf eines Menschen, der sie befragt und ihr zuhört.

Einmal in einem Konzertjahr schmiedet er ein Programm, mit dem er dann in der halben Welt auf Tournee geht. Alles ist genau überlegt, jede Komposition lässt die vorangegangene hinter sich und nimmt Anlauf von vorn. Meist beginnt er mit scheinbar einfachen Stücken aus dem Übungsrepertoire der Meister, die ihren Klavierschülern kleine technische Aufgaben stellten. Dann behandelt er den Flügel wie ein Klanginstrument und entlockt ihm winzige Koloraturen, Triller und Treppenläufe. Die Töne schwirren im Halbkreis und halten sich in einem intimen Studioraum auf, in dem Grigory Sokolov als Tonmeister die Regie übernimmt.

Ist das wirklich von Bach? Oder von Purcell? – fragen sich viele im Publikum und bemerken an sich selbst eine starke Irritation. Denn Ton für Ton wird die staubige Patina des Vertrauten abgetragen, und darunter erscheinen die verästelten Strukturen der Stücke, die nicht von Bach oder Purcell sind, sondern der Studierstube des in sie versunkenen Pianisten entstammen, dem das Publikum Schritt für Schritt folgt. Von den kurzen Klavierübungen geht es weiter zu Zyklen mit französischen, italienischen oder deutschen Tänzen, die Welt mischt sich ein, denn die Stücke erhalten nun die Farben einer Umgebung.

Große Pause. Was macht wohl der Meister, fragt sich das fassungslose Publikum, dem sein Sektgläschen aus den Händen gezaubert wurde. Darf man sich auf Chopin freuen oder auf Schumann? Der Meister hat längst die Linien gezogen, und als er mit den Mazurken Chopins weitermacht, ist Frédéric jung wie nie, der Salon wird geschlossen, und er komponiert, wie er zuvor noch nie komponierte. So wird Chopin zu seinem eigenen Schüler, und Sokolov dankt kurz und beobachtet, wie eine Mazurka entsteht und jede für sich bleibt, ohne dem Publikum den Gefallen zu tun, Chopin zu träumen.

Ein Zyklus Robert Schumanns bildet den Abschluss, und wenn man ihn hört, ist vollends klar, dass Sokolovs Spiel ein Schumann-Spiel ist. Es deckt die Purismen und Umbrüche in den Stücken auf, als kämen sie aus Robert Schumanns Moderne, der sie in seiner Zeitschrift für Neue Musik gerade in Worten umkreiste. Bach, Purcell, Chopin erhalten im Nachhinein eine neue Würde, es ist die unantastbare ihres Eigensinns, fern von Barock, Romantik oder sonstiger Klassik und sehr nahe den Kinderzimmern Schumanns, in denen die jungen Menschen zu Schülern werden und lauschen.

So sieht ein Sokolov-Programm aus, fürs Erste. Dann aber zieht der Meister den Vorhang zu und verschwindet für eine kleine Wanderung durch die weitere Welt. Sechs Zugaben folgen, und das Publikum gerät in Ekstase: Was spielt er da? Ist das Bach, Rachmaninow oder Skrjabin? Vergebens das Fragen, es wird nie erraten, was es zu hören bekam, es muss sich bescheiden. Sokolov hat es gehört, darauf einigt man sich, und als sich die große Gemeinde nach mehreren Stunden auf den Weg nach Hause macht, kommt ihr die Welt so vor, als habe sie allen Tand abgelegt und ihren schönsten Ernst wiedergefunden.

https://www.deutschegrammophon.com/de/kuenstler-innen/grigory-sokolov/live-termine

Literatur am Altenberger Dom

In dieser Woche freue ich mich besonders auf meine Teilnahme an dem von Karin Graf und Denis Scheck kuratierten Literaturfestival Literatur am Dom.

Gemeint ist der Dom im bergischen Altenberg, den ich schon während meiner Kinderjahre oft besucht habe.

Hier findet man das ganze Programm –

Willkommen

Ich selbst lese am Sonntag, 30.06.2024, 17 Uhr, moderiert von Denis Scheck, aus Von nahen Dingen und Menschen (Dumont Verlag)

Danach (18 Uhr), unterhalte ich mit Vincent Moissonnier, dem Besitzer des französischen Restaurants Le Moissonnier in Köln, über sein Buch Der Käse kommt vor dem Dessert (Dumont Verlag).

Später (21 Uhr) folgt eine Küchenparty mit Drei-Sterne-Koch Dieter Müller, Vincent Moissonnier und Denis Scheck!

Sommerferien 2024 – 3 – Botanical gastronomy

Eine Leserin aus München hat das Restaurant De Nieuwe Winkel in Nijmegen besucht und erforscht, was es mit der Furore machen Botanical gastronomy auf sich hat.

Die Fotos hat sie während eines festlichen Abendessens gemacht. Sie zeigen ein Risotto aus Sonnenblumenkernen mit Senfsamen und Bärlauch,  ein Brennnessel-Capriccio, „Wouters Garten“ sowie eine Rettich-Komposition.

Chefkoch Emile von der Staak verwendet kein Fleisch, sondern pflanzliche Vorgaben, die er vor allem aus einem nahen Waldgarten bezieht. Das geschlossene Gelände besteht aus vielen mehrjährigen Stauden und Bäumen, die Jahr für Jahr ein neues Angebot liefern.

In einem Video kommentieren Koch Emile van der Staak und Farmer Wouter von Eck das Konzept, das längst mehrfach ausgezeichnet worden ist und für die Zukunft vieler innovativer Küchen steht.

Damit verbunden, wünsche ich allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein vegetarisches Wochenende mit frischen Zutaten!

Sommerferien 2024 – 2

Ein Leser aus Bremen schickte mir zwei arkadisch gestimmte Fotos aus dem italienischen Süden. Sie deuten an, so schreibt er, wie man dort Spiele der EM 2024 feiert und miterlebt.

Vorher wird ein Gartenraum gerichtet, und lange Tische mit den Sitzplätzen für die Gäste stehen bereit.

Gegen 19 Uhr treffen die Gäste ein, und Platten mit vielen unterschiedlichen Antipasti werden zur Einstimmung auf den Abend serviert.

Gegen 21 Uhr beginnt das Spiel, das man sich in einem Nebenraum zusammen anschaut. In der Pause feine, kühle Getränke.

Dann die zweite Halbzeit, wieder im Nebenraum. Und nach dem Spiel, gegen 23 Uhr, die Secondi – Fisch und Fleisch, Gemüse und Käse, danach das Dessert.

Gegen 2 Uhr ist ein EM-Spiel erlebt. 1:0 für Spanien im Spiel gegen Italien. Die trotz der Niederlage erstaunlich gefassten Italiener haben mit Freunden in Deutschland telefoniert, die Karten für das Spiel hatten. „Wo seid Ihr?“ – „In Gällsenkitchen“, ist die Antwort. Haha. War ein schöner Abend, das nächste Spiel wird wieder gewonnen. Gegen Kroatien, in Liebzisch.