Ein europäisches Konzert nach zwei Wochen Krieg

Heute Abend, zwei Wochen nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine, senden viele europäische Rundfunkstationen von 20.04 Uhr bis 22.00 Uhr ein Konzert mit u.a. einer Aufnahme von Beethovens Neunter Symphonie und der Dritten Symphonie des ukrainischen Komponisten Boris Lyatoshinsky. Hier einige Details:

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-konzert/konzertplayer-klassik-beethovens-neunte-sinfonie-in-ganz-europa-100.html

Das Konzert wird eingeleitet mit Melodia von Myroslav Skoryk, hier schon einmal zu hören:

Grosses Notieren

(Heute ist in der Frankfurter Rundschau meine Besprechung des Buches von Hektor Haarkötter über „Notizzettel“ erschienen, auf das ich in diesem Blog schon mehrfach hingewiesen habe.)

Hektor Haarkötters große Studie über den Notizzettel ist ein Buch, das man auf verschiedene Weise lesen kann. Zunächst als die erste Kulturgeschichte des Notierens, von den Anfängen bis in die digitale Gegenwart. Dann als Fortsetzungsgeschichte der Praktiken großer Notierer wie Leonardo da Vinci, Georg Christoph Lichtenberg oder Ludwig Wittgenstein. Schließlich aber auch als Analyse besonderer Denkfiguren, die sich in nur scheinbar harmlos und flüchtig wirkenden Notaten abzeichnen. Solche bisher wenig gedeuteten Zeichen sind es wert, genauer erforscht zu werden, nähert man sich dabei doch Konstellationen von Kreativität, die etwas ungeahnt Eigenes haben und uns mit sehr besonderen Techniken des Schreibens vertraut machen.

Als Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg mustert Haarkötter in seinen einleitenden Kapiteln den Notizzettel als kommunikative Form. Wie kommuniziert ein Notat? Und mit wem? Erstaunt stellt der Wissenschaftler fest, dass der Notizzettel ein fast autistisches Medium ist. Wir notieren vor allem für uns selbst, indem wir einen Einfall oder einen Gedanken festhalten. Das Notat wendet sich also zunächst an niemanden „da draußen“, sondern an das Drinnen des Schreibers selbst. Hier bin ich, murmelt das Notat, Du hast mich in die Welt geworfen, jetzt mach weiter, fang etwas mit mir an!

Haarkötters Erstaunen wird aber noch größer, wenn er zugeben muss, dass wir notieren, um das Notierte abzulegen und zu vergessen und damit zum nächsten Einfall oder Gedanken überzugehen. Das Notat ist also eine meist versteckt bleibende, erregte Form des Schreibens, das nach Fortsetzung verlangt. Genau dieses Verlangen war und ist bei den großen Notierern so heftig, dass es nie gestillt werden kann. Sie schreiben und schreiben ohne geplanten Anfang und ohne Ende. Und das „Werk“, das dabei entsteht, verweigert sich auf empörende Weise den uns vertrauten Werkkategorien. Es nimmt nirgends Gestalt ein, sondern erscheint wie ein Strom oder Fluss, den keine Schleusen fassen und lenken.

Die vielen Blätter und Zettel, auf denen ununterbrochen notiert wird, wollen nämlich weder geordnet noch gegliedert werden. Sie wehren sich gegen den Abschluss, das fertige Werk und dessen Anspruch auf zeitübergreifende Gültigkeit. Als störrische Lebewesen türmen sie sich übereinander und erscheinen als aufdringlicher, ungeordneter Haufen. Was tun? Ablegen? In einen Karton werfen? Vernichten? Wir können sie künstlich kanalisieren, dann überführen wir sie in ein Notizbuch oder Notizheft, das wir typischerweise laufend mit uns herumtragen.

Leonardo, der frühste Meister des ewigen Notierens, trug ein solches Buch immer am Gürtel und notierte auf über zehntausend hinterlassenen Blättern, Zetteln oder Schnipseln alles, was er während eines Tages beobachtete: von den Kleidungen, Bewegungen und Sprachen der Menschen in den großen Städten bis zu Kochrezepten, Einkaufszetteln oder Ideen für nützliche Geräte des täglichen Gebrauchs. Sein auf Universalität angelegtes Schreiben nimmt, so isoliert die einzelnen Notate auch erscheinen, dabei durchaus Witterung auf für längere Texte, Pläne oder Projekte. Die meisten werden jedoch nicht verwirklicht, da die Notatflut ein solches Verweilen und den Blick auf eine Ausarbeitung des Gedachten nicht zulässt. Sie will sich vermehren und keineswegs angehalten und zu Projekten getrimmt werden.

Tritt ein passionierter Notierer jedoch manchmal, von den notierten Mengen erschöpft oder überbeansprucht, einen Schritt zurück, steht er vor dem Problem, sich zumindest kurzfristig einen Überblick verschaffen zu müssen. Die vielen Zettel können zum Beispiel in Kästen oder Gehäuse gesperrt und in klug konzipierten Ordnungssystemen aufgefangen werden. Der Zettelkasten verschafft dann eine halbwegs übersichtliche Reihung von einzelnen Blättern oder Karten, die später auch einzeln weiter zu Hand sind. Im Ernst?! Sollen wir sie nach einer so gezielten Einordnung wirklich wieder freilassen?

Viele große Notierer haben es gewagt und Verfahren der Bändigung des notierten Chaos entworfen. So etwa der Soziologe und Philosoph Niklas Luhmann, der seine Exzerpte auf Zettel im Oktavformat schrieb und jeden Zettel mit einer Nummer versah, die seine Ablage in bestimmten Fächern anordnete. Luhmann kommunizierte mit seinen Zettelkästen und entnahm ihnen jene Zitate, Gedanken und Überlegungen, die dann jeweils zu einem Buch zusammengestellt wurden. Das dem Verlag vorgelegte Typoskript entstand mit Hilfe von handschriftlichen Notaten, die bewegt, gesteuert und in Gedankenbahnen gelenkt wurden. Die Lesemaschine der Zettel und Kästen arbeitete für Luhmann und ließ in kurzen Abständen ein „Werk“ nach dem andern entstehen.

Ein solches Verfahren hat der Schriftsteller Arno Schmidt auf längere Erzählwerke übertragen. Sie entstanden durch eine Kombination von Zetteln, die anerzählte Fantasie- oder Gedankeninseln aufbewahren und mit dem übergeordneten Blick auf ein Erzählgeschehen verbunden wurden. Notate und Notizzettel spielen bei der der Entstehung von breit angelegten Romanen generell eine bedeutende Rolle. Sie fixieren in einer schriftstellerischen Romanwerkstatt, an Zimmerwänden postiert oder in Skizzenbüchern mit Zeichnungen und Fotografien verbunden, die einzelnen Schritte der Ausarbeitung eines sich allmählich herausbildenden Erzählzusammenhangs. Untersucht man die Verzweigungen seiner Impulse, kann man sie, forschend und nachvollziehend, als starke Beweisstücke für avancierte Kreativitätstheorien lesen.

Andere Notierer wie etwa der Philosoph Ludwig Wittgenstein haben die in Notizbüchern notierten Einfälle mit der Schere wieder in einzelne Elemente zerlegt und diese Elemente immer aufs Neue zusammengesetzt oder zusammengeklebt. So gaben sie der Macht des einzelnen Einfalls oder Gedankens nach und erlaubten ihm eine prinzipiell nie abgeschlossene Weiterbewegung. Damit war die extremste Form des großen Notierens geboren: das fortgesetzte Experiment einer avantgardistischen Unruhe, das die Notate nicht sterben lässt, sondern in laufend neuen Konstellationen in Bewegung hält.

Hektor Haarkötter präsentiert in seiner Studie viele solcher Enthusiasten der explosiven oder auch meditativen Kunst, das Fragment eines Zettels so zu platzieren, dass es weitere Fragmente anzieht und sich bis ins erhoffte Unendliche vervielfacht. Sein Buch ist daher weit mehr als eine kulturhistorische Wanderung durch die Geschichte des Notierens. Indem er die einzelnen Quellen und Beispiele aufmerksam und nachdenklich analysiert, geht er Spuren und Wegen des inneren Assoziierens, Begreifens und Denkens nach und nähert sich den sonst meist im Dunkeln bleibenden Szenen des kreativen Erlebens und Gestaltens.

So gelesen ist „Notizzettel“ in der Tat, wie der Untertitel verheißt, ein Buch über „Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert“, das uns in seinen theoriegesättigten Kapiteln immer aufs Neue mit der zentralen Frage danach konfrontiert, was wir eigentlich tun, wenn wir notieren und skizzieren. Im digitalen Zeitalter feiern diese Künste eine erstaunliche Auferstehung, denn in der alten, handschriftlichen Form behaupten sie sich massiv gegenüber allen Zumutungen der Versendung. „Das Internet ist kein privates Medium“, resümiert Haarkötter und reißt damit noch ein letztes Mal den Vorhang auf für das intime und private Notieren, das ganz bei sich bleiben und nirgends hingesendet werden will.

Hektor Haarkötter: Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert. S. Fischer Verlag 2021

Frau im Dunkeln

Heute ist Weltfrauentag. Dazu fällt mir eine Meldung ein, die ich am vergangenen Wochenende las: Frau im Dunkeln, ein Film von Maggie Gyllenhaal, hat bei den Spirit Awards in Hollywood die höchsten Auszeichnungen (bester Film/ bestes Drehbuch) erhalten. Auch für den Oscar, der ebenfalls bald verliehen wird, ist dieser Film nominiert.

Er beruht auf einem Roman der italienischen Schriftstellerin Elena Ferrante, der im Suhrkamp-Verlag erschienen ist (aus dem Italienischen von Anja Nattefort).

Maggie Gyllenhaal kommentierte ihren Film so: „Mein Film spricht eine ungewöhnliche Sprache – es ist die Sprache der Gedanken von Frauen.“

Hier der offizielle Trailer des Films, der in voller Länge bei Netflix zu sehen ist:

Ein Gedicht in dieser Zeit

In der Frankfurter Anthologie der FAZ vom Wochenende (5.3.2022) hat der Literaturkritiker und Essayist Ulrich Greiner über ein Gedicht der Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz (Eines Tages) nachgedacht.

Greiner gelingt es, dieses Gedicht, das in den Jahren des Zweiten Weltkriegs entstanden ist, auf vorsichtige und doch einleuchtende Weise zu aktualisieren. Er vertieft sich zunächst in seine Zeilen, legt sie aus und stellt dann in wenigen Schritten die Verbindung zu Atmosphären der Gegenwart her.

Sein Nachdenken klingt aus im Blick auf die Schriftstellerin und ihr Werk (1901-1974) und mündet im Hinweis auf ihren späten Prosaband Orte, der auch in meinen Augen einer der schönsten Prosabände der letzten Jahrzehnte ist.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurter-anthologie-ulrich-greiner-ueber-ein-gedicht-von-marie-luise-kaschnitz-17852309.html

Einladung der Leserinnen und Leser

Gestern habe ich ungewöhnlich viele Reaktionen und Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern dieses Blogs auf die Moderation meiner Musiksendung im Klassik Forum des WDR 3 erhalten, die auch heute noch abrufbar ist:

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-klassik-forum/klassikforum-maerz-266~_mon-032022_tag-05032022.html

Dafür großen Dank! Einige Hörerinnen und Hörer  haben auch gefragt, ob ich zusammen mit WDR 3 weitere solcher Sendungen plane. Ja, tue ich! Wobei mir gleich der Gedanke kam, bei den Hörerinnen und Hörern nachzufragen, welche Musikstücke sie für weitere Sendungen vorschlagen würden. Worüber soll ich sprechen? Alle Genres sind möglich…

Vorschläge bitte an diese Mailadresse: ortheil.hannsjosef@gmail.com

 

Ortheils Musik in WDR 3

Morgen, Samstag (5.03.2022), sendet WDR 3 meine Moderation der Sendung „Klassik Forum“, von 9.05 Uhr bis 12.00 Uhr.

Dabei stelle ich Musikstücke vor, die in meinem Leben eine besondere Rolle gespielt haben. Die meisten habe ich als junger Pianist selbst geübt und gespielt, andere haben sich mir tief eingeprägt, weil sie in sehr besonderen Situationen mit Menschen in meiner Nähe zu tun hatten.

Sie waren also immer auch mit Orten und Lebensszenen verknüpft. Daher werde ich nicht nur von den Stücken, sondern manchmal auch von den jeweiligen Räumen, Zeiten. Zuhörerinnen und Zuhörern erzählen, die mit den Kompositionen verbunden waren.

Weitere Informationen sowie die Playlist finden Sie, liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, denen ich die Sendung besonders empfehle, hier (wo Sie die Sendung auch abrufen können):

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-klassik-forum/klassikforum-maerz-266~_mon-032022_tag-05032022.html

 

DakhaBrakha aus der Ukraine

Eine Blog-Leserin aus San Francisco hat mich auf die ukrainische Gruppe DakhaBrakha aufmerksam gemacht, deren Konzerte sie in den USA bereits erleben durfte.

Wie ich recherchieren konnte, meint der Name „Geben“ und „Nehmen“ und spielt darauf an, dass die Gruppe ukrainische Volksmusik spielt und sie mit der Musik jener Räume verbindet, in denen sie auftritt.

Was für ein wunderbarer Einfall: die eigene Heimat (die Gruppe kommt aus Kiew) mit der Weite der Welt in Kontakt zu bringen!

Ich leite den Hinweis der Leserin gerne weiter und bedanke mich!

Putins Krieg 2

Der Krieg in der Ukraine beherrscht die Gedanken ununterbrochen. Frage mich laufend, wie „angemessene Reaktionen“ auch im privaten, im Grunde hilflosen Bereich aussehen könnten.

Die Unbekümmertheit früherer Tage ist vollständig dahin und einer steten Selbstbefragung gewichen: Was weiß ich denn über die Ukraine? Was genau ist seit den 90er Jahren dort geschehen?

Meine seit Tagen anhaltenden „Recherchen“ (Bücher, Filme, Bilder) machen auf mich den unangenehmen Eindruck einer fragwürdigen „Wiedergutmachung“, als wäre mein Nichtwissen eine Art Schuld.

So gesehen, haben die „Recherchen“ etwas von gezielter „Ablenkung“: Als wollte ich auf dem Umweg über nachgeholtes Wissen die momentan täglich in den Medien zu verfolgenden dramatischen Bilder „ruhig stellen“. Was sich natürlich als unmöglich erweist…

Meine Kölner Freundinnen und Freunde schickten mir die Titelseite des Kölner Stadt-Anzeigers mit dem Foto der 250 000 Menschen, die an der Kölner Großdemonstration teilnahmen.

Die Verwandlung eines Rosenmontagszugs in eine politische Demonstration – das war in Köln kein leichtes Projekt, wenn man sich die Trinkwilligkeit und den unbedingten Amüsierwillen vieler Kölnerinnen und Kölner gerade an diesem Tag in Erinnerung ruft. Ich hatte daher Bedenken, ob alles „gutgehen“ würde.

Meine Freundinnen und Freunde erzählten mir: Es war ein sehr „angemessen“ ruhiger Umzug, keine Trinkgelage an den Rändern, überhaupt keine falschen Töne, Gesänge, Texte. Worauf ich als Kölner (im Stillen) stolz war…, ohne dass dieser bequeme Stolz nun wirklich weiter geholfen hätte.

Was bleibt? Recherchieren, weiter recherchieren…

Ukrainische Lektionen

2015 widmet sich der Osteuropa- und Russland-Experte Karl Schlögel in einem Buch der Ukraine: „Ich musste feststellen, dass man sich ein Leben lang mit dem östlichen Europa, mit Russland und der Sowjetunion beschäftigen konnte, ohne eine genauere Kenntnis von der Ukraine zu besitzen – und ich war nicht der einzige im Fach, der zu dieser Einsicht kam.“

Er reist nach Lemberg und Kiew, nach Odessa, Charkiw, Dnipropetrowsk, Donezk und Czernowitz, dort entstehen Städteporträts, die er zum einen aus eigener Anschauung, zum anderen aber auch durch seine bewährte Methode, Topographien von Städten historisch zu lesen, gewinnt.

So entsteht Schlögels Buch Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen (Tb im  S. Fischer-Verlag), das in diesen Kriegstagen helfen könnte, die Sicht auf die Ukraine zu vertiefen. Eines der einleitenden Kapitel weist die Richtung: Sich ein Bild machen. Die Ukraine entdecken…

Das große Tor von Kiew

In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts schaut sich der russische Komponist Modest Mussorgskij (1839-1881) Bilder einer Ausstellung seines Malerfreundes Viktor Hartmann (1834-1873) an. Darunter befindet sich auch der architektonische Entwurf eines Stadttores von Kiew:

Mussorgskij komponiert danach eine aus zehn Sätzen bestehende Klaviermusik, die wie ein Rundgang durch diese Ausstellung angelegt ist und später von anderen Komponisten auch orchestriert wird.

Die Nummer X ist Das große Tor von Kiew, deren Interpretation durch Katja Buniatishvili ich aus gegebenem Anlasss in meinen heutigen sonntäglichen Blogeintrag stelle: