Die Sprachen des Parlaments

(Am 3.2.2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Neulich haben zwei Autorinnen und ein Autor vorgeschlagen, die Stelle einer Parlamentspoetin oder eines Parlamentspoeten einzurichten. Katrin Göring-Eckardt, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, hat darauf mit einiger Begeisterung reagiert und versprochen, die Idee im Präsidium einzubringen. Wie zu erwarten, hagelte es hier und da zunächst einmal Spott und Kritik. Soll sich die Literatur der Politik andienen? Brauchen wir dichtende Hofnarren und Gedichte über die Impfpflicht? Und wer wählt die in Frage kommenden Personen aus?

Es hat mich nicht erstaunt, dass die Idee unter meinen Kölner Freunden dagegen sofort breite Zustimmung fand. Den Alltag in gute Songs und Lieder zu verwandeln, ist eine urkölsche Fähigkeit, die Kinder schon in den Schuljahren beherrschen. Das hat weder etwas Steifes noch Künstliches, solche Poesie entsteht fast von selbst. Sie muss auch nicht unbedingt von lauter Komik oder sattem Humor getränkt sein, nein, manchmal gelingt sie auch durch schlichte Beobachtung von Menschen und ihren Verhaltensformen. Die Wirkung einer solchen Literatur besteht vor allem darin, die Welt aus der Distanz zu porträtieren, ihr das umtriebige Getue zu nehmen und die Dinge aus unerwarteten Blickwinkeln zu betrachten. Das kann befreiend, erleichternd oder sogar wohltuend wirken.

Dass man den Bundestag mit seinen Redebeiträgen allein und in rhetorischer Quarantäne belässt, ist nicht einzusehen. Man sollte sich daran erinnern, dass die politische Rede im Alten Griechenland eine Aufgabe war, die von Meistern der Rhetorik durchdacht und in Szene gesetzt wurde. Elegantes und wirkungsreiches Sprechen waren Themen einer Schulung bis hin zu den feinsten Verästelungen von Wortwahl, Stil und Ausdruck. Auch das frühe Nachdenken über dichterische Praxis orientierte sich zunächst an der Rhetorik, als einer Kunst der bilderreichen und klangvollen Rede.

Die deutschsprachige Literatur verfügt über viele unterschiedliche Temperamente aller Altersgruppen, sich solchen Aufgaben zu stellen. Lässt man denen, die dazu bereit wären, die notwendigen Freiheiten, könnte das zu Ergebnissen führen, die man auf jeden Fall länger in Erinnerung behält als die rhetorischen Floskeln der Trockenbaureden. Eine gerade in Deutschland drohende Gefahr bestünde höchstens darin, auch ein solches Virtuosität erforderndes Schreiben in ein „Amt“ zu verwandeln und es am Ende noch mit einem Büro und Sekretariat auszustatten. Dichtung als Büroarbeit mit Aktenordnern?! Bitte nicht!

Vorstellen kann ich mir stattdessen, dass man ein Duo von Autorin und Autor für einen zeitlich begrenzten Zeitraum von etwa vier Monaten einlädt, sich zu den politischen Themen des Parlaments in jeder nur denkbaren Form (Lyrik, Sketch, Erzählung, Artikel etc.) zu äußern. Diese Texte sollten genau dort Gehör finden, wo sonst die oft staubtrockenen Reden gehalten werden. Das würde zu einer möglichen Annäherung von Parlament, Literatur und Kultur und damit von Lagern beitragen, die seit langem nicht miteinander umzugehen wissen.

Ich erinnere mich gut daran, dass sich der wunderbare Roger Willemsen einmal ein ganzes Jahr Zeit genommen hat, an den Sitzungen des Parlaments als aufmerksamer Beobachter teilzunehmen. Was er wahrnahm und erlebte, verwandelte er in ein Buch: Das Hohe Haus. Willemsen blieb die ganze Zeit auf Distanz, er mischte sich nicht unter die Rednerinnen und Redner, sondern saß wie ein Stoiker auf der Zuschauertribüne. Auf den ersten Seiten seines Buches verfolgt er einleitend am Fernsehen die Neujahrsansprache der Kanzlerin: „Herrschen? Sie spricht. Was für ein Redetyp ist dies? Eine Ansprache? Eine Gardinenpredigt? Ein Märchen? Warum nicht? In früheren Jahrhunderten hat man gepredigt…“

Ach, es ist so einfach, die richtigen Fragen zu stellen. Willemsen konnte es brillant, viele andere nach ihm werden es auch können. Und meine Kölner Freunde werden endlich wieder mehr zu lachen haben.

Der Sportfetischist

Am Freitag werden die Olympischen Winterspiele in Peking eröffnet! Längst sind die Sportfetischisten unterwegs und bereiten sich vor. Ich widme Ihnen eine „Charakter“-Studie in der Manier von Theophrasts „Charakteren“:

Schon als Kind suchte der Sportfetischist den Sport überall. Er lief mit anderen Kindern um die Wette, warf Steine weiter als sie, war ihnen auch beim Schwimmen voraus und kletterte am höchsten auf einen Baum.

Alle nur möglichen Bewegungen verwandelte er in Sport und erfand Wettbewerbe, in deren Verlauf man sich messen konnte. Citius, altius, fortius (schneller, höher, stärker) war nicht nur ein Motto der Olympischen Spiele, sondern auch die Devise, der sich der Sportfetischist mit Haut und Haar verschrieben hatte.

Waren gerade mal keine Konkurrenten zur Stelle, trat er gegen sich selbst an. Er gab sich mehrere Namen und startete einfach drauflos, mal geschickter, mal unbeholfener und gebremster.

Während er aktiv unterwegs war, kommentierte er seinen Sport wie ein Reporter, der aus jedem Wettbewerb eine spannende Geschichte machte.

„Peter K. leidet noch unter Prellungen am Fuss“, sagte er und schaute nach, ob er etwas in der Art einer Prellung an seinem rechten Fuss entdecken konnte. „Jürgen F. konnte in den letzten Wochen wegen einer starken Grippe nur wenig trainieren“, flüsterte er und schnupfte in ein Taschentuch, bevor er Jürgen F. auf eine Laufbahn schickte.

Anregungen erhielt er durch Sportsendungen im Fernsehen, von denen er kaum eine ausließ. Beinahe jede animierte ihn, es den Athleten nach zu tun, nur bei riskanteren Sportarten passte er. Turmspringen kam nicht in Frage, Boxen auch nicht, einige Turnsportarten musste er vernachlässigen, weil er nicht die passenden Turngeräte auftreiben konnte.

Unter den Sportlern, die er bei Wettbewerben verfolgte, hatte er jedes Mal einen Favoriten. Er informierte sich über ihr Leben und wusste genau, wo und wann sie mit welchen Trainern und in welchen Vereinen den Sport entdeckt hatten.

Solche Informationen baute er in seine Kommentare ein, wenn er bestimmte Phasen von Wettbewerben im Fernsehen noch einmal nachspielte. Dann war er selbst Daniil Medvedev und gewann ein Match beinahe mühelos, das Medvedev kurz zuvor noch verloren hatte. Oder er war Thomas Müller und schoss das entscheidende Tor in einer wichtigen Partie, das Thomas Müller gerade eben nicht geschossen hatte.

Der Sportfetischist hat fest vor, irgendwann ein Buch über sein Sportlerdasein zu schreiben. Einen Titel hat er schon: „Mein Goldmedaillen-Leben“.

Franz Schuberts Geburtstag

Heute Morgen erinnerte mich der Pianist Christoph Ullrich daran, dass vor zweihundertfünfundzwanzig Jahren Franz Schubert in Wien geboren wurde.

Und ich wiederum erinnerte mich an das Schubert-Buch meines Schriftstellerfreundes Hans-Jürgen Fröhlich, dessen Lektüre ich empfehle: Schubert. Eine Biographie

Clara Haskil spielt Scarlatti

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich einen schönen Sonntag, verbunden mit einem Hinweis auf eine ARTE-Dokumentation über die wunderbare Pianistin Clara Haskil

https://www.arte.tv/de/videos/063669-000-A/clara-haskil-der-zauber-der-interpretation/

und ergänzt durch eine Aufnahme ihres Spiels –

 

Die Einsamkeit des Tennisspielers

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers war der Titel eines britischen Spielfilms von 1962, an den ich mich gut erinnere. Er untersuchte die psychischen Probleme und Schwankungen eines Sportlers in Training und Wettbewerb und brachte dem Publikum solche Seiten des Sports auf beeindruckende Weise näher.

Von der Einsamkeit eines Tennisspielers hat nach der unerwarteten Niederlage von Alexander Zverev bei den Australian Open ein Sportkommentator in der SZ geschrieben und eine Verbindung zu Open, den Erinnerungen von André Agassi an seine Tennisjahre, hergestellt.

Agassi hatte in diesem Buch eine Selbstbeobachtung mitgeteilt: Als Spieler sei er während einer Partie körperlich und psychisch extrem allein. Den Gegner kontaktiere man nicht, ja, man spreche mit ihm nicht einmal ein Wort. Auf dem Platz sei man völlig isoliert, mit niemandem in näherem Kontakt.

Wie eine Spielerin oder ein Spieler mit dieser Isolation in einem meist relativ langen Spielverlauf umgehen –  das zu verfolgen, macht ein Spiel für das Publikum so enorm spannend und interessant.

Manche Spielerinnen/Spieler halten zumindest Blickkontakt mit Trainer, Freunden, Bekannten oder der Familie, die sich in der Coaching-Zone versammelt haben. Blicke gehen hin und her, Aufmunterungen sind zu hören, Applaus und Anfeuerungen. Andere vermeiden selbst diesen Kontakt und konzentrieren sich ausschließlich auf den Platz und seine heißen oder kalten Zonen.

Am kommenden Wochenende (29.01., 9.30 Uhr, Fraueneinzel/ 30.01., 9.30 Uhr, Herreneinzel) finden die Finalspiele der diesjährigen Australian Open statt. Ich bin gespannt…

Tanzen?!

Ach. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal getanzt? Nicht kurz und nur wenige Schritte, sondern eine Stunde und mehr? Wann war das? Auf jeden Fall in Zeiten vor der Pandemie, es wird also mindestens zwei Jahre her sein.

Zwei Jahre nicht getanzt! Zwei Jahre nur gesessen, gegangen, gelaufen…, aber eben nicht getanzt! Vielleicht braucht es inzwischen etwas Animation…, und vielleicht bescheren Sylvia Camarda und Claire Chen auf ARTE genau das…

Jeux de Création

Es ist einer dieser schönen, sonnigen Wintertage, an denen die Sonne den Horizont schon am frühen Morgen aufreisst und splittet. Der Raureif auf den Wiesen glänzt wie ein Perlenteppich, der Garten starrt still, die Sträucher fangen das Licht ein, und die Bäume umkreisen Ideen für den Vorfrühling.

Welche Musik fängt genau dieses Geschehen ein? Zum Beispiel die Einspielungen der Harfenistin Anne-Sophie Bertrand auf ihrer neuen CD Jeux de Création.

Hier eines der Stücke: Jeux d’eau von Maurice Ravel…

Die Auslöfflerin

Die Charaktere des griechischen Dichters Theophrast sind schon seit langem eine meiner Lieblingslektüren. In ihnen wurden zum ersten Mal in der europäischen Literatur einzelne Typen des sozialen Lebens genau beobachtet und „charakterisiert“.

Ich folge Theophrast manchmal und schreibe Erzählungen , die sich an seine Manier anlehnen:

Die Auslöfflerin

Sie kocht gerne und lädt ihre Freundinnen einmal in der Woche zum Essen. Schon die Vorbereitungen der Mahlzeiten machen ihr Spaß: Das Einkaufen auf dem Markt, die Gespräche mit den Verkäufern über die Herkunft der Waren, die Unterhaltungen über Rezepte und Gerichte.

Sie besitzt eine beträchtliche Sammlung von Kochbüchern, für jede geliebte Region mindestens eines. Rheingau, Südtirol, Graubünden und Burgund sind die Favoriten, deren Gerichte sie um die passenden Weine ergänzt.

In der Küche legt sie die Zutaten in Reih und Glied längs und quer aus und mustert sie lange vor den ersten Kochaktionen.

Sie lässt eine Musik laufen, die zu den Gerichten passt und sie animiert. Die Klänge haben einen Bezug zur jeweiligen Region und komplettieren das angestrebte Fest für alle Sinne um das Hören.

Bevor sie mit dem Kochen beginnt, macht sie Fotografien der ausgelegten Waren, sie drapiert Gemüse und Obst zu kunstvollen Stillleben und verleiht den Fischen einen besonderen Glanz durch Licht aus den Strahlern der Decke. Hühner, Enten und Gänse erhalten jeweils ein großes Silbertablett für den Schlummer vor ihrer Zubereitung.

Sie summt leise vor sich hin und wird etwas lauter, als sie die Schrankfächer öffnet und das Küchenbesteck herausholt. Während der Kochvorgänge spielt es eine herausragende Rolle, und wer sie heimlich beobachten würde, könnte glauben, dass es sogar die Hauptrolle spielt.

Jedenfalls ist sie in bestimmte Werkzeuge (wie etwa Grillpinzetten, Pfannenwender oder Küchenzangen) verliebt und sorgt dafür, dass jedes einen eigenen Auftritt erhält. „Jetzt kommst Du dran“, flüstert sie lüstern und spickt eine Kartoffel sanft mit der Kartoffelgabel auf, bevor sie mit dem Spatel ein Pfannengericht lüftet.

Wenn die Freundinnen erscheinen, ist alles auf die Minute präpariert, und es gibt Vorspeise, Hauptgang und Dessert. Nicht zu viel, sondern jedes Mal etwas anderes.

Während der Mahlzeit hält sie sich mit dem Essen zurück. Sie hat zuvor häufig gekostet und längst keinen Appetit mehr. Die Freundinnen wissen Bescheid und sprechen sie darauf nicht an.

Statt zu essen, trinkt sie recht viel, drei oder auch vier Gläser Wein und eine ganze Flasche Wasser fast allein.

Ist die Mahlzeit beendet, verabschiedet sie sich für eine halbe Stunde. „Tut mir leid, meine Lieben“, sagt sie jedes Mal, „ich möchte kurz aufräumen, gleich bin ich wieder bei Euch.“

In der Küche räumt sie aber keinen Moment auf. Sie schaut vielmehr tief in die Töpfe, Kessel und Schüsseln und taucht einen kleinen Senflöffel in die Restsubstanzen der übrig gebliebenen Saucen.

Sie löffelt sie aus, geduldig und passioniert. „Das ist einfach das Beste“, flüstert sie und gibt den Saucen gut klingende Namen.

Als sie die Küche verlässt und zu den Freundinnen zurückkehrt, fühlt sie sich wunderbar gesättigt. „Ah, wie gut!“ sagt sie leise und fährt mit der Zunge noch einmal über die schmalen Lippen, die sie gerade mit den Wundern des späten, vollendeten Genusses bekannt gemacht hat.

Franz Grillparzer

Heute vor einhundertfünfzig Jahren ist in Wien der Schriftsteller Franz Grillparzer (1791-1872) gestorben. Er war ein Freund Ludwig van Beethovens, porträtierte ihn in einem berühmt gewordenen Erinnerungstext und schrieb die Trauerrede, die bei der Beisetzung Beethovens in Wien durch einen Schauspieler vorgetragen wurde.

Grillparzer beschäftigt mich, weil er in seinen privaten Aufzeichnungen (Tagebüchern etc.) sehr grundsätzlich über die Nähe von Musik und Literatur nachgedacht hat.

Diese Gedanken sind in seine bekannteste Erzählung Der arme Spielmann eingegangen, die ich anlässlich seines Todestags noch einmal lesen und hören werde.

http://www.digbib.org/Franz_Grillparzer_1791/Der_arme_Spielmann_.pdf