Glücklich oder unglücklich?

War es eine glückliche oder unglückliche Kindheit, die Hanns-Josef Ortheil als klavierspielender junger Pianist früher erlebte? – fragt die Moderatorin von rbb den Rezensenten meines Buches, den Literaturkritiker Jörg Magenau. Und der antwortet subtil, schwungvoll und mit hörbarem Enthusiasmus, noch angesteckt von den freudigen Leseerfahrungen zweier Tage … Die im hellen Tonfall seiner Antworten nachklingen …

Nachhören kann man das Gespräch hier:

https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/rbbkultur_am_morgen/archiv/20190527_0605/lesestoff_0830.html

 

Mohn

Der grüne, raue Stängel balanciert die schwebendrote Blütenkomposition. Mehrere schwere Gewänder öffnen sich verschwenderisch wie zur Preisgabe eines dunklen, erotischen Geheimnisses. Die Heerschar der Staubblätter umkreist eine Kapsel, die im Laufe der Tage fester werden und schließlich die gelagerten und gereiften Samen ausscheiden wird. Zuvor erscheint das alles aber noch so, als öffnete sich eine leicht parfümierte Hand mit mehreren roten Fingern und biete wie ein kleiner Teller starke, schwarze Narkotika mit feinsten Weißschaumakzenten an. (Die Musik dazu ist übrigens spanisch …)

Einladung nach Hildesheim

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim (dessen Gründungsdirektor ich bin) lädt am Freitag, den 14. Juni 2019 (abends), und Samstag, den 15. Juni 2019 (nachmittags und abends), zur Feier des zwanzigjährigen Jubiläums des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus auf den schönsten Universitätscampus Deutschlands, die mittelalterliche Domäne Marienburg (siehe Foto unten).

Sollten Sie teilnehmen wollen, erleben Sie Lesungen und Gespräche mit dem in den letzten Jahren ausgebildeten literarischen Nachwuchs, der bereits mit eigenen Veröffentlichungen in überregionalen Verlagen breite Bekanntheit erlangt hat. Alle Informationen zum Großen Fest finden Sie unter:

https://www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/am-puls-der-zeit-zwanzig-jahre-kreatives-schreiben/

Kommen Sie im Laufe des Freitags, erleben Sie abends die Eröffnungsveranstaltung in der Literaturkirche St. Jacobi im Herzen Hildesheims und bleiben zwei Nächte. Kommen Sie samstags, erleben Sie ab ca. 14 Uhr ein Fest, wie es noch kein vergleichbares gegeben hat, und bleiben dann über Nacht. Dazwischen und daneben erkunden Sie das mittelalterliche Hildesheim, mit seinem Dom, der romanischen Kirche St. Michaelis und dem Museum altägyptischer Kunst. All das lohnt sich sehr, als Anregung und Stärkung für lange Zeit!

Worüber ich mit Mariana Leky und Arnold Stadler gesprochen habe

Im Rahmen der 18. Westerwälder Literaturtage habe ich (wie an den letzten Tagen gemeldet) mit Mariana Leky und Arnold Stadler über das Thema Heimat/en gesprochen. Welche Unterscheidungen haben wir dabei getroffen?

Begonnen haben wir mit der „ersten Heimat“ – mit dem Dorf oder dem Viertel einer Stadt, in dem wir groß geworden sind. (Literarisch betrachtet, handelt es sich um „Dorfgeschichten“). Die „erste Heimat“ ist der prägende Raum der frühsten Begegnungen, in deren Verlauf die für unser ganzes Leben zentral und bestimmend werdenden Menschen und Dinge ins Spiel kommen. Wir lernen, den uns umgebenden Raum nicht nur zu benennen, sondern auch zu empfinden. Seine Gerüche, Farben, Wärmegrade und Klänge, seine Speisen und Getränke begleiten uns ein Leben lang.

(Im Alter kann es daher passieren, dass wir uns nach dieser „ersten Heimat“ zurücksehnen. Wir spüren „Heimweh“, die „erste Heimat“ ist dann unsere „alte Heimat“, die wir im Extremfall sogar wieder aufsuchen oder in der wir uns endgültig niederlassen.)

Irgendwann, meist in der späten Pubertät, zieht es uns in die „zweite Heimat“. (Literarisch betrachtet, handelt es sich um eine Aufbruchsgeschichte.) Sie ist uns nicht gegeben (wie die „erste“) – wir müssen sie vielmehr erst herstellen. Dazu gehört, dass wir die Besonderheiten eines „anderen Lebens“ (in einiger Entfernung von der „ersten Heimat“) verstehen und auf sie reagieren. Sich „zu beheimaten“ ist ein kultureller Akt, der von uns verlangt, die erste Heimat der frühsten Zeit mit einer „anderen Heimat“ neuer Zeitrechnung zu verbinden.

Treibt es uns noch weiter hinaus, reisen wir in die „ferne Heimat“. (Literarisch betrachtet, handelt es sich um die Geschichte der „Weltreise“). Sie liegt nicht mehr nebenan, sondern in einem Jenseits oder Irgendwo, zu dem wir vorher noch nie eine Verbindung spürten. Wir überqueren Flüsse und Meere, wir streben in andere Kontinente, die „erste Heimat“ gerät beinahe ganz aus dem Blick.

Ignorieren wir die „ferne Heimat“, könnte stattdessen auch der europäische Raum für uns zu einem größeren Ganzen werden. (Literarisch betrachtet, handelt es sich um die Geschichte der „nahen, benachbarten Fremde“). Mit der Empfindung von „Europa als Heimat“ treffen wir auf das historische Neben- und Miteinander der unterschiedlichen europäischen Kulturen, die seit Jahrtausenden eng miteinander verbunden sind. Vielleicht pendeln wir zwischen unserem Heimatland und den Nachbarländern hin und her, oder wir machen Urlaub im Norden oder im Süden – in fast allen Fällen erleben wir die anderen Welten eng bezogen auf unsere eigenen: im Vergleich von Nähe und Ferne oder in der bewusst empfundenen Andersartigkeit.

Von hier aus wächst das Verständnis für all die, die nun wiederum von anderen Ländern zu uns kommen. (Literarisch betrachtet, handelt es sich um Geschichten der Flucht oder des Exils). Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Vertriebenen, dann die sogenannten „Gastarbeiter“, jetzt sind es Flüchtlinge und Hilfesuchende. Indem wir ihnen begegnen und auf sie zugehen, bewährt sich unser in der weiten Fremde geschulter Sinn: Jetzt sehen wir „die anderen“ bei uns „ankommen“, um eine „neue Heimat“ zu finden und sie mit unserer Hilfe zu gestalten.

Schließlich der „globale Raum“. (Literarisch betrachtet, handelt es sich um Geschichten des kosmonautischen Blicks.) Von ihm haben wir zuerst etwas in den Tagen der ersten Mondlandung (1969) mehr erfahren. Da sahen wir unseren Globus durch das Fenster einer Rakete, sein verlorenes Treiben im dunklen All, seine Schönheit und Ungeschütztheit. Plötzlich war das Ganze unserer Raumfluchten erkennbar: Eine blaue Seifenblase im Universum, dem „umfassend Ganzen“. Es war kein Zufall, dass sich damals der Club of Rome zum ersten Mal meldete und uns daran erinnerte, was wir der Schönheit und Unversehrtheit der Erde schuldeten: Unseren aktiven Einsatz, die Ausdehnung unseres entwickelten Heimatbewusstseins auf den ganzen Planeten.

Die Wunder der Musik

Mit Mascha Drost (Deutschlandfunk Kultur) habe ich ein sehr schönes Gespräch über mein neues Buch „Wie ich Klavierspielen lernte“ (Insel-Verlag) geführt:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/hanns-josef-ortheil-wie-ich-klavierspielen-lernte-das.2177.de.html?dram:article_id=449921

Man sollte das Buch lesen und gleichzeitig die Musikstücke einspielen, von denen die Rede ist – das wäre meine zusätzliche Empfehlung.

Der letzte Tag

(Gestern auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“)

Herbert schaut auf die Uhr, noch eine halbe Stunde. Die Schubladen des Schreibtischs sind längst geleert, und auch auf den Regalen steht kein einziger Gegenstand mehr. Am nächsten Tag wird man Schreibtisch und Regale entfernen und die Wände frisch streichen, nichts wird noch an ihn erinnern. Seine langjährige Mitarbeiterin ist heute krank, wahrscheinlich wollte sie vermeiden, seinen Abschied mit erleben zu müssen. Krüger, der Abteilungsleiter, ist auf Dienstreise und hat ihm am Morgen per Handy „ein entspanntes Leben als zufriedener Rentner“ gewünscht. Herbert könnte ein paar Schritte durch die Firma machen, was aber merkwürdig aussehen würde, melancholisch und vielleicht sogar etwas pathetisch.

Im Grunde hat er auch nichts mehr zu sagen, in all den Jahrzehnten, in denen er in diesen Räumen gearbeitet hat, ist seine Lust, sich mit den anderen Mitarbeitern zu unterhalten, immer geringer geworden. Er spürte, dass sie ihm seinen baldigen Abgang ansahen und ihn längst nicht mehr in ihre Initiativen einbezogen. Der neue Mann, der sich schon vor Wochen vorgestellt hatte und in wenigen Tagen in seinem Büro sitzen würde, ist stattdessen bereits von allen Seiten kontaktiert worden, es hieß, dass man mit ihm „große Hoffnungen für die Zukunft“ verband, als hätte man genau diese Hoffnungen im Blick auf ihn, Herbert, längst begraben.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sich in seinem Büro wohlgefühlt und sich morgens auf das Betreten gefreut hatte. Zuletzt aber hatte ihn dort ein richtiges Unwohlsein befallen. Das also war sein Leben gewesen, diese ewigen kleinen Erledigungen Tag für Tag, Korrekturen, Verschiebebahnhöfe. Emsig und gründlich war er gewesen, genau deshalb aber hatten ihn viele belächelt.

Er steht auf, nimmt den Mantel aus dem Schrank und greift nach der Aktentasche, dann öffnet er die Tür, zieht sie leise hinter sich zu und geht den Gang noch einmal entlang. Hätte man ihm nicht zumindest ein paar Blumen … – oder eine Flasche Wein … – oder …? Nicht mehr daran denken! Fast geräuschlos erreicht er das Foyer. „Machen Sie’s gut“, ruft ihm die nette Frau in der Portiersloge nach. Er lächelt kurz: „Danke, ich werde mir Mühe geben!“

Endlich steht er draußen auf der Straße, vor dem mächtigen Gebäude, das er nie mehr betreten wird. Er atmet durch und macht einige Schritte. „Nicht zu fassen“, flüstert er zweimal. Er dreht sich nicht mehr um, sondern macht sich sofort auf den Weg nach Hause. Als er um die Ecke biegt, beginnt er plötzlich zu pfeifen. Dann hört man ihn lachen, unvermutet und beinahe kindisch. Das Theater ist endgültig vorbei, er wird sich nach neuen, passenderen Rollen umschauen.

Zurück zur Musik

Vor wenigen Tagen ist mein neues Buch Wie ich Klavierspielen lernte im Insel-Verlag erschienen. Es besteht aus zwei durchlaufenden Erzählungen, die sich überschneiden: Die eine  berichtet von den Lehrjahren am Klavier, meinen Lehrerinnen und Lehrern, deren Methoden, den ersten Konzerten und Auftritten und dem Leben großer Pianisten. Die zweite widmet sich meinen gegenwärtigen Versuchen, wieder zum Klavierspiel zurückzufinden und damit von meinem Üben, Lesen und den Beobachtungen zur aktuellen Pianistenszene. Kreist die erste um ein unerwartetes Scheitern, so entwickelt die zweite eine neue Freude am Spielen, Hören und Musikerleben.

Diese Freude zeigt sich auch dann, wenn ich die kleinen Auftritte auf unseren Straßen und Plätzen verfolge. Ich möchte wieder stärker zurück zur Musik. Nicht unbedingt als (öffentlich) Spielender, aber doch als Übender, der von seinem Üben erzählt und darüber, was er an Musik jeder Art entdeckt.

Für den Herbst plane ich bereits eine monatliche Reihe von Ortheils Abendmusiken, die in meinem ländlichen Heimatort Wissen/Sieg stattfinden werden. Dazu werde ich noch rechtzeitig einladen. Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele Zuhörerinnen und Zuhörer von nah (aber auch von fern!) erscheinen. Genauere Angaben folgen bald …