Einsamkeiten

Häufig habe ich in meinen Blogeinträgen während und nach der Pandemie daran erinnert, dass die psychischen Folgen der Erkrankungen und die der Isolation zu wenig beachtet werden. Erst jetzt werden viele Beobachter von wissenschaftlicher, kultureller und sozialer Seite aufmerksamer für solche schmerzhaften Phänomene – wie etwa Einsamkeit.

Das Familienministerium unter Leitung von Ministerin Lisa Paus hat sich dieser Themen endlich angenommen und über 111 (!) Maßnahmen nachgedacht. Gestern hat das Bundeskabinett diese „Strategie gegen Einsamkeit“ in einer Sitzung beschlossen.

Hier kann man sich über die Definitionen von „Einsamkeiten“ (die von „Allein sein“ zu unterscheiden sind) genauer informieren und auch darüber, welche Hilfsangebote es derzeit gibt:

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/engagement-und-gesellschaft/strategie-gegen-einsamkeit-201642

Imagine peace!

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Die Schauspielerin Sandra Hüller hat den Europäischen Filmpreis als beste Hauptdarstellerin erhalten. Bei der festlichen Preisverleihung in Berlin bat sie das Publikum mit den Worten „Imagine peace!“ um eine Minute des Schweigens und der Stille. Stellt euch vor: Frieden! Und das mitten im Advent!

Was für ein schöner, sinnvoller Einfall, der weit über die bloße Nennung des Wortes hinausging. „Imagine“ fügte ihm die Erinnerung an die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinzu, als die Sehnsucht nach Frieden noch eine Sache für Hunderttausende auf den Plätzen und Straßen unserer Städte war. „Imagine“ appellierte aber zugleich auch an die Zukunft und daran, sich eine Zeit jenseits der furchtbaren gegenwärtigen Kriege in der Ukraine und in Nahost auszumalen. Wie könnte ein Frieden aussehen, der mit dem Ende dieser Kriege einherginge?

Schließlich forderte „Imagine“ dazu auf, die inneren Bilder verwüsteter Städte und Landschaften durch Szenen mit all jenen Menschen anzureichern, die sich einmal daran machen werden, zerstörtes Leben wieder aufzubauen. Von wo werden sie kommen und wie lange werden sie brauchen, den Gegenden wieder ein menschliches Aussehen zu verleihen? Im Wunsch nach Frieden sollten sich, so die gegenwärtige Sehnsucht, die kämpfenden Lager einig sein. Und sollte diese Sehnsucht wieder so mächtig werden wie früher einmal, könnte sie viele Konfrontationen überwinden – zugunsten eines übergeordneten, vorrangigen und größeren Ziels.

Als ich mit meinen Freunden darüber sprach, hatten sie sofort Bilder der „Friedensbewegung“ vor Augen und fragten sich, warum es momentan nur kleinere Kundgebungen im Namen dieser oder jener kämpfenden Seite gibt, aber keine Großdemonstrationen für den Frieden. Nur laute, nationale oder Partei ergreifende Parolen, Fahnen und Embleme, aber keine leisen Zeichen des Friedens und der Hoffnung, dass der Wunsch nach Frieden die Feinde einander wieder annähern könnte.

In unseren Gesprächen verbanden wir diese schönen Träume mit alten Adventsfantasien, die in den Kindertagen immer auch Fantasien einer Friedenszeit waren. Im Advent kam das laute, konfrontative Leben allmählich und schrittweise zur Ruhe, bis die Feiertage gar einen Stillstand aller Umtriebigkeit bewirkten. In diesen stillen Momenten reichten sich Menschen und Gruppen die Hand, die sonst aneinander vorbeigeeilt waren, bis hin zu den Begegnungen mit den eigenen Verwandten, denen wir während des Jahres eher aus dem Weg gegangen waren. In diesem Sinn sind Advent und Weihnachten Feste übergeordneter, höherer Ordnung, die dazu aufrufen, das gemeinschaftliche Leben weiter zu denken und in gefassterem Geist zu feiern.

So bedurfte es auch jetzt nur eines einzigen Wortes, um eine ganze Palette von Bildern und Erzählungen abzurufen und damit zu verhindern, dass wir die Feiertage nur als willkommene Ablenkung von den Kriegsbildern betrachten. Emotionsforscher sagen uns momentan, dass Angst und Trauer große Kreise unseres Landes beherrschen und sich in diese starken Empfindungen kaum Spuren von Freude mischen. Meine Nächsten sprechen davon, sich um diese lebenserhaltende, adventliche Freude zu bemühen und sich ihrer nicht zu schämen. Dies alles aber nicht in „eitel Freude“, sondern auch im Bewusstsein der Trauer. Beide Emotionen aufeinander zu beziehen, dazu könnten Sandra Hüllers wegweisende Worte beitragen: „Imagine peace!“

Eine Bitte vor dem Ende des Jahres

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs,

vor dem Ende des Jahres 2023 möchte ich all jene von Ihnen, die während dieser Monate meine (weit über zweihundert!!) Blogeinträge gelesen haben, um eine Unterstützung des Blogprojekts (in das ich viel Zeit investiere)  bitten.

Überweisen Sie Ihren Dank bitte auf das Konto DE34 4604 0033 0368 1574 00 der Commerzbank Wissen (BIC COBADEFFXXX) und fügen Sie Ihrer Überweisung den Vermerk „SALA Ortheil“ hinzu.

Sie zeigen damit nicht nur, dass Sie diesen Blog schätzen und weiter am Leben erhalten wollen, sondern helfen auch, meine SALA in Wissen/Sieg in ihrer Existenz für die Zukunft zu sichern.

Danke!!

Titelsuche

Am 27. November 2023 habe ich in diesem Blog von seltsamen, vielleicht altersbedingten Zuständen berichtet, die mich an vertrauten, aber letztlich doch fernen und fremden Orten genau dann befallen, wenn ich einen heimatlichen Impuls spüre: Ich war vor längerer Zeit bereits einmal an diesem Ort und habe mich für wenige Stunden dort aufgehalten – der erneute Aufenthalt ist also ein Wiedersehen, und ich träume die Szenen um mich herum genau da weiter, wo ich sie einmal anträumte.

Ich habe die Leserinnen und Leser dieses Blogs gefragt, ob ich Geschichten über solche Erlebnisse aufschreiben und in einem Buch sammeln sollte. Die Antworten waren einstimmig und erstaunlich zahlreich: Unbedingt, auf jeden Fall, das wollen wir lesen!!

Ich hatte vorsorglich auch bereits um mögliche Titel für ein solches Buchprojekt gebeten. Ich nenne einige an mich geschickte Vorschläge:

Zwischenland/ Auf der Durchreise zu Hause/ Orte der Fantasie/ Passagen/ Stundenbuch/ Zwischenatem/ Fluchtpunkte/ Meine mobilen Heimaten/ Wohlfühlorte in der Fremde/ Durchatmen/ Einkehren/ Zu sich kommen/ Den innern Bildern in fremden Räumen Heimat geben/ Der Raum in mir, der spricht/ Ungeahnte Inseln des Zuhauses andernorts/ Kleine Träumereien/ Abstecher/ Perlen/

Großen Dank für die vielen Vorschläge (es waren noch weitaus mehr). Anhand dieser Beispiele könnte man „Titelkunde“ betreiben und darüber nachdenken, was ein guter Titel ist und woraus er bestehen sollte.

Wenn sie unter den genannten Titeln einen Favoriten haben, dann melden Sie es mir bitte kurz, ich bin gespannt.

Ich wünsche Ihnen einen ruhigen zweiten Advent, verbunden mit dem Konzert für zwei Klaviere (Cembali) von Johann Sebastian Bach in C-Dur, BWV 1061:

Auf kalten und leeren Bahnhöfen

Oberlokführer GW, eine der schrägsten Gestalten des öffentlichen Lebens, hat seine gigantische Fernsehtauglichkeit wieder unter Beweis gestellt und allen, die mit der Bahn reisen wollen, hinterrücks verkündet, wie man durchbremst, statt durchzustarten.

Das passt ungeheuer gut in diese schweren Zeiten, weil es allen Sorgenbeladenen noch einen zusätzlichen Packen Sorgen aufnötigt.

GW hat seinen Streik kurz vor dem Nikolaustag ausgeheckt und sich daran erinnert, dass es keinen Nikolaus ohne Knecht Ruprecht gibt. In Österreich verwandelt er sich in den Krampus, an dessen leicht sadistische Frechheiten sich viele Österreich-Reisende erinnern.

Auch GW hat sich daran erinnert und verpasst Millionen Reisenden vor dem zweiten Adventswochenende gezielte Hiebe, die sie kurz nach einem Wintereinbruch, der viele Strecken der Bahn tagelang lahmgelegt hat, mit besonderer Freude genießen.

GW freut sich darüber wie ein Kind und reibt sich die schweißnassen Hände, nächstes Jahr wird er sie in Unschuld waschen und zur Erleichterung aller Reisenden die bronzene Jim Knopf-Medaille für einen nachhaltigen Ruhestand im Traumland der Modelleisenbahnen entgegennehmen.

Nikolaustag

Der heutige Nikolaustag erinnert an das Leben des heiligen Nikolaus, der als Bischof von Myra (in der türkischen Provinz Antalya) den Legenden nach viel Gutes tat und sich besonders als Freund der Kinder und Notleidenden bewies.

Er starb um 345 n.Chr., seine Gebeine wurden 1087 in Myra geraubt und nach Bari gebracht, wo sie heute in der Basilika San S. Nicola in einem Sarkophag ruhen und von vielen Pilgerinnen und Pilgern verehrt werden.

Über diese Website kann man sich dem schönen Bau nähern und viele weitere Informationen erhalten (das Foto zeigt den adventlichen Mainzer Dom mit Weihnachtsmarkt):

https://www.basilicasannicola.it/

Martha-Saalfeld-Preis für Mariana Leky

Am kommenden Donnerstag, 07.12.2023, 19 Uhr, wird der Schriftstellerin Mariana Leky im Alten Kaufhaus von Landau der Martha-Saalfeld-Preis des Landes Rheinland-Pfalz verliehen. 

Aus diesem schönen Anlass werde ich im Rahmen der Preisverleihung, zu der ich alle Leserinnen und Leser dieses Blogs herzlich einlade, die Laudatio auf die Preisträgerin und ihren im Westerwald spielenden Roman „Was man von hier aus sehen kann“ halten.

https://www.landau.de/Verwaltung-Politik/Pressemitteilungen/Martha-Saalfeld-Preis-geht-in-diesem-Jahr-an-Autorin-Mariana-Leky.php?object=tx,2644.5.1&ModID=7&FID=2644.15374.1&NavID=2644.13&La=1

Johann Sebastian Bach im Advent

Morgen feiern wir den ersten Advent! Häufig gehörte Musik in den kommenden Wochen bis Weihnachten ist die von Johann Sebastian Bach. Zu seinen „wunderbaren Werken“ ist gerade in der Insel-Bücherei ein sehr lesenswertes Buch erschienen, das einen beim Hören begleiten könnte.

Michael Maul (geb. 1978 in Leipzig) ist Musikwissenschaftler, der sich seit Jahrzehnten der Musik des Leipziger Raums und vor allem der Johann Sebastian Bachs gewidmet hat. Dieses Buch ist die Summe seiner Forschungen, im Untertitel nennt er es „Eine Liebeserklärung an die Musik des Thomaskantors“.

Bach ist weltweit auf den Streaming-Plattformen präsent, seine Musik wird sogar häufiger gehört als die von Mozart oder Beethoven, was den bekannten Satz Maurizio Kagels bestätigt: „Nicht jeder Musiker glaubt an Gott, aber alle an Johann Sebastian Bach.“

Michael Maul weist in seinem Vorwort darauf hin, dass diese Präsenz Bach wohl erstaunen würde. Er verstand den Großteil seiner Musik nämlich als „gottesdienstliche Gebrauchsmusik“, für eine bestimmte Gemeinde und einen bestimmten Sonntag oder Feiertag komponiert. Heutzutage aber erreichen sie als „wunderbare Werke“ Menschen aller Kontinente und Religionen und strahlen eine Stärke und Gelassenheit aus, die in schwierigen Lebensphasen oft Kraft und Trost spendet.

Michael Mauls Führung durch das Gesamtwerk ist eine sehr persönliche und passionierte, die zum sofortigen Hören anstiftet. Damit das gelingt und der Funke gleich überspringt, ist dem Text auch ein QR-Code beigegeben, der über die an seinen Rändern zu findenden Nummern den direkten Musikzugang ermöglicht. Eine ideale Winter-Lektüre als Vor- oder Nachbereitung der großen Feste und des privaten Zusammenseins!

  • Michael Maul: J. S. Bach. „Wie wunderbar sind deine Werke“. Insel-Bücherei Nr. 1510

Das Schöne von Michael Köhlmeier

Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier (geb. 1949) hat Romane, Gedichte und Märchen veröffentlicht, er ist ein virtuoser Erzähler und beweist das auch in Fernsehsendungen, in denen er Stoffe der Weltliteratur lebendig und unkonventionell vorstellt.

Während der Lektüre dieses Buches glaubt man, ihn zu hören und zu sehen, wie er mit einem an einem Tisch sitzt und über Themen und Stoffe seines Lebens spricht. Sein Erzählen ist, wie der Untertitel verrät, voller Begeisterung, es ist eine Art Schwärmen, ohne Wenn und Aber.

Meist sind es Romane oder Erzählungen, die diesen schwärmerischen Ton auslösen, darunter viele, die man selbst schätzt oder liebt (wie etwa Hemingways „Der alte Mann und das Meer“), aber auch solche, von denen man eher selten gehört hat (wie etwa Franz Michael Felders „Aus meinem Leben“).

Daneben geht es um Musik oder um religiöse Texte, Michael Köhlmeier lässt sich treiben und sucht nach den versteckten Perlen, nach einzelnen Sätzen oder Metaphern, nach literarischen Figuren und seltsamen Lebensläufen, so dass man sich für die Dauer dieser entspannten Lektüren in einem Kabinett seiner Leidenschaften aufhält.

Das wirkt so anregend, dass man sich am liebsten selbst hinsetzen und im Freundeskreis so wie er beginnen möchte: „Es ist viele Jahr her, da hörte ich zum ersten Mal…“

  • Michael Köhlmeier: Das Schöne. 59 Begeisterungen. Hanser Verlag 2023

Fünfzig Wörter für Schnee

Die britische Dichterin und Autorin Nancy Campbell (geb. 1978) hat sich längere Zeit in Grönland und Island aufgehalten und darüber viele Texte geschrieben, die als Meisterstücke des Nature Writing gelten.

Auch Fünfzig Wörter für Schnee entstand nach einem Aufenthalt im Norden Islands, wo sie einige Winter verbrachte und in der Umgebung ihres Hauses mit hüfthohen Schneeverwehungen zu kämpfen hatte.

Die Arbeit mit der Schaufel ließ sie Beobachtungen machen, die auf Spuren des Schreibens führte: Schnee war nicht immer weiß und nicht immer still, er zeigte Abdrücke von Schlitten und Schneemobilen, und er legte sich auf Erdschichten, die in seinen Formationen Konturen hinterließen.

Nancy Campbell ging diesen Spuren nach und untersuchte zunächst die Sprache der Einheimischen mit dem Blick auf Wörter für Schnee. Daraus entwickelte sich die Idee dieses Buches: Schneeflocken auf ihren Wegen zu folgen, wie sie flüssig und zu Gas werden, wie sie auf afrikanische Gipfel fallen, schmelzen und verdunsten und später wieder gefrieren und auf Apfelhaine in Kaschmir regnen.

So ist ein weltumspannendes, faszinierendes Buch entstanden, das den Schnee und seine Flocken durch viele Sprachen verfolgt und von seinen Figuren und Gestalten erzählt.

  • Nancy Campbell: Fünfzig Wörter für Schnee. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Hoffmann und Campe