Ein ganzes Jahr

Wie kaum ein anderes Jahr wird uns 2020 in Erinnerung bleiben – und wie kaum ein anderes sehr detailliert. Die Pandemie hat seine Rhythmen und Bewegungen geprägt und uns zu Reaktionen gezwungen. Mit dem Blick auf völlig unerwartete und laufend gesteigerte  Anforderungen haben wir uns immer neu verhalten und ausrichten müssen.

Ein ganzes Jahr unter hochgradig zugespitzten, fast täglichen Informationsströmen…, nach Orientierungen suchend, faktischen wie lebenserhaltend psychischen…

Und weil das so ist und immer noch anhält – ist für mich Iiro Rantalas gerade erschienene CD My Finnish Calendar eines der packendsten und bewegendsten Alben des Jahres. Die letzten zwölf Monate laufen beim Hören vor meinem inneren Auge noch einmal vorbei, transponiert nach Finnland…, und jeder Monat hat seine eigene Nummer…

Hier die Solo-Meditation über den Monat Dezember, auch zum Mitlesen:

 

Sich genau zu erinnern ist ein schönes Geschenk

(Am 18.12.2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Christine und Toni aus Köln haben zwei erwachsene Töchter, die mit ihren Familien in Berlin leben und die Eltern über Weihnachten aus den bekannten Gründen nicht besuchen. Natürlich könnte man skypen und miteinander plaudern, das befriedigt mein Freundespaar aber nicht.

Toni kommt es so vor, als spielte er die Oparolle in einem schlechten Film, in dem weder Ambiente noch Beleuchtung noch der Ton stimmen. Der herumstotternde Typ mit dem verkrampften Lächeln und den schillernden Bartstoppeln, das bin ich doch gar nicht, behauptet er. Und Christine täte es richtiggehend weh, wenn im Bildhintergrund weihnachtliche Dekorationen zu sehen wären. Ihr Anblick würde sie an lauter schöne Familienmomente erinnern, die es diesmal leider nicht geben wird.

Welche schönen Momente?, habe ich extra naiv gefragt. Christine erzählte, wie früher alle auf ihre jeweils eigene Weise geholfen hätten, die Wohnung zu schmücken. Und dass sie mit ihrer ältesten Tochter das Essen gekocht und mit der jüngeren Kuchen und Plätzchen gebacken habe. Streng getrennt, weil die eine eben gern koche und die andere lieber backe. Ich fragte nach, was denn gekocht und gebacken und wie genau die Räume vom wem geschmückt worden seien. Und mein Freundespaar geriet immer mehr ins Erzählen, als schrieben sie an einem Drehbuch.

Mir gefielen ihre Weihnachtsgeschichten, es waren wahrhaftig Szenen schöner Momente, ohne Kitsch, mit dem konkreten Blick auf einzelne Menschen und ihre Vorlieben. Ich würde das aufschreiben, sagte ich – und zwar knapp und ohne erzählerisches Drumrum. Christine und Toni schauten mich an: Aufschreiben?! Im Ernst?! – Ja, sagte ich, diese ganz alltäglichen Weihnachtsgeschichten sind Euer Weihnachtsgeschenk, für jedes Familienmitglied schreibt ihr eigene. So bekommen alle ein paar Seiten, die indirekt davon erzählen, wie ihr Eure Liebsten seht und was ihr für sie empfindet.

Toni fand Schreiben anstrengend und konnte es sich nicht recht vorstellen, Christine aber wollte Beispiele hören. Es ist ganz leicht, sagte ich, folgt einfach einer guten Idee des amerikanischen Schriftstellers Joe Brainard. Er beginnt jeden Satz mit der Formel „Ich erinnere mich…“ – und macht dann mit dem genauen Fixieren der Erinnerung weiter. Etwa so: Ich erinnere mich, dass Jochen den Baum immer nur weit unten und immer nur mit den roten Kugeln geschmückt hat. Oder: Ich erinnere mich, dass Ursel besonders Quittengelee mochte und oft heimlich davon in der Vorratskammer genascht hat. Schreibt diese Erinnerungen mit Zeilenabstand untereinander und verschickt diese handgeschriebenen Listen mit Weihnachtsbriefmarken der Post so bald wie möglich.

Handgeschrieben?! Per Post?!, fragte Toni erstaunt. Ja, antwortete ich, auch Elke Büdenbender, die Frau unseres Bundespräsidenten, hat das gerade empfohlen. Ich selbst empfehle außerdem das Markenset Frohes Fest! der Deutschen Post: Zehn Briefumschläge, zehn Briefmarken à 0,80 Euro und 5×2 Grußkarten – alles zusammen für 14,68 Euro! Schreiben ist nämlich nachhaltiger als Skypen, und sich genau zu erinnern ist das Nachhaltigste überhaupt. Christine und Toni schauten mich an, als wäre ich eine etwas unheimliche, sehr ferne adventliche Erscheinung. Um sie zu beruhigen, sagte ich schließlich: Es soll auch ein Markenset 50 Jahre Tatort geben, vielleicht etwas für große oder kleine Kinder, die Krimis besonders mögen…

Mein Beethoven 3

(In dieser Woche läuft die fünfteilige Folge Mein Beethoven in SWR 2, jeweils morgens von 9-10 Uhr. Hier noch einmal ein Link für alle Folgen:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Judith von Sternburg, Redakteurin der „Frankfurter Rundschau“, hat mich um ein Interview gebeten. Es ist heute erschienen.)

Wann haben Sie Beethoven kennengelernt?

Als kleiner Bub in den fünfziger Jahren. Mit meiner Mutter hörte ich damals Musik im Radio: Haydn, Mozart und Juliette Greco. Bei Beethoven überfiel meine Mutter ein Gruseln. So bekam ich seine Klaviersonaten und Symphonien erst in Konzerten mit meinem Vater zu hören. Nach jedem Konzert war ich wie hypnotisiert, die Musik ging mir nicht mehr aus dem Kopf, es war jedes Mal wie ein Schock.

Haben Sie seine Stücke auch auf dem Klavier gespielt?

Noch lange nicht, meine Lehrerinnen meinten, Beethoven sei nichts für klavierübende Kinder. Ich übte Czerny, spielte Sonatinen von Mozart und Schumanns „Album für die Jugend“ – das war weder dunkel noch gefährlich.

Und damit gaben Sie sich zufrieden?

Keinen Moment. Ich hatte den Beethoven-Virus eingefangen und wollte alles über ihn wissen. In meinem Vater hatte ich einen ebenfalls infizierten Begleiter. Von Köln aus fuhren wir oft nach Bonn und streunten zusammen durch Beethovens Geburtshaus. Das war eine wunderbare Genie-Puppenstube: Noten, Bilder und vor allem Instrumente und Gegenstände aus Beethovens Leben. Da konkretisierten sich die Eindrücke und entwarfen eine Gestalt.

Und wie sah die aus?

Unheimlich! Ein kräftiger, muskulöser junger Mann mit dunklem Teint, der Violine, Bratsche und Orgel spielte, erste Kompositionen schrieb und täglich stundenlang über das Klavier herfiel. Und das nicht nur übend, sondern auch improvisierend. Das mochten seine Lehrer gar nicht, ich verstand aber gut, wie verlockend gerade das Improvisieren war. Es bedeutete Freiheit – gegenüber dem Übestress und dem Gehorsam, sich an fremde Noten zu halten.

Haben Sie auch improvisiert?

Und wie! Nach dem Üben wurde improvisiert. Die gesamte Tastatur wollte bedient werden – das waren kleine Orgien mit waghalsigen Fingerläufen und verrückten Akkorden, heute denke ich, es war eine Art Free Jazz, ohne dass ich jemals Jazz gehört hatte.

Beethoven kam Ihnen näher?

Es war wie eine Verzauberung. Den stärksten Anteil daran hatte die Lebendmaske Beethovens, die der Bildhauer Franz Klein ihm abgenommen hatte. Das Gesicht wird eingegipst, Luft erhält man nur noch durch zwei Röhren in den Nasenlöchern. Mein Vater schenkte mir eine Kopie, sie wurde, um meine Mutter nicht zu erschrecken, in einem Geheimfach deponiert. Alle paar Tage nahm ich sie heimlich heraus und hielt dieses bitterernste, brütend schwere Gesicht mit den geschlossenen Augen in den Händen.

Hat die Maske sie verfolgt?

Ich begann, von Beethoven zu träumen und sah einen vitalen, energiegeladenen Mann, der in der freien Natur brummend und entrückt unterwegs war und immer ein Skizzenbuch dabei hatte. So hatte ich ihn in einem Spielfim wie ein Besessener agieren gesehen. In seinen Wohnungen dagegen sah es chaotisch aus – wie in einer Wohngemeinschaft mit Gespenstern.

Haben Sie diese Wohnungen auch aufgesucht?

Ja, nach Bonn war Wien dran! In den Ferien fuhr ich mit meinem Vater hin. Wir entwarfen einen Beethoven-Parcours durch die ganze Stadt, über dreißigmal soll er umgezogen sein. Leider waren die Wohnungen bis auf wenige Ausnahmen nicht zu besichtigen. So kauften wir in den Trafiks der Stadt lauter Postkarten mit Ansichten seiner Zimmer und Porträts, die Zeitgenossen gemalt hatten. Deren Berichte lasen wir, und meine Träume wurden noch intensiver. Es gab eine Standardszene: Ich saß an einem Flügel, Beethoven stand am Fenster und schaute hinaus. Wir schwiegen beide. Ich war sein Schüler und sollte etwas spielen, aber ich wusste nicht was…

Eine Urszene der Überforderung…

Damals spielte ich lediglich einige seiner angeblich einfachen Variationen, etwa die über ein Schweizerlied. Sie waren Studien des Improvisierens, und ich mochte sie sehr – aber ich nahm an, ich würde den Meister mit derart einfachen Stücken verärgern.

Er hat nie etwas gesagt?

Schließlich doch. Ich hatte den Bericht eines Schülers gelesen, der zum Unterricht erschienen war. Beethoven hatte gesagt: „Wir wollen heute nicht Unterricht nehmen, wir wollen lieber zusammen spazieren gehen…“ Etwas Ähnliches sagte er dann auch zu mir. Wir verließen seine Wohnung und gingen spazieren. In Wien gab es einen berühmten Beethoven-Gang, draußen, vor den früheren Toren der Stadt. In Nussdorf und Heiligenstadt. Den ging ich mit meinem Vater und starrte unterwegs auf die Postkarten, die den Spaziergänger Beethoven mit seinem berühmten Spazierstock und den Händen auf dem Rücken zeigten. Es war grandios, großes Kino.

Sie hätten ein Drehbuch schreiben können…

Ja, sofort! In Wien begriff ich erst, dass es nicht nur den komponierenden, sondern auch den extrem schreibenden Beethoven gegeben hatte: Briefe, Tagebücher, Notizhefte – und vor allem, die Sensation: die Konversationshefte! Als er ertaubte, hatte er sich auf diese Weise mit den Freunden verständigt. Die Konversation wurde schriftlich geführt, so dass wir die früheren Unterhaltungen bis ins letzte Detail verfolgen können. Welche gesellschaftliche Themen besprochen, wie Konzerte vorbereitet wurden, sogar, was gegessen und getrunken wurde, wissen wir, als wären wir dabei gewesen.

Kümmerte Beethoven sich auch darum?

Er notierte sogar viele Details aus Kochbüchern und gab seinen Haushälterinnen konkrete Anweisungen, was gekocht werden sollte. Rindfleisch mit Sauerampfer, Geflügel jeder Art, Wild, Karpfen und Hecht, weiße Rüben, viel Grünes. In einem Wiener Antiquariat kauften mein Vater und ich eines der Kochbücher aus dieser Zeit, mit, wie es hieß, 1619 Kochregeln für Fleisch- und Festtage. Damals lernte ich die österreichische Küche kennen: Kaspressknödelsuppe, Fisoleneintopf, Krautfleckerln – ich notierte das Vokabular wie das einer Fremdsprache.

Hat Beethoven Sie auch in diesem Jubiläumsjahr verfolgt?

Ihm zu Ehren war ich zu Anfang des Jahres wieder in seinem neu eingerichteten Geburtshaus. In Bonn habe ich mir vor den bitteren Coronatagen auch die große Ausstellung in der Bundeskunsthalle angeschaut. Während des Jahres habe ich fast all seine Stücke wieder gehört. Weniger die bekannten, eher die selten oder gar nicht gespielten.

Die gibt es?

Beethovens Gesamtwerk wirkt heute wie ein großes, ungeheuer reiches und verblüffendes Labor. Es gibt die Stücke, denen er eine Opuszahl gab und damit in seinen Kanon aufnahm – und es gibt die vielen Kompositionen ohne eine solche Zahl, die gleichsam Ableger oder Zulieferer zu den zentralen Werken waren. Diese Stücke bieten die starken Überraschungen und zeigen den experimentierenden Beethoven. Lieder, Militär- und Tanzmusiken, Bagatellen, Variationen oder etwas für vier Posaunen oder zwei Flöten – fantastisch skurril!

Sie sind Beethoven also treu geblieben.

Treue war ihm besonders wichtig. Treue, Aufrichtigkeit, Offenheit und Zuwendung. Wen er in sein Herz geschlossen hatte, dem widmete er sich ganz und gar. Viele seiner Briefe sind ekstatische Deklamationen von Freundschaft und Liebe, besonders die, die er Freundinnen schrieb. Er war ein bedingungslos Liebender, der aber wusste, dass seine Lieben an Standesunterschieden scheiterten.

Hat er darunter gelitten?

Er benennt dieses Leiden, ich bin mir aber nicht sicher, ob er sich nicht schon früh als einen letztlich allein lebenden, nur der Musik dienenden Komponisten entworfen hatte. Er spricht oft von diesem Dienst, mit heftigem Pathos. Er fühlte sich der großen Kunst verpflichtet, und er verstand sich als leidenschaftlichen Enthusiasten, der die Empfindungen seiner Zuhörer an extreme Grenzen führen wollte.

Kann man sagen, dass Beethoven sie geprägt hat?

Die Hörerlebnisse waren die stärksten meines Lebens. Bis heute ist das so. Wenn ich einmal eine Weile abstinent war, gerate ich beim erneuten Hören wieder in die bekannten Dunkelzonen. Als befände man sich in planetarisch weit gedachten Räumen und Landschaften, als kreiste man, isoliert und beethovenabhängig, im Sternenuniversum. Der Übergang in der „Waldsteinsonate“ vom zweiten zum dritten Satz – oder wenn die Streicher im vierten Satz der 9. Symphonie zum ersten Mal die Melodie von „Freude, schöner Götterfunken“ intonieren – mein Gott, das bewegt mich so stark, dass ich sprachlos werde.

Darüber haben Sie bisher aber nie geschrieben, oder?

Nein, wegen einer starken Scheu habe ich vieles notiert, aber nicht veröffentlicht. Meine Notizen ergäben bestimmt ein Buch, in dem ich von meinen Hörerlebnissen und „meinem Beethoven“ berichten würde. Das wäre die Erzählung einer intensiven Annäherung, von den Kinderzeiten bis jetzt.

In SWR 2 werden Sie vom 14.12. bis zum 18.12. fünf Tage lang in der „SWR Musikstunde“ morgens vom 9 bis 10 Uhr mit Ausschnitten aus dieser Erzählung zu hören sein…

Ulla Zierau, die Redakteurin, hat mich zu Beginn des Jahres eingeladen, diese Serie zu gestalten. Ich habe sofort zugesagt. Jetzt oder nie! – habe ich mir gesagt, in echt Beethovenschem Ton, als ginge es um alles oder nichts.

Letzte Frage: Erinnern Sie sich noch an eine Ihrer Beethoven-Interpretationen auf dem Klavier?

O ja! Es war ein Konzertauftritt mit einer seiner letzten Sonaten, der in As-Dur, opus 110. Ich war siebzehn, als ich das gespielt habe. Die Sonate endet mit einer Großen Fuge. Hinterher saß ich in der Garderobe und kämpfte gegen die Tränen. Es war die verrückteste Verausgabung, die ich je erlebt habe.

Mein Beethoven 2

(In dieser Woche läuft die fünfteilige Folge Mein Beethoven in SWR 2, jeweils morgens von 9-10 Uhr. Hier noch einmal ein Link für alle Folgen:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Susanne Benda, Musikredakteurin der „Stuttgarter Zeitung“, hat zu dieser Reihe ein Interview mit mir geführt. Es ist am Wochenende erschienen.)

Herr Ortheil, Mein Beethoven heißt Ihre Musikstunden-Woche auf SWR2. Der Titel setzt einen Prozess der Aneignung voraus – wann und wie hat sich diese ereignet?

Ich beschäftige mich nicht nur analytisch mit historischen Personen, sondern denke auch gern darüber nach, welche Rolle sie ganz konkret in meinem Leben gespielt haben: Wie habe ich Beethoven kennengelernt, wie hat er mein Leben beeinflusst? So entsteht eine autobiografische Erzählung: Beethoven als großes Erlebnis, das mein ganzes Leben seit der Kindheit begleitet hat.

Haben sich Ihr Verständnis für und Ihr Bild von Beethoven dabei geändert?

Als Kind hatte ich oft eine Sperre, mich Beethoven zu nähern. Das lag auch an dem Beethoven-Bild der 50er und 60er Jahre, also daran, dass man Beethoven damals als eine unheimliche und ferne Gestalt empfand. Es stellten sich bei mir daher keine inneren Verbindungen her, die bei anderen Komponisten viel eher möglich waren, etwa bei Mozart, Haydn oder Schumann. Beethoven war für mich damals wie ein Kontinent, den man nur mit Ausweis betreten durfte, immer mit Blick auf den Warnhinweis „Vorsicht, gefährliches Gelände!“

Also haben Sie in Ihrer pianistischen Ausbildung Beethovens Werke nicht gespielt?

Tatsächlich ergab sich aus der Unterstellung, ich sei dieser Musik zwar spieltechnisch, aber nicht psychisch gewachsen, für mich so etwas wie ein Spielverbot. Beethovens Stücke setzen sich aus winzigen Segmenten zusammen, die unterschiedlichen Impulsen folgen, und einen jungen Klavierspieler überfordert das oft übergangslose ständige Umschalten von einer Stimmung in die andere. Deshalb kann man sich im großen Drama des Spiels verlieren. Man braucht eine  gegensteuernde Ruhe, um seine Kompositionen wirklich leuchten zu lassen.

Gibt es einen Pianisten, dessen Beethoven-Interpretationen Sie besonders schätzen?

Ich war eine Zeit lang Schüler von Claudio Arrau, einem der ganz großen Beethoven-Interpreten. Er führte uns seine Musik mit einer geradezu bohèmehaften Leichtigkeit vor. Ihm gelang es, mit starker Gelassenheit auch schwierige Stücke zu durchdringen. Davon war ich hingerissen. Das hatte natürlich auch mit seinem Alter zu tun. Er hat seine Schüler immer aufgefordert, mit den Bagatellen zu beginnen, mit den Rondi und den wunderbaren Variationen, von denen Beethoven als großer Improvisationskünstler ja sehr viele geschrieben hat.

Wie beurteilen Sie Beethoven-Einspielungen jüngerer Pianisten: Igor Levit, Fazil Say .

Neben Arrau habe ich Bruno Leonardo Gelber immer als Beethoven-Interpreten sehr geschätzt. Und Grigory Sokolov. Ich bleibe dabei: Die Sonaten sind etwas für reifere Musiker.

Welches ist Ihr Lieblingsstück von Beethoven?

Die Waldsteinsonate. Bis heute rührt mich der verblüffende Übergang von zweiten zum dritten Satz tief an: erst das Zusammensinken, dann diese herrliche Melodie . . . Da bin ich immer wieder fassungslos.

Welche Sonate haben Sie als erste öffentlich aufgeführt?

Oh, das war eine völlige Überforderung. Ich war 17 und habe die As-Dur-Sonate op. 110 gespielt, weil ich damals meinte, unbedingt die drei letzten Beethoven-Sonaten studieren zu müssen.

War die Überforderung vor allem spieltechnischer Art?

Nein, viel schlimmer war die mentale. Wenn man die ganze Zeit hochkonzentriert und hellwach ist und muss dann diese späte Fuge spielen, die in einer Wahnsinns-Apotheose nach As-Dur zurückführt – das ist unglaublich. Hinterher saß ich in einem kleinen Garderobenzimmer und spürte, wie die Chemie des Hirns das plötzliche Umschalten zurück in den Alltag nicht ertrug. Diesen brutalen Abfall in die Leere habe ich nie vergessen…

Welche von Beethovens Werken werden zu Unrecht vernachlässigt?

Die Werke ohne Opuszahl – da liegt ein immenser Reichtum. Bei Beethoven hat sich ein Kanon großer Werke etabliert, die immer wieder aufgeführt werden, und es wird oft nicht wahrgenommen, dass auch diese Stücke nur Teile eines gigantischen Experimentierprozesses sind. Beethovens Werk ist ein riesiges Labor. Außerdem sind die einzelnen Werke stark mit Beethovens Biografie verbunden. Beethoven hat auf bestimmte Erlebnisse reagiert, sogar in der Wahl der Gattungen, deren Grenzen dann aber meist gesprengt werden, sodass nur noch Steinbrüche der Genres übrigbleiben.

Viele Klavierwerke werden heute kaum mehr gespielt. Und einen Großteil der Lieder kennt heute ebenfalls niemand mehr.

Ja, und oft stammen sie von unbekannten Textdichtern. Sie haben aber den unverwechselbaren Sprachgestus, den man aus Beethovens Briefen und Konversationsheften kennt. Diesen hohen, ekstatischen Ton. Beethoven hat oft Texte mit ähnlichem Unbedingtheitsvokabular ausgewählt, Gedichte, die meist um abstrakte Begriffe kreisen wie Welt, Gott, Freundschaft oder Liebe. Mit Alltagsvokabular konnte er nichts anfangen, eine Vertonung von Das Veilchen kann man sich bei ihm nicht vorstellen.

Warum haben Sie noch nicht das Buch „Mein Beethoven“ geschrieben?

Ich habe in meinem Leben ungeheuer viel zu Beethoven notiert, denn dieser Komponist war für mich die größte Herausforderung. Ich hatte aber auch eine große Scheu, darüber zu schreiben, weil ich keine Musikanalysen liefern, sondern meine Beethoven-Geschichte erzählen wollte. Die Musikstunde jetzt war ja eine Einladung durch den SWR, die ich gerne angenommen habe, weil die Zeit nun reif dafür ist. Ich werde das bestimmt bald zu einem Buch erweitern. Das hatte ich immer vor. Deshalb habe ich in meinem Roman Wie ich Klavierspielen lernte die Beethoven-Aspekte trotz ihrer Bedeutung für mich ausgespart, denn das ist eine ganz eigene Geschichte. Sie wächst und lebt jetzt in mir.

Fühlen Sie sich eigentlich eher als Schriftsteller oder eher als Musiker, der schreibt, statt öffentlich aufzutreten?

Beide Bereiche gehören für mich sehr eng zusammen. Wenn ich schreibe, höre ich den Klang meiner Sätze, erlebe ihre Rhythmen, achte auf die Tempi. Dieses Schreiben ist wie Komponieren – und wenn ich daraus in Lesungen vortrage, mache ich Musik. Das haben zum Glück schon sehr viele Zuhörerinnen und Zuhörer so empfunden…

Mein Beethoven 1

So, jetzt ist es soweit! In der kommenden Woche feiern wir Ludwig van Beethovens zweihundertfünfzigsten Geburtstag!

Aus diesem Anlass hat mich die Musikredaktion des SWR eingeladen (Ulla Zierau war die zuständige Redakteurin), an fünf aufeinander folgenden Tagen (vom 14.12.-18.12.2020) die morgendliche Musikstunde von SWR 2 (jeweils von 9-10 Uhr) zu gestalten. Hier die Pressemitteilung:

https://www.swr.de/unternehmen/kommunikation/pressemeldungen/swr2-musikstunde-ortheil-2020-100.html

Für die Leserinnen und Leser meines Blogs gibt es einen ganz besonderen Service. Wenn Sie dem nächsten Link folgen, können Sie alle Folgen bereits heute (und an den kommenden Tagen) je nach Lust und Zeit zu Hause hören.

Mein Beethoven ist mein Adventsgeschenk für sie alle! Viel Freude damit:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Keith Jarrett

Vor kurzem hat der Pianist Keith Jarrett, dessen Konzerte ich seit Jahrzehnten mit Begeisterung gehört habe, erklärt, dass er nach zwei Schlaganfällen keine Konzerte mehr geben wird. Veröffentlicht wurde nun sein letzter Live-Auftritt (aus dem Jahr 2016), das Budapest Concert.

Anders als viele andere Konzerte besteht es nicht aus längeren Nummern, sondern aus zwölf eher kurzen. Es endet mit zwei Zugaben, hier die zweite: Answer me…

Digitale Lesungen

(Der Journalist Justus Mohle hat mich zu meinen digitalen Lesungen befragt…)

Herr Ortheil, Sie haben zuletzt zwei digitale Lesungen absolviert. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Unterschiedlich. Die erste Lesung war ein Livestream aus meiner Wohnung, die zweite eine Video-Aufzeichnung in einer großen Halle. Der Livestream ähnelte einem Video-Telefonat, denn ich sah meistens meinen Lektor Klaus Siblewski auf dem Bildschirm meines Laptops. Das war wie eine Unterhaltung von zwei Personen, die sich gut kennen: einer liest dem anderen was vor, und der andere stellt ein paar Fragen. Dass Tausende von Leserinnen und Lesern zuschauten, hatte ich nicht im Blick und wusste ich damals auch nicht. Sonst hätte ich vielleicht nicht barfuss gelesen…

Barfuss? Sie saßen barfuss in Ihrer Wohnung?

Ja, wenn ich arbeite, sitze ich fast immer barfuss an einem Arbeitstisch. Sommer wie Winter. Barfuss entspannt und vermittelt Lockerheit, außerdem mag ich weder Strümpfe noch Hausschuhe.

Und wie erlebten Sie die Videoaufzeichnung in der großen Halle?

Die Halle war das Kulturwerk von Wissen an der Sieg. Die gehörte früher mal Thyssen, es war eine  Fabrikhalle – heute passen da mindestens tausend Menschen rein. Ich saß allein an einem Tisch, und vor mir waren die Kameras aufgebaut. In der Weite der Halle verlor sich ein einzelner Techniker, der Bild und Ton steuerte. Es war, als säße ich in einer dunklen Höhle, von irgendwoher drang ein wenig Licht herein, und draußen vor dem Eingang verlief das Leben.

Waren Sie nervös?

Nein, das nicht, ich bin während meiner Lesungen eigentlich nie nervös – ich war eher irritiert: Wo bin ich? Was mache ich da gerade? Und hört mir überhaupt jemand zu?

Sie haben den Kontakt mit dem Publikum vermisst?

Sehr. Es gab ja nicht die geringsten Reaktionen, während ich las. Meine Texte tropften in diese riesengroße Halle, wie ein Rinnsal, das ins Nichts verlief. Am liebsten hätte ich mal geschrien oder laut gesungen oder getrommelt…

Und wie war es hinterher?

Nach der Lesung habe ich meine Bücher und Notizen in den Rucksack gepackt, habe dem Techniker gedankt und bin nach draußen gegangen. Was mache ich jetzt? habe ich mich gefragt – Du kannst doch nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen.

Warum nicht?

Nach einer Lesung bin ich, wie soll ich sagen…?: in gehobener Stimmung, angeregt, gut gelaunt, beinahe in Festtagslaune. Und wenn die nicht aufgefangen wird, ist es traurig. Man fällt in sich zusammen, es ist trostlos. Ich hätte in ein Restaurant gehen können, um etwas Gutes zu essen und zu trinken – das war aber nicht möglich, denn die Restaurants waren geschlossen. Ich stand also draußen im Freien und dachte: Wo ist der Hubschrauber, der mich in ein Land bringt, in dem die Restaurants geöffnet sind?

Werden Sie weitere digitale Lesungen durchführen?

Ja, denn es sind ja durchaus interessante Experimente. Am 20. Januar 2021 übertragt das Literaturhaus Stuttgart meine nächste Lesung. Wieder aus In meinen Gärten und Wäldern, aber mit einem neuen Ablauf, anderen Texten, anderer Musik, anderen Bildern. Die digitalen Präsentationen bilden ein multimediales Ensemble, weil ich neben den Texten auch Fotos zeigen und Musik kommentieren kann. Das ist eine erhebliche Erweiterung gegenüber der üblichen Lesung. Das probiere ich jetzt aus – und werde es fortsetzen, wenn endlich auch wieder leibhaftiges Publikum da ist. Im Grunde träume ich von einer großen Show (lachend) – mit Bildern, Musik, Text – und hinterher Tanz, die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgengrauen. Das wär’s doch…

How to Be Perfect

Der amerikanische Lyriker Ron Padgett (geb. 1942), dem wir die wundervoll rätselhaften Gedichte des busfahrenden Lyrikers in Jim Jarmuschs Film Paterson (auf DVD leicht zu bekommen!) verdanken (gesammelt in dem Band Die schönsten Streichhölzer der Welt), hat sich dazu hinreißen lassen, ein kleines, lyrisches Brevier von neunundneunzig Empfehlungen für ein intensives Leben zu schreiben.

Jede einzelne Empfehlung erhält in diesem schön gestalteten Buch eine ganze Seite, auf der immer noch Platz genug zum eigenen Notieren und Reagieren ist. Man kann sich also fragen: Mache ich mit? Lehne ich ab? Habe ich andere Vorschläge und Ideen?

„Trage bequemes Schuhwerk“… – okay, da wäre ich dabei. „Lies die Tageszeitung höchstens ein Mal pro Jahr“ – nein, das geht nicht, ich lese sogar jeden Tag mit großem Vergnügen gleich mehrere Zeitungen! „Singe von  Zeit zu Zeit“ – oh ja, unbedingt, ein Tag sollte nicht ohne Gesang vergehen. „Schau doch mal zu dem Vogel rüber“ – gern, denn ich erlebe oft, dass die Vögel zurückschauen, näherkommen und dann sogar in der Nähe bleiben…

Padgetts Empfehlungen gruppieren sich zu einem Langgedicht, und sie ironisieren auf diese Weise die altkluge Literatur der philosophischen Lebenspraxis, die es seit der Antike gibt. Heute ist sie in den Optimierungsversuchen unserer Wellnessbemühungen wieder auferstanden. Die nimmt Padgett nicht ernst, denn er hat Entspannteres vor: Die Skizze eines Kanons von alltäglicher Lebensgestaltung, die für jeden Menschen anders aussieht.

Fünfzehn deutschsprachige Autorinnen und Autoren (von Marcel Beyer bis Ron Winkler) haben auf Padgetts Langgedicht geantwortet und eigene Lebensregeln erfunden.

Nicht zuletzt deshalb, damit man als Leserin oder Leser ebenfalls ins Nachdenken und Formulieren gerät: Wie sollte/könnte/will man leben – nicht im Allgemeinen, sondern im Kleinen, en détail.

Ein sehr anregendes Buch, dessen Mitmachlektüre großes Vergnügen bereitet – auch und gerade im Austausch mit anderen und in Gesellschaft!

  • Ron Padgett: Perfekt sein. How to Be Perfect, übersetzt und mit einem Nachwort von Jan Röhnert. Englisch – Deutsch. Mit 15 Variationen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Mainz

Meine Abendmusik 5 – Nachtrag

Gestern Abend haben sehr viele Leserinnen und Leser meine „Abendmusik 5 zum Zweiten Advent“ gesehen. Hier und da soll der Server sogar zusammengebrochen und der Internet-Empfang gestört gewesen sein.

Wer das leider erlebt hat, kann sich beim „buchladen wissen“ melden: buchladenwissen@web.de – man erhält dann einen Link, um sich den Abend noch einmal in Ruhe anschauen zu können.

Die Aufzeichnung steht übrigens seit gestern, 6.12.2020, 18 Uhr, für 72 Stunden im Netz bereit.