Mein Beethoven 3

(In dieser Woche läuft die fünfteilige Folge Mein Beethoven in SWR 2, jeweils morgens von 9-10 Uhr. Hier noch einmal ein Link für alle Folgen:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Judith von Sternburg, Redakteurin der „Frankfurter Rundschau“, hat mich um ein Interview gebeten. Es ist heute erschienen.)

Wann haben Sie Beethoven kennengelernt?

Als kleiner Bub in den fünfziger Jahren. Mit meiner Mutter hörte ich damals Musik im Radio: Haydn, Mozart und Juliette Greco. Bei Beethoven überfiel meine Mutter ein Gruseln. So bekam ich seine Klaviersonaten und Symphonien erst in Konzerten mit meinem Vater zu hören. Nach jedem Konzert war ich wie hypnotisiert, die Musik ging mir nicht mehr aus dem Kopf, es war jedes Mal wie ein Schock.

Haben Sie seine Stücke auch auf dem Klavier gespielt?

Noch lange nicht, meine Lehrerinnen meinten, Beethoven sei nichts für klavierübende Kinder. Ich übte Czerny, spielte Sonatinen von Mozart und Schumanns „Album für die Jugend“ – das war weder dunkel noch gefährlich.

Und damit gaben Sie sich zufrieden?

Keinen Moment. Ich hatte den Beethoven-Virus eingefangen und wollte alles über ihn wissen. In meinem Vater hatte ich einen ebenfalls infizierten Begleiter. Von Köln aus fuhren wir oft nach Bonn und streunten zusammen durch Beethovens Geburtshaus. Das war eine wunderbare Genie-Puppenstube: Noten, Bilder und vor allem Instrumente und Gegenstände aus Beethovens Leben. Da konkretisierten sich die Eindrücke und entwarfen eine Gestalt.

Und wie sah die aus?

Unheimlich! Ein kräftiger, muskulöser junger Mann mit dunklem Teint, der Violine, Bratsche und Orgel spielte, erste Kompositionen schrieb und täglich stundenlang über das Klavier herfiel. Und das nicht nur übend, sondern auch improvisierend. Das mochten seine Lehrer gar nicht, ich verstand aber gut, wie verlockend gerade das Improvisieren war. Es bedeutete Freiheit – gegenüber dem Übestress und dem Gehorsam, sich an fremde Noten zu halten.

Haben Sie auch improvisiert?

Und wie! Nach dem Üben wurde improvisiert. Die gesamte Tastatur wollte bedient werden – das waren kleine Orgien mit waghalsigen Fingerläufen und verrückten Akkorden, heute denke ich, es war eine Art Free Jazz, ohne dass ich jemals Jazz gehört hatte.

Beethoven kam Ihnen näher?

Es war wie eine Verzauberung. Den stärksten Anteil daran hatte die Lebendmaske Beethovens, die der Bildhauer Franz Klein ihm abgenommen hatte. Das Gesicht wird eingegipst, Luft erhält man nur noch durch zwei Röhren in den Nasenlöchern. Mein Vater schenkte mir eine Kopie, sie wurde, um meine Mutter nicht zu erschrecken, in einem Geheimfach deponiert. Alle paar Tage nahm ich sie heimlich heraus und hielt dieses bitterernste, brütend schwere Gesicht mit den geschlossenen Augen in den Händen.

Hat die Maske sie verfolgt?

Ich begann, von Beethoven zu träumen und sah einen vitalen, energiegeladenen Mann, der in der freien Natur brummend und entrückt unterwegs war und immer ein Skizzenbuch dabei hatte. So hatte ich ihn in einem Spielfim wie ein Besessener agieren gesehen. In seinen Wohnungen dagegen sah es chaotisch aus – wie in einer Wohngemeinschaft mit Gespenstern.

Haben Sie diese Wohnungen auch aufgesucht?

Ja, nach Bonn war Wien dran! In den Ferien fuhr ich mit meinem Vater hin. Wir entwarfen einen Beethoven-Parcours durch die ganze Stadt, über dreißigmal soll er umgezogen sein. Leider waren die Wohnungen bis auf wenige Ausnahmen nicht zu besichtigen. So kauften wir in den Trafiks der Stadt lauter Postkarten mit Ansichten seiner Zimmer und Porträts, die Zeitgenossen gemalt hatten. Deren Berichte lasen wir, und meine Träume wurden noch intensiver. Es gab eine Standardszene: Ich saß an einem Flügel, Beethoven stand am Fenster und schaute hinaus. Wir schwiegen beide. Ich war sein Schüler und sollte etwas spielen, aber ich wusste nicht was…

Eine Urszene der Überforderung…

Damals spielte ich lediglich einige seiner angeblich einfachen Variationen, etwa die über ein Schweizerlied. Sie waren Studien des Improvisierens, und ich mochte sie sehr – aber ich nahm an, ich würde den Meister mit derart einfachen Stücken verärgern.

Er hat nie etwas gesagt?

Schließlich doch. Ich hatte den Bericht eines Schülers gelesen, der zum Unterricht erschienen war. Beethoven hatte gesagt: „Wir wollen heute nicht Unterricht nehmen, wir wollen lieber zusammen spazieren gehen…“ Etwas Ähnliches sagte er dann auch zu mir. Wir verließen seine Wohnung und gingen spazieren. In Wien gab es einen berühmten Beethoven-Gang, draußen, vor den früheren Toren der Stadt. In Nussdorf und Heiligenstadt. Den ging ich mit meinem Vater und starrte unterwegs auf die Postkarten, die den Spaziergänger Beethoven mit seinem berühmten Spazierstock und den Händen auf dem Rücken zeigten. Es war grandios, großes Kino.

Sie hätten ein Drehbuch schreiben können…

Ja, sofort! In Wien begriff ich erst, dass es nicht nur den komponierenden, sondern auch den extrem schreibenden Beethoven gegeben hatte: Briefe, Tagebücher, Notizhefte – und vor allem, die Sensation: die Konversationshefte! Als er ertaubte, hatte er sich auf diese Weise mit den Freunden verständigt. Die Konversation wurde schriftlich geführt, so dass wir die früheren Unterhaltungen bis ins letzte Detail verfolgen können. Welche gesellschaftliche Themen besprochen, wie Konzerte vorbereitet wurden, sogar, was gegessen und getrunken wurde, wissen wir, als wären wir dabei gewesen.

Kümmerte Beethoven sich auch darum?

Er notierte sogar viele Details aus Kochbüchern und gab seinen Haushälterinnen konkrete Anweisungen, was gekocht werden sollte. Rindfleisch mit Sauerampfer, Geflügel jeder Art, Wild, Karpfen und Hecht, weiße Rüben, viel Grünes. In einem Wiener Antiquariat kauften mein Vater und ich eines der Kochbücher aus dieser Zeit, mit, wie es hieß, 1619 Kochregeln für Fleisch- und Festtage. Damals lernte ich die österreichische Küche kennen: Kaspressknödelsuppe, Fisoleneintopf, Krautfleckerln – ich notierte das Vokabular wie das einer Fremdsprache.

Hat Beethoven Sie auch in diesem Jubiläumsjahr verfolgt?

Ihm zu Ehren war ich zu Anfang des Jahres wieder in seinem neu eingerichteten Geburtshaus. In Bonn habe ich mir vor den bitteren Coronatagen auch die große Ausstellung in der Bundeskunsthalle angeschaut. Während des Jahres habe ich fast all seine Stücke wieder gehört. Weniger die bekannten, eher die selten oder gar nicht gespielten.

Die gibt es?

Beethovens Gesamtwerk wirkt heute wie ein großes, ungeheuer reiches und verblüffendes Labor. Es gibt die Stücke, denen er eine Opuszahl gab und damit in seinen Kanon aufnahm – und es gibt die vielen Kompositionen ohne eine solche Zahl, die gleichsam Ableger oder Zulieferer zu den zentralen Werken waren. Diese Stücke bieten die starken Überraschungen und zeigen den experimentierenden Beethoven. Lieder, Militär- und Tanzmusiken, Bagatellen, Variationen oder etwas für vier Posaunen oder zwei Flöten – fantastisch skurril!

Sie sind Beethoven also treu geblieben.

Treue war ihm besonders wichtig. Treue, Aufrichtigkeit, Offenheit und Zuwendung. Wen er in sein Herz geschlossen hatte, dem widmete er sich ganz und gar. Viele seiner Briefe sind ekstatische Deklamationen von Freundschaft und Liebe, besonders die, die er Freundinnen schrieb. Er war ein bedingungslos Liebender, der aber wusste, dass seine Lieben an Standesunterschieden scheiterten.

Hat er darunter gelitten?

Er benennt dieses Leiden, ich bin mir aber nicht sicher, ob er sich nicht schon früh als einen letztlich allein lebenden, nur der Musik dienenden Komponisten entworfen hatte. Er spricht oft von diesem Dienst, mit heftigem Pathos. Er fühlte sich der großen Kunst verpflichtet, und er verstand sich als leidenschaftlichen Enthusiasten, der die Empfindungen seiner Zuhörer an extreme Grenzen führen wollte.

Kann man sagen, dass Beethoven sie geprägt hat?

Die Hörerlebnisse waren die stärksten meines Lebens. Bis heute ist das so. Wenn ich einmal eine Weile abstinent war, gerate ich beim erneuten Hören wieder in die bekannten Dunkelzonen. Als befände man sich in planetarisch weit gedachten Räumen und Landschaften, als kreiste man, isoliert und beethovenabhängig, im Sternenuniversum. Der Übergang in der „Waldsteinsonate“ vom zweiten zum dritten Satz – oder wenn die Streicher im vierten Satz der 9. Symphonie zum ersten Mal die Melodie von „Freude, schöner Götterfunken“ intonieren – mein Gott, das bewegt mich so stark, dass ich sprachlos werde.

Darüber haben Sie bisher aber nie geschrieben, oder?

Nein, wegen einer starken Scheu habe ich vieles notiert, aber nicht veröffentlicht. Meine Notizen ergäben bestimmt ein Buch, in dem ich von meinen Hörerlebnissen und „meinem Beethoven“ berichten würde. Das wäre die Erzählung einer intensiven Annäherung, von den Kinderzeiten bis jetzt.

In SWR 2 werden Sie vom 14.12. bis zum 18.12. fünf Tage lang in der „SWR Musikstunde“ morgens vom 9 bis 10 Uhr mit Ausschnitten aus dieser Erzählung zu hören sein…

Ulla Zierau, die Redakteurin, hat mich zu Beginn des Jahres eingeladen, diese Serie zu gestalten. Ich habe sofort zugesagt. Jetzt oder nie! – habe ich mir gesagt, in echt Beethovenschem Ton, als ginge es um alles oder nichts.

Letzte Frage: Erinnern Sie sich noch an eine Ihrer Beethoven-Interpretationen auf dem Klavier?

O ja! Es war ein Konzertauftritt mit einer seiner letzten Sonaten, der in As-Dur, opus 110. Ich war siebzehn, als ich das gespielt habe. Die Sonate endet mit einer Großen Fuge. Hinterher saß ich in der Garderobe und kämpfte gegen die Tränen. Es war die verrückteste Verausgabung, die ich je erlebt habe.

Mein Beethoven 2

(In dieser Woche läuft die fünfteilige Folge Mein Beethoven in SWR 2, jeweils morgens von 9-10 Uhr. Hier noch einmal ein Link für alle Folgen:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Susanne Benda, Musikredakteurin der „Stuttgarter Zeitung“, hat zu dieser Reihe ein Interview mit mir geführt. Es ist am Wochenende erschienen.)

Herr Ortheil, Mein Beethoven heißt Ihre Musikstunden-Woche auf SWR2. Der Titel setzt einen Prozess der Aneignung voraus – wann und wie hat sich diese ereignet?

Ich beschäftige mich nicht nur analytisch mit historischen Personen, sondern denke auch gern darüber nach, welche Rolle sie ganz konkret in meinem Leben gespielt haben: Wie habe ich Beethoven kennengelernt, wie hat er mein Leben beeinflusst? So entsteht eine autobiografische Erzählung: Beethoven als großes Erlebnis, das mein ganzes Leben seit der Kindheit begleitet hat.

Haben sich Ihr Verständnis für und Ihr Bild von Beethoven dabei geändert?

Als Kind hatte ich oft eine Sperre, mich Beethoven zu nähern. Das lag auch an dem Beethoven-Bild der 50er und 60er Jahre, also daran, dass man Beethoven damals als eine unheimliche und ferne Gestalt empfand. Es stellten sich bei mir daher keine inneren Verbindungen her, die bei anderen Komponisten viel eher möglich waren, etwa bei Mozart, Haydn oder Schumann. Beethoven war für mich damals wie ein Kontinent, den man nur mit Ausweis betreten durfte, immer mit Blick auf den Warnhinweis „Vorsicht, gefährliches Gelände!“

Also haben Sie in Ihrer pianistischen Ausbildung Beethovens Werke nicht gespielt?

Tatsächlich ergab sich aus der Unterstellung, ich sei dieser Musik zwar spieltechnisch, aber nicht psychisch gewachsen, für mich so etwas wie ein Spielverbot. Beethovens Stücke setzen sich aus winzigen Segmenten zusammen, die unterschiedlichen Impulsen folgen, und einen jungen Klavierspieler überfordert das oft übergangslose ständige Umschalten von einer Stimmung in die andere. Deshalb kann man sich im großen Drama des Spiels verlieren. Man braucht eine  gegensteuernde Ruhe, um seine Kompositionen wirklich leuchten zu lassen.

Gibt es einen Pianisten, dessen Beethoven-Interpretationen Sie besonders schätzen?

Ich war eine Zeit lang Schüler von Claudio Arrau, einem der ganz großen Beethoven-Interpreten. Er führte uns seine Musik mit einer geradezu bohèmehaften Leichtigkeit vor. Ihm gelang es, mit starker Gelassenheit auch schwierige Stücke zu durchdringen. Davon war ich hingerissen. Das hatte natürlich auch mit seinem Alter zu tun. Er hat seine Schüler immer aufgefordert, mit den Bagatellen zu beginnen, mit den Rondi und den wunderbaren Variationen, von denen Beethoven als großer Improvisationskünstler ja sehr viele geschrieben hat.

Wie beurteilen Sie Beethoven-Einspielungen jüngerer Pianisten: Igor Levit, Fazil Say .

Neben Arrau habe ich Bruno Leonardo Gelber immer als Beethoven-Interpreten sehr geschätzt. Und Grigory Sokolov. Ich bleibe dabei: Die Sonaten sind etwas für reifere Musiker.

Welches ist Ihr Lieblingsstück von Beethoven?

Die Waldsteinsonate. Bis heute rührt mich der verblüffende Übergang von zweiten zum dritten Satz tief an: erst das Zusammensinken, dann diese herrliche Melodie . . . Da bin ich immer wieder fassungslos.

Welche Sonate haben Sie als erste öffentlich aufgeführt?

Oh, das war eine völlige Überforderung. Ich war 17 und habe die As-Dur-Sonate op. 110 gespielt, weil ich damals meinte, unbedingt die drei letzten Beethoven-Sonaten studieren zu müssen.

War die Überforderung vor allem spieltechnischer Art?

Nein, viel schlimmer war die mentale. Wenn man die ganze Zeit hochkonzentriert und hellwach ist und muss dann diese späte Fuge spielen, die in einer Wahnsinns-Apotheose nach As-Dur zurückführt – das ist unglaublich. Hinterher saß ich in einem kleinen Garderobenzimmer und spürte, wie die Chemie des Hirns das plötzliche Umschalten zurück in den Alltag nicht ertrug. Diesen brutalen Abfall in die Leere habe ich nie vergessen…

Welche von Beethovens Werken werden zu Unrecht vernachlässigt?

Die Werke ohne Opuszahl – da liegt ein immenser Reichtum. Bei Beethoven hat sich ein Kanon großer Werke etabliert, die immer wieder aufgeführt werden, und es wird oft nicht wahrgenommen, dass auch diese Stücke nur Teile eines gigantischen Experimentierprozesses sind. Beethovens Werk ist ein riesiges Labor. Außerdem sind die einzelnen Werke stark mit Beethovens Biografie verbunden. Beethoven hat auf bestimmte Erlebnisse reagiert, sogar in der Wahl der Gattungen, deren Grenzen dann aber meist gesprengt werden, sodass nur noch Steinbrüche der Genres übrigbleiben.

Viele Klavierwerke werden heute kaum mehr gespielt. Und einen Großteil der Lieder kennt heute ebenfalls niemand mehr.

Ja, und oft stammen sie von unbekannten Textdichtern. Sie haben aber den unverwechselbaren Sprachgestus, den man aus Beethovens Briefen und Konversationsheften kennt. Diesen hohen, ekstatischen Ton. Beethoven hat oft Texte mit ähnlichem Unbedingtheitsvokabular ausgewählt, Gedichte, die meist um abstrakte Begriffe kreisen wie Welt, Gott, Freundschaft oder Liebe. Mit Alltagsvokabular konnte er nichts anfangen, eine Vertonung von Das Veilchen kann man sich bei ihm nicht vorstellen.

Warum haben Sie noch nicht das Buch „Mein Beethoven“ geschrieben?

Ich habe in meinem Leben ungeheuer viel zu Beethoven notiert, denn dieser Komponist war für mich die größte Herausforderung. Ich hatte aber auch eine große Scheu, darüber zu schreiben, weil ich keine Musikanalysen liefern, sondern meine Beethoven-Geschichte erzählen wollte. Die Musikstunde jetzt war ja eine Einladung durch den SWR, die ich gerne angenommen habe, weil die Zeit nun reif dafür ist. Ich werde das bestimmt bald zu einem Buch erweitern. Das hatte ich immer vor. Deshalb habe ich in meinem Roman Wie ich Klavierspielen lernte die Beethoven-Aspekte trotz ihrer Bedeutung für mich ausgespart, denn das ist eine ganz eigene Geschichte. Sie wächst und lebt jetzt in mir.

Fühlen Sie sich eigentlich eher als Schriftsteller oder eher als Musiker, der schreibt, statt öffentlich aufzutreten?

Beide Bereiche gehören für mich sehr eng zusammen. Wenn ich schreibe, höre ich den Klang meiner Sätze, erlebe ihre Rhythmen, achte auf die Tempi. Dieses Schreiben ist wie Komponieren – und wenn ich daraus in Lesungen vortrage, mache ich Musik. Das haben zum Glück schon sehr viele Zuhörerinnen und Zuhörer so empfunden…

Mein Beethoven 1

So, jetzt ist es soweit! In der kommenden Woche feiern wir Ludwig van Beethovens zweihundertfünfzigsten Geburtstag!

Aus diesem Anlass hat mich die Musikredaktion des SWR eingeladen (Ulla Zierau war die zuständige Redakteurin), an fünf aufeinander folgenden Tagen (vom 14.12.-18.12.2020) die morgendliche Musikstunde von SWR 2 (jeweils von 9-10 Uhr) zu gestalten. Hier die Pressemitteilung:

https://www.swr.de/unternehmen/kommunikation/pressemeldungen/swr2-musikstunde-ortheil-2020-100.html

Für die Leserinnen und Leser meines Blogs gibt es einen ganz besonderen Service. Wenn Sie dem nächsten Link folgen, können Sie alle Folgen bereits heute (und an den kommenden Tagen) je nach Lust und Zeit zu Hause hören.

Mein Beethoven ist mein Adventsgeschenk für sie alle! Viel Freude damit:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Keith Jarrett

Vor kurzem hat der Pianist Keith Jarrett, dessen Konzerte ich seit Jahrzehnten mit Begeisterung gehört habe, erklärt, dass er nach zwei Schlaganfällen keine Konzerte mehr geben wird. Veröffentlicht wurde nun sein letzter Live-Auftritt (aus dem Jahr 2016), das Budapest Concert.

Anders als viele andere Konzerte besteht es nicht aus längeren Nummern, sondern aus zwölf eher kurzen. Es endet mit zwei Zugaben, hier die zweite: Answer me…

Digitale Lesungen

(Der Journalist Justus Mohle hat mich zu meinen digitalen Lesungen befragt…)

Herr Ortheil, Sie haben zuletzt zwei digitale Lesungen absolviert. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Unterschiedlich. Die erste Lesung war ein Livestream aus meiner Wohnung, die zweite eine Video-Aufzeichnung in einer großen Halle. Der Livestream ähnelte einem Video-Telefonat, denn ich sah meistens meinen Lektor Klaus Siblewski auf dem Bildschirm meines Laptops. Das war wie eine Unterhaltung von zwei Personen, die sich gut kennen: einer liest dem anderen was vor, und der andere stellt ein paar Fragen. Dass Tausende von Leserinnen und Lesern zuschauten, hatte ich nicht im Blick und wusste ich damals auch nicht. Sonst hätte ich vielleicht nicht barfuss gelesen…

Barfuss? Sie saßen barfuss in Ihrer Wohnung?

Ja, wenn ich arbeite, sitze ich fast immer barfuss an einem Arbeitstisch. Sommer wie Winter. Barfuss entspannt und vermittelt Lockerheit, außerdem mag ich weder Strümpfe noch Hausschuhe.

Und wie erlebten Sie die Videoaufzeichnung in der großen Halle?

Die Halle war das Kulturwerk von Wissen an der Sieg. Die gehörte früher mal Thyssen, es war eine  Fabrikhalle – heute passen da mindestens tausend Menschen rein. Ich saß allein an einem Tisch, und vor mir waren die Kameras aufgebaut. In der Weite der Halle verlor sich ein einzelner Techniker, der Bild und Ton steuerte. Es war, als säße ich in einer dunklen Höhle, von irgendwoher drang ein wenig Licht herein, und draußen vor dem Eingang verlief das Leben.

Waren Sie nervös?

Nein, das nicht, ich bin während meiner Lesungen eigentlich nie nervös – ich war eher irritiert: Wo bin ich? Was mache ich da gerade? Und hört mir überhaupt jemand zu?

Sie haben den Kontakt mit dem Publikum vermisst?

Sehr. Es gab ja nicht die geringsten Reaktionen, während ich las. Meine Texte tropften in diese riesengroße Halle, wie ein Rinnsal, das ins Nichts verlief. Am liebsten hätte ich mal geschrien oder laut gesungen oder getrommelt…

Und wie war es hinterher?

Nach der Lesung habe ich meine Bücher und Notizen in den Rucksack gepackt, habe dem Techniker gedankt und bin nach draußen gegangen. Was mache ich jetzt? habe ich mich gefragt – Du kannst doch nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen.

Warum nicht?

Nach einer Lesung bin ich, wie soll ich sagen…?: in gehobener Stimmung, angeregt, gut gelaunt, beinahe in Festtagslaune. Und wenn die nicht aufgefangen wird, ist es traurig. Man fällt in sich zusammen, es ist trostlos. Ich hätte in ein Restaurant gehen können, um etwas Gutes zu essen und zu trinken – das war aber nicht möglich, denn die Restaurants waren geschlossen. Ich stand also draußen im Freien und dachte: Wo ist der Hubschrauber, der mich in ein Land bringt, in dem die Restaurants geöffnet sind?

Werden Sie weitere digitale Lesungen durchführen?

Ja, denn es sind ja durchaus interessante Experimente. Am 20. Januar 2021 übertragt das Literaturhaus Stuttgart meine nächste Lesung. Wieder aus In meinen Gärten und Wäldern, aber mit einem neuen Ablauf, anderen Texten, anderer Musik, anderen Bildern. Die digitalen Präsentationen bilden ein multimediales Ensemble, weil ich neben den Texten auch Fotos zeigen und Musik kommentieren kann. Das ist eine erhebliche Erweiterung gegenüber der üblichen Lesung. Das probiere ich jetzt aus – und werde es fortsetzen, wenn endlich auch wieder leibhaftiges Publikum da ist. Im Grunde träume ich von einer großen Show (lachend) – mit Bildern, Musik, Text – und hinterher Tanz, die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgengrauen. Das wär’s doch…

How to Be Perfect

Der amerikanische Lyriker Ron Padgett (geb. 1942), dem wir die wundervoll rätselhaften Gedichte des busfahrenden Lyrikers in Jim Jarmuschs Film Paterson (auf DVD leicht zu bekommen!) verdanken (gesammelt in dem Band Die schönsten Streichhölzer der Welt), hat sich dazu hinreißen lassen, ein kleines, lyrisches Brevier von neunundneunzig Empfehlungen für ein intensives Leben zu schreiben.

Jede einzelne Empfehlung erhält in diesem schön gestalteten Buch eine ganze Seite, auf der immer noch Platz genug zum eigenen Notieren und Reagieren ist. Man kann sich also fragen: Mache ich mit? Lehne ich ab? Habe ich andere Vorschläge und Ideen?

„Trage bequemes Schuhwerk“… – okay, da wäre ich dabei. „Lies die Tageszeitung höchstens ein Mal pro Jahr“ – nein, das geht nicht, ich lese sogar jeden Tag mit großem Vergnügen gleich mehrere Zeitungen! „Singe von  Zeit zu Zeit“ – oh ja, unbedingt, ein Tag sollte nicht ohne Gesang vergehen. „Schau doch mal zu dem Vogel rüber“ – gern, denn ich erlebe oft, dass die Vögel zurückschauen, näherkommen und dann sogar in der Nähe bleiben…

Padgetts Empfehlungen gruppieren sich zu einem Langgedicht, und sie ironisieren auf diese Weise die altkluge Literatur der philosophischen Lebenspraxis, die es seit der Antike gibt. Heute ist sie in den Optimierungsversuchen unserer Wellnessbemühungen wieder auferstanden. Die nimmt Padgett nicht ernst, denn er hat Entspannteres vor: Die Skizze eines Kanons von alltäglicher Lebensgestaltung, die für jeden Menschen anders aussieht.

Fünfzehn deutschsprachige Autorinnen und Autoren (von Marcel Beyer bis Ron Winkler) haben auf Padgetts Langgedicht geantwortet und eigene Lebensregeln erfunden.

Nicht zuletzt deshalb, damit man als Leserin oder Leser ebenfalls ins Nachdenken und Formulieren gerät: Wie sollte/könnte/will man leben – nicht im Allgemeinen, sondern im Kleinen, en détail.

Ein sehr anregendes Buch, dessen Mitmachlektüre großes Vergnügen bereitet – auch und gerade im Austausch mit anderen und in Gesellschaft!

  • Ron Padgett: Perfekt sein. How to Be Perfect, übersetzt und mit einem Nachwort von Jan Röhnert. Englisch – Deutsch. Mit 15 Variationen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Mainz

Meine Abendmusik 5 – Nachtrag

Gestern Abend haben sehr viele Leserinnen und Leser meine „Abendmusik 5 zum Zweiten Advent“ gesehen. Hier und da soll der Server sogar zusammengebrochen und der Internet-Empfang gestört gewesen sein.

Wer das leider erlebt hat, kann sich beim „buchladen wissen“ melden: buchladenwissen@web.de – man erhält dann einen Link, um sich den Abend noch einmal in Ruhe anschauen zu können.

Die Aufzeichnung steht übrigens seit gestern, 6.12.2020, 18 Uhr, für 72 Stunden im Netz bereit.

 

Meine Abendmusik 5 zum Zweiten Advent

(Der einsame Schriftsteller und Pianist während der Video-Aufzeichnung seiner Lesung im Kulturwerk Wissen/Sieg)

Tickets zum Preis von 12 Euro sind in allen Reservix-Vorverkaufsstellen sowie über den Ticketshop der Seite kulturwerkwissen.de erhältlich.

Hanns-Josef Ortheil

Abendmusik 5: In meinen Gärten und Wäldern

(Im Kulturwerk Wissen/Sieg, ab dem 6.12.2020, 18 Uhr)

Ablaufplan

  1. Einleitung: Thema (Gärten und Wälder)/ Erläuterungen zum Thema/ Worum es im Folgenden geht/ Ausblick/
  2. Musik 1 – August Harder/ Paul Gerhardt: Geh aus mein Herz und suche Freud…(MDR Rundfunkchor Leipzig)

Die spätbarocke Idee des Gartens als tröstlicher Raum – Das Gedicht als Trostlied nach den Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges – Der Garten als göttliche Schöpfung – sein Verweischarakter

  1. Der Garten meiner Eltern im Westerwald (Lesung aus „Was ich liebe und was nicht“, S. 381-387)
  2. Der Winter: Musik 2 – Aus Joseph Haydn: Die Jahreszeiten/Der Winter (Leipziger Kammerorchester unter Morten Schuldt-Jensen)

Orchestrales Vorspiel zum „Winter“/Die Nebel, die Düsternis, die Schwere dieser Jahreszeit

  1. Der Winter – Foto Das winterliche Leuchten (Lesung aus „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 13-21 (gekürzt))
  2. Musik 3 – Volkslied mit einem Text von Johann Wolfgang von Goethe: Ich ging im Walde so für mich hin…(The King’s Singers)

Die Blume als Objekt der „schönen Erinnerung“/Das autobiografische Moment: Goethe schreibt das Gedicht am 26.08.1813 im Rückblick auf seine erste Begegnung mit Christiane Vulpius (seiner späteren Ehefrau) am 12.Juli 1788, nach seiner Rückkehr aus Italien

  1. Mein Stuttgarter Garten (Lesung aus „Was ich liebe und was nicht“, S. 397-400)
  2. Der Vorfrühling – Foto Zwei Blütenpaare (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S.26)/ Foto Die Seiltänzer (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 30)/ Foto Schneeglöckchen (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 56)/ Foto Buschwindröschen (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 34)/ Foto Veilchen (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 46)
  3. Musik 4 – Ein Veilchen auf der Wiese stand (Goethe/Mozart KV 476 – Barbara Bonney und Geoffrey Parsons)

Die Blume als Sinnbild der Liebesempfindung/Ihre Freuden, ihr Schmerz/Die Blume als psychisches Objekt

  1. Vögel im Garten (Lesung aus „Was ich liebe und was nicht“, S. 394-397)
  2. Musik 5 – Aus Gustav Mahler: Ging heut‘ morgen über‘s Feld (Christian Gerhaher/Simon Rattle/Berliner Philharmoniker)

Feld und Wald als Stratosphäre des Gehens, Erlebens, der Umsicht/Der gestaltete, wahrgenommene Gang/Der Rückbezug auf ein schmerzhaftes Erlebnis

  1. Der Frühling – Foto Forsythien (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 67)/ Foto Löwenzahn (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 81)/ Foto Glyzinien (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 97)
  2. Musik 6 – Maurice Ravel: Le jardin féerique, aus: Ma Mère l’Oye (Orchestre Philharmonique de Radio France/ Myung-Whun chung)

Die impressionistische Ausmalung des reichen, blühenden Gartens/Die wahrgenommene Fülle/Das innere, geduldige Erleben/Die Schönheit als Autonomie der Gartenerscheinung

  1. Der Sommer – Foto Mohn (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 113)/ Foto Nachtkerzen 1 (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 114 und 127)/ Foto Hibiskus (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 132)
  2. Musik 7 – Robert Schumann: Der Springbrunnen, op. 85, Nr. 9, aus: 12 Klavierstücke für kleine und große Kinder (Paola del Negro/ Roberto Plano)

Robert Schumanns Idee der „Hausmusik“ als musikalische Vergegenwärtigung kindlichen Sehens und Erlebens/Das musizierte Objekt/Der Springbrunnen als Zentrum der Gartenarchitekturen

  1. Der Herbst – Foto Quitten (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 163)/ Foto Winteräpfel (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 169)/ Foto Beruhigung (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 161)/ Foto Eiswein (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 170)
  1. Ausklang – Foto Der Blick in die Wolken (Lesung: „In meinen Gärten und Wäldern“, S. 183)
  2. Musik 8 – Ludwig van Beethoven: Abendlied unter’m gestirnten Himmel, WoO 150 (Peter Schreier & Walter Olbertz)

Beethovens planetarische Himmelssicht/Das „erhobene Auge“/Der weite Himmel/Die Offenheit und Größe der angestrahlten Empfindung: Sich erheben…

  1. Verabschiedung – Ende – Applaus????

 Mein Dank gilt dem Land Rheinland-Pfalz, dem Kreis Altenkirchen, der Stadt Wissen, den Mitarbeitern des Kulturwerks Wissen/Sieg und Maria Bastian-Erll, der Veranstalterin dieses Abends vom „buchladen Wissen“!!

Signierte Exemplare von „In meinen Gärten und Wäldern“ erhalten Sie ausschließlich über den „buchladen“ (Tel. 02742-1874)!!

 FINIS

Fasten 3 (im Advent)

In diesen stillen Adventstagen bemühen wir uns weiter um ein genussreiches Fasten.

Diesmal geht es um Kutteln, nicht auf schwäbische, sondern auf italienische Art: mit viel Weißwein, Oliven und starken, scharfen Gewürzen.

Wie ich sie zubereite, habe ich in einer Erzählung genauer beschrieben, die in einem Buch über die Tafelfreuden von Schriftstellerinnen und Schriftstellern erschienen ist. Sie laden ein, ihre Lieblingsgerichte nachzukochen und berichten von den Hintergründen ihrer Passionen:

Tafelrunde. Schriftsteller kochen für Ihre Freunde. Hrsg. von Angelika Overath, Silvia Overath und Manfred Koch. Luchterhand-Verlag