Mit Gianni Rodari unterwegs

Bianchi heißt ein Buchhalter aus Varese, den der italienische Schriftsteller Gianni Rodari (1920-1980) durch die Regionen Italiens reisen lässt. Unermüdlich ist er sieben Tage in der Woche unterwegs, so dass ihn seine kleine Tochter meist nur am Sonntag zu sehen bekommt. An den anderen Tagen telefoniert er abends mit ihr, wenn er seine Arbeit getan hat. Jeden Abend erzählt er ihr eine Gutenachtgeschichte, ohne die sie nicht einschlafen kann.

Der Trick, das Besondere: Die Geschichten haben fast alle dasselbe Format und dieselbe Länge, denn die Telefonate waren zu früheren Zeiten, als diese Geschichten spielen, noch recht teuer. Gerade das aber ist kein Nachteil, sondern kommt den Geschichten zugute. Sie schweifen nicht aus und verheddern sich nicht, sondern erzählen an einem fortlaufenden inneren Strang entlang kuriose und für junge Menschen erfundene Geschichten, die mühelos weitererzählt werden könnten. Alle haben etwas Fantastisches und handeln von Menschen, die meist eine Marotte oder Besonderheit kultivieren.

Alice Purzelchen fällt zum Beispiel überall hinein und ist dann nicht mehr leicht auffindbar. Und drei kleine Brüder aus Barletta laufen über das Land und entdecken eine Schokoladenstraße. In Gavirate lebt eine Frau, die sämtliche Nieser anderer Leute zählt. Und der kleine Martin ist am Ausgang eines Dorfes ausgerechnet auf dem Weg ins Nirgendwo.

Illustriert wurden Rodaris Gutenachtgeschichten am Telefon von Anna Ring, Ulrike Schimming hat sie ins Deutsche übersetzt (Susanne Rieder Verlag, München 2024).

Alle, die ein wenig Italienisch verstehen, könnten sie aber auch selbst übersetzen. Dann sollte man die kleine, rote Reclam-Ausgabe der Favole al telefono (herausgegeben von Michaela Banzhaf) in der Reihe der Fremdsprachentexte Italienisch kaufen.

Auf jeder ihrer Seiten findet man unter dem italienischen Text einige hilfreiche Worterklärungen, so dass man sich nie im Fremdtext verliert. Im Gegenteil, man übersetzt das Italienische im Laufe der Lektüre von Tag zu Tag immer schneller und leichter.

Im Schlussteil gibt es wertvolle Literaturhinweise zu Gianni Rodaris Werk und ein Nachwort von Michaela Banzhaf, das als kleine Einführung in seine Texte, die in Italien längst Klassiker sind, zu verstehen ist.

„Era una persona spiritosa e molto intelligente“, hat Rodaris Frau über den Meister gesagt, und ein guter Freund fügte hinzu: „Era un uomo colto con una fantasia incredibile.“

Meine Empfehlung: Lesen, Übersetzen, Mitfantasieren!!

Ein Moment der Entspannung – Space Night mit Alexander Kluge

In Heft 1/2025 der von mir sehr geschätzten Kunst-Zeitschrift Monopol entdeckte ich ein Gespräch, das Silke Hohmann mit dem Schriftsteller Alexander Kluge über ein „Bauhaus der Gefühle“ geführt hat.

Darin kommen die beiden auch auf das Weltall zu sprechen. Was Kluge dazu sagt, hat mich nicht losgelassen und ich bin ihm nachgegangen: „Sie können mich verrückt machen, wenn Sie mir vom Kosmos erzählen. Dass er so alt ist und auch so jung – und uns mit Gewissheit überlebt. Es gibt mir Trost. Wenn ich merke, dass unsere Zeit verrücktspielt, dann spielt der Kosmos noch längst nicht verrückt. Ich kann dann schon wieder besser hingucken. Und vielleicht finden wir doch einen Ausweg, wenn wir einen Moment entspannen.“

Meine Wege führten mich von diesen Überlegungen zu einem Konzert-Abend in München, in dem das All so gegenwärtig ist wie unsere Gefühle – aufgehoben in Formaten der Musik, die auf Bilder des Alls antworten: Space Night im Sinne von Alexander Kluge!

https://www.ardmediathek.de/video/br-klassik-im-tv/space-night-in-concert-vol-4/br/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdC9GMjAyNFdPMDA1MDI2QTA

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des Blogs ein zumindest halbwegs entspanntes Wochenende!

Twitterpoesie

Gerade jetzt, zu Beginn eines Neuen Jahres, könnte ich die Leserinnen und Leser dieses Blogs an meinen seit ewigen Zeiten verlaufenden Experimenten, die vergehende Zeit festzuhalten, teilhaben lassen. Wie mache ich das? In welchen Formaten? Mit welchem Hintersinn? Ja, das werde ich bald tun.

Zuvor möchte ich jedoch mit einem Lektüreeindruck beginnen, der zur Entspanntheit des Schreibens beitragen könnte. Ich lese nämlich gerade ein Buch von Clemens J. Setz. Es heißt Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie und ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Ich muss vorausschicken, dass ich nie getwittert habe und dass mich die jahrelang anhaltende, dann aber rasch abkühlende Begeisterung für diese Kurzbotschaften von 140 und später 280 Zeichen nie erreicht hat.

Im Fall von Clemens J. Setz war das jedoch anders. Er hat auf Twitter Getextetes mit großer Neugierde wahrgenommen, manche Texte gespeichert und ihre poetischen Valenzen nachempfunden. Sein Buch ist über lange Strecken eine Anthologie seiner eigenen Twittergedichte und im zweiten Teil ein Überblick über Getwittertes anderer Autorinnen und Autoren (und daher eine „Geschichte der Twitterpoesie“ im Kleinen).

Lese ich das nun in Folge und lasse mich in diese im coolen Sinn „lyrischen Momente“ hineinziehen, entsteht eine anhaltend entspannte Laune und eine Freude daran, sprachliche Details auszukosten. So etwa die des Winters, den Clemens J. Setz so einfängt: „Manchmal hebt sich ein Gedanke/wie so eine Parkplatzschranke/und so können Maus und Lurch/wieder ungehindert durch“.

Je länger ich las, umso mehr spürte ich die ansteckende Wirkung dieser Minimalpoesie. Es ist ein Vergnügen, sich auf diesen Wellenlängen zu bewegen, vor allem jetzt, in den dunkleren Jahreszeiten. Das Buch stellt viele Genres und einfache Techniken des Poesiemachens vor, dadurch erinnert es an die Experimente der Dadaisten und Surrealisten, die oft auch im kleinen Kreis dichteten und den Zufällen von Klang und zweiter Bedeutung großen Raum ließen. Eine Lektüre also fürs Mitmachen und Mittexten!

 

Ein Gutes, Neues Jahr!

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs,

während der Weihnachtspause meiner Blogeinträge habe ich viele freundliche, anerkennende und teilweise sogar begeisterte Mails erhalten, die mich gebeten haben, mit der Arbeit an diesem literarischen Projekt unbedingt fortzufahren. Dafür danke ich ganz herzlich. Besonders freue ich mich darüber, dass der seltene Charakter dieses Blogs so häufig erkannt und benannt wurde.

Der Blog ist ein autobiografisches Projekt der Werk-, Arbeits- und Performance-Geschichten eines einzelnen Autors, der seine Leserschaft einlädt, sich an diesen Geschichten kommentierend, fragend und erweiternd zu beteiligen. Er tut das in kalendarischem Modus, indem er auf Besonderheiten der Tage und Jahreszeiten eingeht und daher auch als Chronik gelesen werden kann. 

Außergewöhnlich ist auch, dass die implantierten Geschichten mehrere Künste (Foto/Video/Musik/Kulturjournalismus) einbeziehen und beziehungsreich miteinander verknüpfen. 

Eng verbunden ist er mit meinen Schreibakademien in der SALA Ortheil in Wissen/Sieg sowie den Forschungen des Instituts für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim, für das ich als Seniorprofessor tätig bin.

Ich wünsche Ihnen ein gutes, Neues Jahr 2025, diesmal mit dem Blick auf das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker, seinen Dirigenten Kirill Petrenko, das zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms und Daniil Trifonow am Klavier!

https://www.arte.tv/de/videos/121411-001-A/silvesterkonzert-der-berliner-philharmoniker/

Frohe Weihnachten!

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs,

ab heute ziehe ich mich mit meiner Familie und Freunden in die Weihnachts- und Silvesteremphasen zurück, am 01. Januar 2025 wird der nächste Blogeintrag erscheinen.

Allmählich nähere ich mich der Nr. 2000!

Hinweisen möchte ich noch einmal auf meine „Schule des Hörens“, die ich im WDR 3 Klassik Forum gestaltet und moderiert habe. Den Text (in Form einer Erzählung) habe ich eigens für diese Sendung geschrieben! Er ist unveröffentlicht und wird es noch lange bleiben, bis er einige Geschwister erhalten hat und dann vielleicht in einem Buch in erweiterter und veränderter Form auftreten könnte.

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-klassik-forum/klassikforum-dezember-504.html

Ich danke Ihnen dafür, dass Sie den Blog mit Ihren Lektüren und Kommentaren (ortheil.hannsjosef@gmail.com) das ganze Jahr hindurch mit viel Aufmerksamkeit und Anregungen begleitet haben.

Sollten Sie die Arbeit am Blog durch eine finanzielle Gabe unterstützen und anerkennen wollen, so freue ich mich darüber natürlich besonders.

Hier eine Kontonummer: Commerzbank IBAN DE 34 4604 0033 0368 157400

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Ich wünsche Ihnen Frohe Weihnachten und ein gutes Neues Jahr!

Empfehlungen für Advent und Weihnachten 5

Meine letzte Empfehlung vor Weihnachten gilt einem größeren verlegerischen Projekt und einer wunderbaren Buchreihe (Menschen und Orte). Sie wurde vor zwanzig Jahren von dem Verlegerehepaar Angelika und Bernd Erhard Fischer gestartet und porträtiert in der Form schmaler, ansprechend ausgestatteter Bücher die Häuser, Wohnungen und Regionen, in denen Schriftstellerinnen und Schriftsteller gelebt haben oder noch leben.

Solche Räume sind nicht nur Räume der Inspiration, sondern immer auch Räume kontinuierlicher Arbeit, die sehr individuelle Organisationsformen verlangen. Die Lektüre begleitet also Menschen nicht an zufällig gewählte Orte, sondern an solche, deren Gestalt sie verändert und für die Arbeit kreativ gestaltet haben.

Daher kann die aufmerksame Lektüre dieser Texte fragen, wie schriftstellerische Arbeit in Zeit und Raum verläuft. In diesem Sinne sind diese schönen Bücher anregende Ideenspeicher für die möglicherweise eigene Arbeit.

Ich wünsche viel Freude bei der Durchsicht des Programms – hier ist es zugänglich:

https://www.edition-abfischer.de/buecher/menschen-und-orte/

Das Spiel mit dem Vertrauen

(Als Kolumne am 20.12.2024 auch im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

In meinem Freundeskreis haben wir Freunde uns diesmal besonders heftig und entschieden das Vertrauen ausgesprochen. Können wir einander noch vertrauen, haben wir uns vorher gefragt und sind mit dieser Frage in philosophische und psychologische Terrains gewandert, in denen wir uns bei einigen Kölsch am liebsten aufhalten.

Vertrauen hatte in älteren Zeiten damit zu tun, dass man jemandem über den Weg traut. Dieser Jemand stellt uns keine Fallen, er ist uns vielleicht sogar dabei behilflich, auf dem Weg gut voranzukommen. Jemandem trauen kann aber noch mehr bedeuten, wenn beim Trauen auch Treue im Spiel ist. Dann ist das Trauen durch lange Erfahrung im Umgang mit jemand anderem gleichsam geadelt. Ist jemand treu, haben wir ihn längere Zeit beobachtet und an seiner Seite Erfahrungen mit ihm geteilt, die ihn als treuen, uns zugewandten Menschen erkennbar machen.

Im kleinen Kreis meiner guten Freunde sind solche Formen des Vertrauens lebendig, anders ist es aber um die Politik bestellt. Institutionelle Verbindungen für gemeinsames politisches Handeln wie zum Beispiel Koalitionen beruhen nicht auf Verbindungen von Menschen, die längere Zeit Erfahrungen miteinander gemacht haben. Im Gegenteil, es sind Verbindungen, die unter sich laufend verändernden Umständen immer aufs Neue gegenseitiges Vertrauen herstellen müssen.

Anders gesagt: Koalitionen sind keine Freundeskreise, die abends Kölsch miteinander trinken und dabei immer klüger und reflektierter werden. Es sind vielmehr kurzfristig verbundene Runden, vergleichbar jenen Runden im gehobenen Management, wo das Vertrauen sich am Funktionieren und am wirtschaftlichen Erfolg orientiert.

Psychologische Forschungen haben solche Runden gut untersucht und dabei Erscheinungen von Swift Trust (flüchtigem Vertrauen) beschrieben. Swift Trust entsteht, wenn die Mitglieder einer Gruppe oder Runde sehr heterogen sind, keine langen Erfahrungen miteinander geteilt haben und nicht genügend Zeit zur Vertrauensbildung haben. Die Ampel-Koalition hat genau unter solchen schwachen Vertrauenskonstruktionen gelitten.

Sie waren vorhersehbar und hätten regelmäßig neuer Vertrauensbildungen bedurft. Daran hat es gefehlt. Dass sie fehlten, wurde immer dann nach außen hin deutlich, wenn finanzielle Entscheidungen von großer Tragweite getroffen werden mussten. Dann war „Vertrauen“ nicht mehr abrufbar, allein schon deshalb, weil der mutmaßliche Vertrauenspartner sich unter dem gestiegenen ökonomischen Druck in eine andere Person verwandelte.

Diese Verwandlungen waren die erstaunlichste Seite des Psycho-Schauspiels, das die Ampelkoalition geboten hat. Aus einem früher selbstbewusst wirkenden Hamburger Bürgermeister wurde das Mitglied eines Schweigeordens, aus einem redegewandten Schriftsteller ein zerknirschter Selbsttherapeut und aus einem begeisterten Porschefahrer ein den Tränen naher Pubertierender, der seine Nichtversetzung in die nächste Klasse nicht akzeptieren wollte.

Mit all diesen Umbrüchen, sagen meine Freunde, sollen wir nun zurechtkommen. Wie können wir anhand dieser bedenklichen Signale die Zukunft lesen? Indem wir, haha, die Grundsatzprogramme der Parteien studieren, die jetzt bald in die Haushalte flattern? Oder indem wir selbst in Parteien eintreten, um dort Vertrauen herzustellen?

Keine schlechte Idee, die Vertrauenskrisen haben uns aktiviert und vor neue Herausforderungen gestellt. Wir sollen die Dinge des Lebens in die Hand nehmen, entschlossen und entschieden, schließlich wissen wir, worauf es ankommt. Und woher wissen wir das? Weil wir unseren alltäglichen Haushalt managen, Euro für Euro, Woche für Woche.

Was braucht es noch mehr? fragen meine Freunde, mutig geworden. Selbstvertrauen wäre eine gute Grundlage für die Zukunft. Kein Hin und Her, sondern ein Vertrauen, das auf einer langen Erfahrung mit der eigenen Instabilität beruht. Zu komplex? Ach was, genau richtig – und vor allem ehrlich.

Empfehlungen für Advent und Weihnachten 4

In wenigen Tagen beginnt in Rom Das heilige Jahr 2025! 

Die Verlockung, Weihnachten und die letzten Tage des alten Jahres in der Ewigen Stadt zu verbringen, ist groß. 

Sollte man nicht dorthin aufbrechen können oder wollen, empfehle ich eine Reise in Bildern, begleitet von Musik.

Wer das wunderbare Oratorio del Gonfalone (in der Nähe des Tiber) noch nicht kennt, sollte es zumindest in Gedanken und Fantasien besuchen.

Die Pianistin Beatric Rana hat dort Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Claude Debussy und Frédéric Chopin eingespielt. Unbedingt sehen und hören …:

https://www.arte.tv/de/videos/104038-000-A/beatrice-rana-spielt-bach-chopin-und-debussy/

Empfehlungen für Advent und Weihnachten 3

Mit den beiden Cellistinnen Birgit Heinemann und Uta Schlichtig trete ich dann und wann auch gemeinsam auf. Ich lese Auszüge aus meinen Büchern, und sie antworten auf diese Lesungen mit Musik.

Ihre CD Weihnachtslieder präsentiert Bearbeitungen bekannter Lieder. Darüber schreiben sie:

Aus dem Erleben des stillen Weihnachtsfests 2020 unter Coronaschutzbedingungen mit Lockdown und Singverbot entstand bei uns die Idee, die „alten“, traditionsreichen Weihnachtslieder für zwei Celli zu bearbeiten. Die frühen Weihnachtslieder erstaunen und berühren durch ihren Purismus, ihre Kraft und ihre teilweise hohe Spiritualität.Der Klang des Cellos –  der menschlichen Stimme ähnlich – lässt Raum zur individuellen Empfindung und Begegnung mit diesen an Erfahrung „reichen“ Liedern, die in so vielen für die Menschheit auch schwierigen und bedrohlichen  Situationen im familiären Kreis und im kirchlichen Raum gesungen wurden. Unterstützt und erweitert wurden unsere Arrangements durch die einfühlsamen und inspirierenden Begleitungen mit Gitarre, Djembe und Kontrabass durch Vincent Themba.

Die CD ist über die Website der beiden Musikerinnen zu bestellen:

https://www.violoncello-a-deux.com/kontakt/