Denis Scheck über „Die Mittelmeerreise“

Einige Leserinnen und Leser fanden es schade, dass meine Lesung aus der Mittelmeerreise im Rahmen der lit.Cologne schon früh ausverkauft war und keine Karten mehr zu erhalten waren. Ich kann ihnen versichern, dass es in diesem Herbst noch mehrere Lesungen in Köln und um Köln herum geben wird.

Moderiert hat am vergangenen Freitagabend der Literaturkritiker Denis Scheck. Einen Tag später hat er im WDR noch einmal über meinen neuen Roman gesprochen. Hier kann man hören, was ihn bei der Lektüre beschäftigt hat, so dass auch für die, die nicht live bei der Lesung waren, deutlich wird, was er von der Mittelmeerreise hält: Viel, sehr viel …:

https://www1.wdr.de/kultur/buecher/hanns-josef-ortheil-die-mittelmeerreise-100.html

Begegnung mit einem Kind

Der amerikanische Schriftsteller John Updike (1932-2009) ist erst neun Jahre alt, als ihn seine Mutter auf der Veranda des Großelternhauses in Shillington/Pennsylvania fotografiert. Er sitzt auf den Stufen draußen in der Sonne und hält ein Buch in den Händen. Die Schuhe sind geschnürt, die kurze Hose und eine Jacke lassen den Bub aussehen wie einen kleinen Gelehrten in der Sommerfrische. Die Haare fein gekämmt, eine mächtige Strähne ziert die Stirn.

John war ein Einzelkind, und man sieht der Fotografie an, wie viel besondere Liebe dem Jungen entgegengebracht wird. Anscheinend hat er die Mutter bereits auf irgendeine Weise beeindruckt, sonst würde sie ihm nicht diese konzentrierte Art von Aufmerksamkeit widmen. Eine Aura von frischem Aufbruch und Erwartung umgibt diese Fotografie, sie ist so stark, dass ich mich sofort an ähnliche Kindertage erinnere, als ich für die eigene Mutter ein Motiv oder sogar ein Thema war.

Der alte John Updike hat dieses Foto irgendwann wiederentdeckt und es so ernst genommen, als wäre es die Fotografie einer bedeutenden Fotografin. Er hat es lange betrachtet und dann Detail für Detail beschrieben. Foto und Text markieren einen der Höhepunkte seiner wunderbaren Schriften Über Kunst (1979-2008), die gerade (herausgegeben, aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Antje Korsmeier) im Piet Meyer Verlag erschienen sind.

Seit einigen Wochen lese ich in diesem Band einen Updike-Text nach dem andern. Hat ein Schriftsteller je genauer, liebevoller und emphatischer über einzelne Kunstwerke geschrieben? Und hat es je mehr Freude gemacht, vor großen Bildern in Gemeinschaft eines Begleiters zu verweilen, der sie nicht zutextet, sondern sie mit Hilfe seiner immensen Sehkraft zum Leuchten bringt?

lit.Cologne

Autorinnen und Autoren der lit.Cologne 2019 werden vor ihren Auftritten in retrofuturistischen Umgebungen für ihre Lesungen präpariert. In speziellen Co-Working-Spaces gehen sie ihre Texte durch und sprechen sich mit ihren Moderatorinnen und Moderatoren für den jeweiligen Abend ab. An Getränken gibt es ausschließlich Fritz-Kola, Djahé Bio-Zitronenlimonade oder Tony´s Chocolonety Milchschokolade. An Essbarem sind Humus-Teller, Süßkartoffeln aus dem Ofen oder Spicy karamellisierte Auberginen im Angebot.

Die reichlich im Ambiente platzierten Anweisungen und Empfehlungen fordern Disziplin und Ausdauer ein, so dass viele Eingeladene insgeheim zu jenen Bestandteilen typischen Kölner Lebens und Strebens flüchten, die in zahlreichen Manifesten Konkreter Kölscher Poesie verewigt sind (vgl. den Folgeeintrag plus Foto).

Kreative Verortung 2

„Kreative Verortung“ lässt sich nicht nur dort erkennen, wo im weitesten Sinn künstlerische Prozesse geplant und organisiert werden. Häufig findet man sie auch dort, wo einzelne Personen ein von ihnen erfundenes und auf sie zugeschnittenes „Lebensprojekt“ entwerfen, um das ihr gesamtes Leben kreist.

Vor einigen Tagen habe ich ein solches Projekt am Fall des Freikletterers Alexander Honnold studiert. Er ist die zentrale Figur in dem (gerade mit dem „Oscar“ prämierten) Dokumentarfilm Free Solo von Jimmy Chin und Elisabeth Chai Vasarhelyi. Honnold hatte es sich seit Jahren zum Ziel gesetzt, den fast tausend Meter hohen Granitfelsen El Capitan eines kalifornischen National Parks ohne technische Hilfsmittel zu besteigen.

Die ersten Schritte zu diesem Versuch führten zu einem intensiven Kennenlernen des Objekts. Zusammen mit befreundeten Bergsteigern geht Honnold den Schrecken erregenden, gigantischen Felsen immer wieder von neuem an und entwickelt auf Grund vieler Anläufe (noch mit Haken und Seilen) die ideale Route des Aufstiegs. Die gewaltigen Wände des Massivs mit ihren Vorsprüngen, Rissen und glasglatten Partien werden Zentimeter für Zentimeter „abgeklopft“, bis Honnold für jeden Schritt die passende Griffhaltung der Finger und Hände sowie die Position der Füße bestimmt hat.

So verläuft seine Auseinandersetzung mit dem widerständigen Material, in das er seine „Spur“, die des Aufstiegs in Etappen, einzeichnet. Schließlich hat er in seine Notizhefte den gesamten Weg Schritt für Schritt notiert und kennt ihn so genau, dass er ihn (wie ein Gedicht) auswendig rezitieren kann.

Die eigentliche Besteigung scheitert beim ersten Versuch, Honnold bricht ab, weil die inspirativen Momente nicht stimmen. Seine mentale Fixierung ist nicht stark genug, er ist abgelenkt und spürt, dass er nicht voll und ganz auf den Klettervorgang konzentriert ist.

Dann der zweite Versuch: Unglaublich, wie er, ohne jemals zu zögern, den eigenen „Entwurf“ abruft und beinahe triumphierend leicht die schwierigsten Passagen bewältigt. Zweimal entlockt ihm die eigene Genialität ein Lächeln darüber, wie „schön“ und überraschend „sicher“ der noch nie dagewesene Versuch sich darstellt. Es ist ein Lächeln über die bezwungene Todesgefahr, das den befreundeten Beobachtern unterdessen Tränen in die Augen treibt.

Auf dem Gipfel angekommen, stammelt Honnold die bestätigenden Formeln der gelungenen „Kreativen Verortung“: Ja, ich bin angekommen, ja, ich bin da, ja, ich bin glücklich! Das Material seines künstlerischen Entwurfs ist unter seinen Händen und Füssen zu einem ästhetisch bearbeiteten Kunstobjekt geworden, das vom Tag der Besteigung an nun eingeschrieben und eingraviert ist in die Geschichte menschlichen Agierens und Handelns.

Kreative Verortung 1

Wie nähert man sich den enormen kreativen Potenzen von Karl Lagerfeld? Berichtet man über sie? Lässt man andere davon erzählen? Der französische Regisseur Loïc Prigent hatte eine fabelhafte Idee: Er besuchte Lagerfeld in seinem Studio und drehte ausschließlich an seinem Schreibtisch. Nirgendwo hält sich der Meister lieber auf, und nirgendwo kann man ihn besser dabei beobachten, wie er Ideen entwickelt.

Und wie macht man das? Ganz einfach, man lässt ihn nach einem Zeichenblock (Hochformat) greifen. Und dann gibt man kurze Stichworte vor – und bittet ihn, gleichzeitig zeichnend und erzählend zu antworten: Wie sehen Sie aus, wenn Sie frühmorgens aufstehen? … – und schon geht es los. Der Stift fliegt über das Papier, zeichnet die Haare, die Frisur, die Kleidung, während der lockere, elegante Ton des Sprechens und Redens jedem gezeichneten Detail zu Hilfe eilt.

Diese Konstellation ist eine klassische, gelungene „kreative Verortung“: Man redet und salbadert nicht „über“ Kreativität, sondern zeigt sie in den Momenten ihres Entstehens. Sie sind eng verbunden mit dem „kreativen Raum“, auf den sie angewiesen sind und an dem sie ausschließlich hervorgebracht werden. Im Falle Lagerfelds ist es der mit Zeichenmaterial und Stiften aller Art überfüllte Tisch und ein Zeichenblock im Hochformat, der eine Skizze nach der andern hervorlockt.

Während die eilige, sichere Hand Blatt für Blatt entwirft, fixiert das fortlaufende Erzählen die Bewusstwerdung der Details im Kopf des Zeichners: Die Geste des Zeichnens wird ornamentiert durch die Gesten des Sprechens.

Loïc Prigent arbeitet in seiner Dokumentation Lebens-Skizzen (jetzt über Youtube abrufbar) ausschließlich mit diesem Ausschnitt: Dem Schreibtisch, den Materialien, der impulsiven Gestik. Keine Fotos, keine ablenkenden Interviews mit „Zeitgenossen“ – und vor allem: Keinerlei Kommentar! Die Sache selbst – verortete Kreativität – wird gezeigt – und genau diese Methode macht den Film von Prigent selbst wieder genial.

Anders hören 2

Am 21.03.2019 habe ich in meinem Blogbeitrag das Projekt Anders hören von Marina Abramović in der Alten Oper Frankfurt vorgestellt. Wer an ihm teilnehmen wollte, musste sich zunächst in zwei Sitzungen mit der Abramović-Methode vertraut machen. Sie bestand aus einem mehrstündigen Konzentrationstraining, das auf das Hören eines Konzerts (am vergangenen Sonntag) vorbereiten sollte.

Inzwischen hat dieses Konzert stattgefunden. Viele Zeitungen haben darüber berichtet, auch im Fernsehen waren mehrere Kurzbeiträge zu sehen. Den intensivsten Eindruck von dem Geschehen (an dem ich leider nicht teilnehmen konnte) erhielt ich selbst aber durch sehr ausführliche Berichte von Leserinnen dieses Blogs, die mir ihre subjektiven Erfahrungen mit dem Projekt detailliert mitteilten (großen Dank!).

Beide empfanden die Trainingsübungen als nützlich, interessant und damit als eine gute Vorbereitung auf das Konzert. Beide waren mit dem Konzertverlauf aber weniger zufrieden: Zu viele Menschen, zu viel Bewegung und Unruhe während der Auftritte der Musiker, zu geringe Partizipation an der Musik, die letztlich „verrauschte“.

Nun aber gibt es Wege, mit deren Hilfe nicht anwesende Personen auch im Nachhinein noch direkter einen Eindruck von dem Geschehen erhalten können. Das ist am besten über den TV-Sender Arte und seine Mediatheken möglich.

Dort werden zur Zeit Videos angeboten (einfach „Anders hören“ oder „Abramović“ eingeben), die Elemente des Trainingsprogramms der Abramović-Methode vorführen: Das Betrachten von Farben/ Das Zählen von Reis und Linsen/ Den gegenseitigen Blick (einem Fremden einige Zeit in die Augen schauen).

Ab dem 30. März 2019 ist dann auch das Frankfurter Konzert über Arte Concert abrufbar.

Ich widme mich nun den Übungen – und werde bald genauer darüber berichten, was ich erlebte.

Abschied vom Biathlon

Beim letzten Weltcuprennen der Saison auf dem legendären Holmenkollen sind wir noch einmal dabei. Zur Winterabschlussfeier gibt es Schwarzwälder Kartoffelsuppe mit Biathloneinlage (Pumpernickel) und dazu frisch hergestellte Biathlonlimonade (Granatapfelsirup mit Mineralwasser).

Für unsere deutschen Athletinnen geht es zwar nur noch um gute Plätze, das macht aber nichts, denn jede gibt hier ihr Bestes, so dass wir mit jeder fiebern, anstatt – wie etwa bei den öden Jogi-Löw-Dresscoatspielen – interesselos abzuwinken.

Den Massenstart über 12,5 km (mit zweimal liegend- und zweimal stehendschießen) gewinnt eine Schwedin, und die große Weltcupkugel holt sich die Doro (Wierer) aus Südtirol, während ihre langjährige Freundin, die Lisa (Vittozzi) aus Venetien, den zweiten Platz schafft.

Wir aber gratulieren Denise (Herrmann), die heuer vierte wurde und in dieser Saison lauter fabelhafte Rennen (mit sogar einem Weltmeister-Titel) hingelegt hat.

So, das wollten wir rasch noch festhalten, denn in zwei Wochen hat der Frühling uns solche Meldungen längst aus dem Hirn gepustet, und wir bekommen, verflixt aber auch, eine so extreme Nachrichtendichte nicht mehr zusammen – – bis es am 1. Dezember 2019 wieder von vorne losgeht, und wir uns fragen werden: Doro?! Lisa?! Denise?! – Und wie heißt, bittschön, diese Schwedin mit Vor- und Nachnamen, die …?

Frühlingsmonolog

6.15 Uhr.

Ich werde den ganzen Tag im Freien verbringen, die Gärten aber nicht verlassen.

Ich werde unter dem großen Schirm sitzen und lesen.

Ich werde die blühenden Weißdornsträucher und die trunkene Mirabellenblüte im Blick haben und den Vormittag über reichlich Zitronensoda trinken.

Ich werde nicht telefonieren, wohl aber Nachrichten aus Venedig beantworten.

Ich werde mich in diesen Frühling verwandeln und bis in die Nacht den Geistern ein stilles Quartier bieten.

Aber Herr Ortheil …,

was ist denn das? So viele Bücher? Und alle in Postkisten?

Es sind Neuerscheinungen, die ich bestellt habe und die in letzter Zeit per Post gekommen sind. Zunächst lagere ich sie in gelben Postkisten, weil ich noch nicht weiß, wie ich mit jedem einzelnen Buch verfahren soll.

Und wie verfahren Sie dann?

Ich nehme sie mir vor, blättere, lese, mache mir Notizen – und entscheide, wohin das Buch kommt.

Wohin könnte es denn kommen?

Die einfachste Lösung: Ein Buch bekommt in einem Regal einen Platz und darf „überleben“ und „bleiben“ (für wie lange entscheide ich in regelmäßigen Abständen). Eine andere: Ich schenke es einer bestimmten Person, von der ich annehme, dass es sie interessiert. Die dritte: Ich leite es an eine Bibliothek weiter, die es in ihre Bestände aufnimmt. Auf jeden Fall beschäftige ich mich mit jedem Exemplar ausführlich, weil ich es ja gezielt bestellt habe. Viele der Bücher sind Material für diesen Blog, ich schreibe über sie oder denke über isolierte Passagen nach.

Diese Bestellungen wirken wie ein nicht abreißender Strom …

Ja, keine Flut, kein Bächlein, sondern ein geleitetes Strömen und Fließen, Tag und Nacht …