Hundert Jahre Siegfried Unseld

Am Wochenende berichteten viele Medien von den Feiern und Gedenkveranstaltungen zum 100. Geburtstag des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld.

Der Verlag stellt sein Arbeiten und Schaffen sehr konkret und nachvollziehbar ins Licht. Zunächst durch die Ausgabe von 100 ausgewählten Briefen, die er an seine Autorinnen und Autoren geschrieben hat.

Dann aber auch durch die digitale Präsentation seiner Chroniktexte, die er meist abends schrieb und in denen er protokollierte, was er während der letzten Tage getan, gedacht und mit wem er sich getroffen hatte. Es sind Chroniken im Dienst des Verlages und im Dienst eines Themas (was heißt und bedeutet es, Verleger zu sein?). Eben deshalb sind sie keine Tagebücher oder gar Bekenntnisse. Präzise und meist neutral berichtet Unseld, plant neue Projekte, resümiert, was nottut und lässt die Leserin/den Leser an den Umtrieben des literarischen Lebens teilhaben.

So wird die Lektüre zu einer Übung darin, genauer zu verstehen, wie viel an Kräften, Ideen und Schwung es erfordert, einen Verlag und sein anspruchsvolles Programm so zu inszenieren, dass die gedruckten Werke beachtet werden und die ihnen zustehende Wirkung tun.

https://www.siegfried-unseld-chronik.de/

Lesen! Lange darin lesen! – ist mein Rat – nicht nur für angehende Autorinnen und Autoren!

Daach der koelschen Sproch

Am kommenden Sonntag, 29.9.2024, findet in Köln der erste Daach der kölschen Sproch (http://stadt-koeln.de/daach-der-koelschen-sproch) statt. Ganz Köln spricht dann kölsch oder versucht es zumindest. Viele Vereine, Künstlerinnen und Künstler bemühen sich, Einheimische und Gäste für diese seltene Idee zu begeistern.

Das geschieht durch ein großes Programm mit vielen Veranstaltungen. Es gibt Frühschoppen auf kölsch und zahlreiche Führungen, u.a. auch im Rathaus. Auf Rundgängen treten Theatergruppen und Spielkreise auf und natürlich werden auch „Schnupperkurse“ für Anfänger und Neugierige angeboten. Auf dem Neumarkt gibt es ein Mitmachkonzert für alle.

Ich empfehle besonders den Besuch des Hänneschen Theaters, in dem ich selbst unzählige Male Aufführungen auf kölsch erlebt habe. Viel Vergnügen wünsche ich allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs – und ein anregendes kölsches Wochenende!

https://www.stadt-koeln.de/leben-in-koeln/freizeit-natur-sport/veranstaltungskalender?from=20240929&to=20241006&search_text=&veranstaltung_stadtbezirk=&veranstaltung_kategorie=153#veranstaltungssuchergebnis

Violoncello à deux

Am 29. April 2023 habe ich zusammen mit der Pianistin Olga Scheps in der Kaiserpfalz von Paderborn ein Zusammenspiel von Texten und Kompositionen inszeniert. Leider ist es bisher nicht zu einer Fortführung dieser interessanten und anregenden Zusammenarbeit gekommen.

Nun aber gibt es einen neuen Anlauf. Ich werde mit zwei Cellistinnen aus dem rheinischen Raum mehrere Abende lang das Experiment der Verbindung von Wort und Klang wagen. Dabei werde ich kurze Texte aus meinen Italien-Büchern lesen, auf die Birgit Heinemann und Uta Schlichtig musikalisch mit kurzen Stücken antworten.

Heute proben wir zum ersten Mal, am 6. Dezember 2024 werden wir in Bonn zusammen auftreten (Ort und Zeit werden noch bekanntgegeben).

https://www.violoncello-a-deux.com/

Der Kölner Dom in einer ausgezeichneten Doku

Auf ARTE ist eine ausgezeichnete, neue Doku über den Kölner Dom zu sehen, der mit jährlich sechs Millionen Gästen das attraktivste Reiseziel in Deutschland ist.

Ausgezeichnet, warum? Weil es eine Doku ist, die vor allem von jenen Experten gestaltet wird, die aktiv an der Erhaltung des Domes für die Zukunft beteiligt sind. Allen voran der Dombaumeister, aber auch  Archäologinnen oder Arbeiterinnen und Arbeiter in den Domwerkstätten!

Wie sie dabei vorgehen, welche handwerklichen und digitalen Methoden sie anwenden, wird im Detail gezeigt, so dass man präzise Vorstellungen darüber erhält, in welchen zeitlichen Dimensionen die Projekte der Instandhaltung angelegt sind.

Natürlich gerät auch die Baugeschichte anhand von Modellen in den Blick, und man tritt eine Zeitreise durch die europäische Kulturgeschichte an, in der auch die französischen, vorbildlichen Kathedralen eine bedeutende Rolle spielen.

Ich empfehle diese Doku sehr (und das nicht nur als Kölner, sondern als ein Beobachter, der Architekturgeschichte eben auch als Weltgeschichte begreift).

https://www.arte.tv/de/videos/111661-000-A/der-koelner-dom/

Iiro Rantala in Bonn und im Songbook

Die Auftritte des finnischen Jazzpianisten Iiro Rantala habe ich seit vielen Jahren live oder per CD verfolgt und einige seiner Stücke sogar anhand seines Songbooks (20 Pieces for piano) am Klavier einstudiert.

Ich empfehle die Nachahmung und wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein sonniges Wochenende, verbunden mit Rantalas Auftritt beim Bonner Jazzfest 2024.

Herbstinterview 2 – Was ich in der Auszeit gelesen habe

Hanna: Du hast in der Auszeit erneut Kafka gelesen, das Jubiläum des 100. Geburtstages wirkt nach, oder?

HJO: Ja, ich habe während dieses Jahres wieder mehrere Anläufe zur Kafka-Lektüre unternommen. Es gab sie auch in früheren Zeiten, sie hielten kurz an, dann habe ich wieder aufgegeben. Ich habe mich mit Kafkas Texten nur schwer anfreunden können. Ich habe viele auch nicht gerne gelesen. Andererseits habe ich ihre enorme Strenge und Klarheit sehr bewundert. Das half aber nicht. Ich habe also immer weiter nach einem Zugang gesucht.

Hanna: Hast Du Biografien oder literaturwissenschaftliche Deutungen gelesen?

HJO: Sehr ungern. Biografien über Kafka kamen mir oft so vor, als würden sie diesen Schriftsteller überstrapazieren. Und Deutungen taten das in meinen Augen erst recht. Ich suchte nach einem unmittelbareren Zugang, ohne die Präsentationsformen von Biographien oder Analysen. Ihre Methodiken machen aus Kafka oft eine kuriose Figur, die um jeden Preis etwas Schräges und Blutarmes haben soll.

Hanna: Keine Biografien, keine Deutungen – was denn? In diesem Jahr sind doch gute, sehr lesenswerte Bücher über Kafka erschienen!

HJO: Welche meinst Du?

Hanna: Zum Beispiel die Kafka-Bücher von Rüdiger Safranski (Kafka. Um sein Leben schreiben) und Andreas Kilcher (Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit). Die müssten Dir doch gefallen haben. Sie zielen beide auf den besonderen Schreibimpuls Kafkas, auf seine lebenslange Bindung ans extreme Schreiben und daran, dieses Schreiben als das Zentrum des Lebens zu betrachten.

HJO: Stimmt, ja, diese beiden Bücher sind weit entfernt von starrer Biographik und der Versuchung, jedes Lebensdetail auszustellen. Sie sind sehr gegenwärtig, indem sie vor allem das Schreiben zum Thema machen. Und das wäre ja auch genau der Moment, der mich an Kafka beschäftigt und interessiert: Schrifthingabe, bis zur Auslöschung alles anderen. Dieses Moment ist mir sehr nahe. Ich bin aber noch einen Schritt weiter zurückgegangen und habe Zugänge gesucht, der mir noch größere Freiheiten lassen.

Hanna: Und das wären?

HJO: Ich habe mich an einen Essay von Elias Canetti erinnert, den ich wohl noch als Schüler im Jahr 1969 zum ersten Mal gelesen habe. Damals ist er im Carl Hanser-Verlag als schmales Buch erschienen (Elias Canetti: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice). Der Anlass war die Veröffentlichung dieser Briefe. Ein Band mit 750 Seiten Briefen an die Verlobte Felice Bauer! Elias Canetti hat die Lektüre infiziert und getroffen, gleich zu Beginn seines Essays schreibt er: „Ich habe diese Briefe mit einer Ergriffenheit gelesen, wie ich sie seit Jahren bei keinem literarischen Werk erlebt habe.“ Das ist mir ähnlich gegangen. Ich habe Kafka eher in seinen Briefen entdeckt, er war ja ein manischer Briefeschreiber, oft waren es mehrere an einem Tag. Indem er ein Gegenüber fixierte, ließ sich die Hemmung, „Literatur“ schreiben zu müssen, überspringen. Die Briefe selbst wurden zu „Literatur“, dieses Schreiben räumte ihm alle Freiheiten der Welt ein und band ihn nicht an Themen oder Genres. Canetti geht ihren Motiven nach und erzählt die Geschichte einer Verbindung wie ein Drama mit vielen Akten, Höhepunkten und Katastrophen. Als Leser ist man so einerseits sehr nahe an Kafka, andererseits aber auch nahe an Canetti, der jede Regung in den Briefen nachempfindet. Das ist keine Biographik und keine Analyse, sondern einfach so, dass sich ein sehr aufmerksamer Leser aller Spuren annimmt und sich fragt, wohin sie führen und woher sie kommen.

Hanna: Du schlägst also vor, dieses Canetti-Buch zu lesen?

HJO: Ja, fürs Erste. Unbedingt. Es geht nicht darum, viel Faktisches über Kafka zu wissen, sondern darum, ihm so nahe wie möglich zu sein. Und das erreicht Canetti wie wenige andere.

Hanna: Hast Du noch einen zweiten Vorschlag für eine solche Annäherung?

HJO: Ja, habe ich. Nächstens mehr.

Literatur to go

3sat bietet ein interessantes neues Literaturformat an – Literatur to go! 

https://www.3sat.de/kultur/literatur-to-go

Gezeigt werden fünfminütige Kurzfilme, in deren Verlauf junge Schauspielerinnen und Schauspieler Ausschnitte aus Texten österreichischer Autorinnen und Autoren lesen.

Pfiffig gemacht – man geht nicht gleich aufs Ganze, sondern vermittelt Impressionen und Eindrücke, die etwas vom Temperament des jeweiligen Textes übertragen. Daran könnten auch jüngere Leserinnen und Leser Gefallen finden.

Von nahen Dingen und Menschen in SWR Kultur

Heute spricht Leonie Berger, Redakteurin bei SWR Kultur in der Sendung „Kultur am Samstagnachmittag“ über mein Buch „Von nahen Dingen und Menschen“ (ab ca. 14.30 Uhr).

Hier ein Link zum Beitrag:

https://www.swr.de/swrkultur/literatur/die-poesie-des-alltags-hanns-josef-ortheil-von-nahen-dingen-und-menschen-100.html

Verbunden mit einer Leseprobe aus diesem Buch („Skizzen der Bemutterung“) wünsche ich allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein kreatives Wochenende!

Das Herbstinterview 1 – Was in der Auszeit passiert ist

Hanna: Deine kurze Auszeit ist vorbei, und es gibt einige Veränderungen. Zum Beispiel die, dass Du die Instagram-Posts beendet hast. Warum?

HJO: Ganz einfach, ich hatte verstanden, was ich damit verbinde: Ein Foto vom Tage, eine Bildunterschrift – die Spannung zwischen Bild und Text war das Interessante. Die Verweise, die Querverbindungen, das manchmal vielleicht Rätselhafte. So etwas zu gestalten, hat eine Weile Spaß gemacht, lässt sich aber nicht unbegrenzt fortsetzen. Es nutzt sich ab. Als ich das spürte, habe ich sofort aufgehört. Mal sehen, vielleicht steige ich irgendwann wieder für eine erneute Testphase mit anderen selbst gewählten Vorgaben ein. Instagram auf ergebene Weise bedienen werde ich jedenfalls nicht, ich möchte das Format mit eigenen, literarischen Perspektiven gestalten.

Hanna: Die Darstellung der Lebenswelten, von der Du gesprochen hast, war für mich trotz aller Rätselhaftigkeit mancher Posts und Texte dennoch gut zu erkennen. Ich habe den Westerwald, Köln, Mainz und Stuttgart gesehen, aber auch Wuppertal – alles Landschaften und Städte, in denen Du lebst oder früher einmal gelebt hast.

HJO: Ja, und es sind Räume, zu denen ich mich nach wie vor stark hingezogen fühle. Wenn ich eine Weile nicht da war, möchte ich wieder hin und mich dort umschauen.

Hanna: Dass Wuppertal dazu gehört, wusste ich bisher nicht.

HJO: Wuppertal gehört unbedingt dazu. Ich bin dort in die Volksschule und ein paar Jahre aufs Gymnasium gegangen und habe noch viele Freundinnen und Freunde aus sehr alten Tagen.

Hanna: Plötzlich tauchte in den Posts das Video einer Schwebebahnfahrt auf. Bist Du als Kind häufig mit der Schwebebahn gefahren?

HJO: Alle paar Tage! Eine Zeitlang war die Schwebebahn für mich das große Wuppertal-Ereignis! Fahren von Endstation zu Endstation, von Vohwinkel bis Oberbarmen – das war und ist einfach nur herrlich! Alle Widerstände sind beseitigt, die Bahnen halten nur auf den Bahnhöfen, in einem ganz regelmäßigen Minutentakt. Keine Sperrungen, keine Umwege, keine Staus – ein ruhiger Fluss des Sehens, ein Flug, meistens über der Wupper, die sich in ein manierliches, sauberes Gewässer verwandelt hat. In meinen Kindertagen stank sie fürchterlich, und die Abwässer aus den Chemiebetrieben hatten sie rot, blau und grün gefärbt.

Hanna: Haben Dich die kurzen Kommentare von Leserinnen und Lesern zu Deinen Posts irritiert?

HJO: Nein, überhaupt nicht. Sie hatten ja genau den Touch, den man mit den sozialen Medien verbindet: Hallo, gefällt mir/gefällt mir nicht, und: Ich bin auch noch da! Klickklack – man grüßt und wendet sich dem nächsten Fluxus am Horizont zu. Genau das ist ja „das Soziale“ daran, das Mitmachen, die Meldung, das Lebenszeichen! Ich empfinde es als harmlos, es bleibt nicht in Erinnerung, weil es sich eben nicht um lange durchdachte oder bewusster angelegte Texte handelt. Es sind typische Reflexe, und mehr wollen sie ja auch gar nicht sein.

Hanna: Ich weiß, dass Du täglich fotografierst, nur für Dich, ohne die Fotos zu teilen. Im Fall der Instagram-Fotos war das nun anders. Hat das die Auswahl der Fotografien beeinflusst?

HJO: Ja, hat es. Ich habe aus den täglich gemachten Fotos eines ausgewählt, das einen dazu gehörenden Text murmelte. Ich schaute auf das Foto und hörte oder dachte den Text. Das ging zusammen, schnell, wie ein Blitz. Ich habe nicht nach dem Text gesucht oder mir lange Gedanken gemacht. Ich schaute ein Foto an, und im selben Moment regte sich der Text. Das Gehirn hatte also auf ein Foto-Text-Verfahren umgeschaltet, angeregt dadurch, dass ich das Foto versenden wollte. Das Versenden aktivierte einen sprachlichen Raum, denn die gesendeten Fotos gehörten nicht mehr nur mir und dem bisherigen Schweigen, sondern wurden in den sozialen Raum getaucht. Und in der Tiefe dieses Raums meldeten sich sprachliche Fetzen.

Hanna: Das Instagram-Hirn war aktiv, und in Deinem Fall zog es Textformen an, die auf das Foto reagierten.

HJO: Ich sollte einen neurobiologischen Aufsatz schreiben: Das Instagram-Hirn als Fluxus-Content.

Hanna: Leg mal los, diktiere die ersten Sätze, ich mache mit.

Die nächsten Lesungen

Bevor ich in diesem Blog eine kleine Spätsommer-Auszeit einlege (der nächste Eintrag wird am 11.9.2024 erscheinen), hier eine Übersicht über die nächsten Lesungen  (in Neuwied, Brühl und Wittlich). Das sind die notwendigen Informationen:

Neuwied (25.9.2024)

https://www.ticket-regional.de/events_info.php?eventID=214138

Brühl (27.9.2024)

https://www.penguin.de/empfehlungen/events/27092024-hanns-josef-ortheil-lesen-schreiben-leben-hanns-josef-o

Wittlich (1.10.2024)

https://www.altstadt-buchhandlung.biz/veranstaltungen/lesung-mit-hanns-josef-ortheil-von-nahen-dingen-und-menschen

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des Blogs einen inspirierenden zweiten Hochsommer mit vielen entsprechenden Freuden!