Charaktere 1

Morgen, am 11.10.2022, erscheint mein neues Buch Charaktere in meiner Nähe (Reclam-Verlag). Es gehört in eine lange ästhetische Tradition des Sehens und Beobachtens, die ich in einigen Blogeinträgen skizzieren möchte.

Ihre Ursprünge liegen in der Antike, im alten Athen, wo sich der Dichter Theophrast in den Jahren um 320 v.Chr. auf den Straßen umschaut und das menschliche Verhalten studiert. Dabei entdeckt er typische Verhaltensformen und Eigenheiten, die er nicht in Erzählungen, sondern in detailreichen Charakteristiken präsentiert. Er nennt diese von ihm kreierte literarische Form „Charaktere“ und beschreibt dreißig typische Gestalten.

Theophrasts Studium der Menschen geht vom Auge und Beobachtungen direkter Wahrnehmung aus. Es maßt sich keine Aussagen über das Innenleben der porträtierten Personen an, sondern bleibt auf Distanz. Theophrast ist also Zuschauer und kein Interpret. Nur, was gesehen, verfolgt und mehrfach wahrgenommen werden kann, kommt für ihn in Betracht.

Damit geht er den Malern und Bildhauern voran, die bald ebenso dazu übergehen werden, „Charaktere“ darzustellen und zu porträtieren. Das geschieht in der Form von Bildnissen oder Skulpturen, die ebenfalls durch Beobachtungen im öffentlichen Raum entstehen.

Dadurch erhalten diese Figuren etwas Theatralisches, als spielten sie auf einer Bühne und stellten etwas dar. Bekannt geworden ist etwa die antike Figur der „trunkenen Alten“ aus dem 3. Jahrhundert v.Chr., die sich heute in der Münchener Glyptothek befindet (siehe unten).

Theophrast hat mit seinen Charakteren die ästhetischen Voraussetzungen auch für andere Künste geschaffen, um das individuelle Verhalten von Menschen in Kontexten des „theatrum mundi“ zu erkennen.

In der neuzeitlichen Moderne werden seine Erfindungen radikalisiert und erhalten noch größeres Gewicht. Dann dienen sie dazu, sich in der chaotischer werdenden Welt besser zurecht zu finden und die Umgebung genauer zu orten: Im präzisen Blick auf den Anderen, den Gegenüber.

Ein Herbstsonntag

Was für ein schöner, sonniger Herbstsonntag! Eine wunderbare Lesung im Rahmen der Badenweiler Literaturtage liegt hinter mir: 400 Zuhörerinnen und Zuhörer, eine kluge und hochkonzentrierte Moderation durch Rüdiger Safranski, 80minütiges Signieren meiner Bücher (Rekord!).

Übermorgen erscheint mein neues Buch „Charaktere in meiner Nähe“ (Reclam-Verlag).

Die Entsprechung in der Musik findet man bei den sog. „Charakterstücken“. Eines der frühesten hat François Couperin (1668-1733) komponiert und darin „La Fleurie ou la tendre Nanette“ („Die Blühende oder die zarte Nanette“) porträtiert.

Verbunden mit diesem musikalischen Ausblick auf die kommende Woche wünsche ich Ihnen einen entspannten und kreativen Sonntag:

Literatur-Nobelpreis für Annie Ernaux

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erhält den Literatur-Nobelpreis 2022.

Ich empfehle eine Sendung in der Arte-Mediathek. Dort sind eine Stunde lang private Filme mit der Super-8-Kamera zu sehen, die in ihrer Familie während der frühen siebziger Jahre entstanden sind: Szenen des Familienlebens, von ihr später kommentiert und geschnitten.

https://www.arte.tv/de/videos/101402-000-A/annie-ernaux-super-8-tagebuecher/

Mein Japanischer Taschenkalender

Das Jahr 2022 geht auf sein Ende zu… – höchste Zeit, dass ich meinen Lieblingskalender für das kommende Jahr 2023 bereit halte :

Japanischer Taschenkalender für das Jahr 2023 (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung)

            Wie schon in den letzten sechs Jahren führt mich der wunderbar ausgestattete, handliche Band anhand von über fünfzig ausgewählten, zur jeweiligen Jahreszeit passenden Haikus durch die Monate.

Jedes Haiku wird von der Abbildung einer Malerei oder Zeichnung begleitet, die den Text der Verse anschaulich macht.

Erhellend sind daneben die Kommentare des Japanologen Ekkehard May. Sie machen die Verse der japanischen Klassiker (wie Matsuo Bashô u.a.) erst für europäische Leserinnen und Leser verständlich.

Hier ein Beispiel aus den Januar-Seiten (4 Seiten, bitte ganz nach unten gehen…)

 

Der Beginn meiner Herbst-Lesungen

Am kommenden Donnerstag (6. Oktober 2022) beginnen meine Herbst-Lesungen im Rahmen der Badenweiler Literaturtage, die ich zusammen mit dem Philosophen Rüdiger Safranski um 20 Uhr eröffne.

Ich lese Passagen aus dem Roman Ombra und spreche über meine Autobiographie des Schreibens (Ein Kosmos der Schrift), ohne deren Lektüre viele Zusammenhänge meiner Bücher im Dunkeln bleiben.

Als Zugabe werde ich zum ersten Mal aus den Charakteren in meiner Nähe (Reclam-Verlag) lesen, die ab dem 11. Oktober 2022 in den Buchhandlungen zu erhalten sind.

https://www.badenweiler-literaturtage.de/

Erwin Wortelkamp wird Ehrenbürger

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs,

Heute, am 01. Oktober 2022, wird mein langjähriger Freund Erwin Wortelkamp (geb. 1938 in Hamm/Sieg), dessen künstlerische Arbeiten ich jahrzehntelang mit meinen Texten begleitet habe, Ehrenbürger des Städtchens Acquaviva/Picena in den italienischen Marken, südlich von Ancona.

Während der festlichen Zeremonie wird auch mein Städteporträt von Acquaviva zu Wort kommen, das die Interessierten in den Italienischen Momenten (S.294300) finden. (Auf versteckte Weise spielt der Ort auch in meinem Roman Die große Liebe eine bedeutende Rolle.)

Hier der Anfang des Porträts:

1

Vom nahen Meer aus sieht man die Häuserlinien des Ortes hoch oben, verteilt auf zwei Hügel­kuppen, eine geduckt liegende Katze, die hinauf­geflohen ist in die Berge, wo sie sich jetzt streckt in der Sonne.

Man erkennt das Kastell, das mächtige Rund des Hauptturms, der aber vom Meer aus nichts anderes ist als der Katzenkopf, schwer auf den Boden gesunken. Vom Kastell aus dehnt sich die Rückenlinie des Tieres in braunen Erdtönen über die beiden Hügel, haltend und ruhend. Meerabgewandt, fern erscheint der Ort, eine hohe, stille Schwebe, ein Vorposten der nahen Bergwelt, ein ganz in sich kauerndes Wesen.    

2

Fährt man vom Meer aus den langen Serpen­tinenweg hinauf, hält sich der Ort noch lange ver­steckt. Obwohl man kaum mehr als eine Viertel­stunde unterwegs ist, zeigt er sich erst ganz zum Schluß des Panoramawegs, um einen dann zu umschließen und einzufangen.

Jetzt, am Ende des Wegs, hat man das Meer verloren, der lange schillernde Anblick des weiten Blaus mit seiner weißen Strandlinie ist Teil einer anderen Geschichte, der Geschichte der Ebene, während hier oben, in Acquaviva, kaum acht Kilometer vom Meer entfernt, eine Geschichte der Höhe geschrieben wird, eine Geschichte aus Stein und Erde.

So hat man innerhalb kürzester Zeit zwei extrem verschiedene Welten erfahren; eben noch gab es nur die unendliche Dehnung des Meeresblaus, die Phalanx der ausfahrenden Schiffe, nichts als Spieltänze auf Horizontalen, während der Ort oben erstarrt scheint in vertikaler Behauptung, die Häuser sich an die Hügel klammern und das Kastell sich mit seinen vier Türmen vierfingrig hält.

Man steigt aus, und plötzlich ist die eigentümli­che Stille der Höhe da, kein Rufen, kaum Bewe­gungen, alles schaut, ist zur Ruhe gekommen. Doch, man sieht das Meer noch, wie ein nicht mehr erreichbares Traumterrain, das Gelände der freien Tage, unernst, heiter. Aber hier oben wird das alles nur noch erinnert; der Blick wendet sich anderen Verhältnissen zu, denen der umgeben­den Hügel und denen der Berge, die Schluß machen mit den leichteren Bildern der Ebenen.

3

Die Landschaft, die man von der Höhe aus gewahr wird, eine beinahe klassische Landschaft der Marken, beschäftigt das Auge mit unend­licher Abwechslung auf engstem Raum. Der ungenaue Blick nimmt nichts anderes wahr als Felder und Weinberge, Olivenbäume, längst verlassene alte Bauernhäuser, schmale, kurven­reiche Wege und Pfade.

Schaut man sich aber in diese Landschaft hinein, so wird man die Abweichungen bemerken, die kleinen Unregelmäßigkeiten, Brüche, Verwerfun­gen, Schluchten, verstreut versetzte Bäume, eine absonderliche Geometrie der Flächen, die sich nirgendwo beruhigen und die seltsamsten Muster bilden.

Vertieft werden diese Muster durch die chan­gierenden Farben: ein immer wieder ins Dunkle übergehendes Ackerbraun, ein fahler, ausge­waschener Ockerton, ein undeutlich bleibendes Grün…, all das aber nur wie der Untergrund zu den erhabeneren Flächen des Himmels, der sich von den Bergen her auf die Landschaft zurollt. Es ist der Himmel, der diesen Ort berührt, oben vielleicht, an den Turmspitzen des Kastells. Und so gelten die Blicke der Bewohner dem Himmel und seiner beunruhigenden Weite, in steter Erwartung, was kommen wird, aus dem Jenseits der Berge…

Ich gratuliere Erwin und Ulla Wortelkamp, seiner Frau, ganz herzlich und wünsche Ihnen, den Leserinnen und Lesern dieses Blogs, ein entspanntes, verlängertes Wochenende!

Doppelleben von Alain Claude Sulzer

Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman Doppelleben von den Brüdern Goncourt. Edmond (1822-1896) und Jules (1830-1870) hatten ein großes Vermögen geerbt und lebten zusammen in einem Haus, von dem aus sie das Pariser Künstler- und Literatenleben verfolgten und exponiert an ihm teilnahmen.

Ihre Eindrücke hielten sie in einem gemeinsam geschriebenen, zunächst geheim gebliebenen Tagebuch fest, das erst vor wenigen Jahren komplett auf Deutsch in elf Bänden erschienen ist. Nicht nur an diesem einzigartigen Dokument, sondern auch an ihren Romanen, Essays und Sachbüchern schrieben sie zu zweit und waren das prominente Beispiel einer nicht nachlassenden Bruderliebe.

Alain Claude Sulzer porträtiert ihr Doppelleben in wunderbar einfühlsam geschriebenen Szenen, die selbst etwas vom ästhetischen Impressionismus der Goncourts haben. So erlebt man die Pariser Welten des späten neunzehnten Jahrhunderts präzise und en détail, von den Gerüchen über die Klänge und Laute bis hin zu den oft skurrilen Dialogen und Beobachtungen der Protagonisten.

Der Roman komponiert kurze Szenen zu einer Folge, in deren Verlauf man immer näher an die Ideen, Vorlieben und Eigenheiten des Brüderpaares herangeführt wird. Man hört, liebt, isst und trinkt mit ihnen, und man erlebt, wie aus den Begebenheiten des Alltags literarische Texte entstehen.

Ganz nebenbei kommt man einem Rätsel auf die Spur, dessen psychologische Hintergründe bisher noch niemand so virtuos dargestellt hat.

Ich empfehle diesen Roman sehr, er gehört zu meinen Favoriten in diesem Herbst und hat meinen ganz persönlichen Deutschen Buchpreis verdient!

  • Alain Claude Sulzer: Doppelleben. Roman. Galiani Berlin 2022

700 Jahre Weihe des Kölner Domchores

Vor 700 Jahren, am 27. September 1322, wurde der gotische Chor des Kölner Doms, in dem heute der Dreikönigenschrein steht, geweiht.

Aus diesem besonderen Anlass hat der Kölner Stadt-Anzeiger ein 3D-Modell des Doms vorgestellt, mit dessen Hilfe man den gesamten Dombau aus allen nur denkbaren Perspektiven studieren kann:

https://kstamedien.pageflow.io/koelner-dom-in-3d#350355

Heute Abend um 18.30 Uhr findet im Dom ein feierliches Hochamt statt, das vom Domradio auch in die Ferne übertragen wird.

Donna Leon wird 80 Jahre alt

Die amerikanische, in der Schweiz lebende und von Venedig geradezu besessene Schriftstellerin Donna Leon wird übermorgen achtzig Jahre alt. Deshalb hat die NZZ ein Interview mit ihr veröffentlicht, das mir aus vielerlei Gründen gefällt (siehe unten).

Würde man mich dagegen fragen, ob mir ihre Brunetti-Romane gefallen, würde ich so antworten, wie sie das tut, als sie auf die deutschen Verfilmungen angesprochen wird: Nächste Frage bitte! Anders als sie haben mich aber diese sehr deutschen Verfilmungen immer angezogen, und ich habe sie oft und immer wieder gesehen.

Warum? Weil ich die Handlung weitgehend ausblendete und die auftretenden Figuren der Serie mochte. Und weil ich mich auf die Ecken und Winkel Venedigs konzentrierte und viele wiedererkannte.

Brunettis venezianische Wohnung liegt in den Verfilmungen genau gegenüber dem Deutschen Studienzentrum (siehe Foto unten!). Über diese Nachbarschaft habe ich eine kuriose Erzählung geschrieben: Brunetti winkte. Bald wird sie in einem Jubiläumsband des Studienzentrums erscheinen.

https://www.nzz.ch/feuilleton/ich-bin-so-froh-ist-commissario-brunetti-kein-dysfunktionaler-alkoholiker-der-nur-schlechte-laune-verbreitet-ld.1698608

Einladung zu einem literarischen Wochenende

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, ich lade Sie herzlich zu einem sehr besonderen, literarischen Wochenende in meinem westerwäldischen Heimatort Wissen/Sieg ein.

Es beginnt am Samstag, 15.Oktober 2022, um 18 Uhr in der SALA ORTHEIL, Mittelstraße 16, mit einem „Herbstgespräch“. Ich erläutere meine gegenwärtigen literarischen Arbeiten und beantworte Ihre Fragen und Kommentare, die Sie zu allen nur denkbaren Themen einbringen können.

Für dieses Herbstgespräch in kleiner Runde (der Eintritt ist frei) sollten Sie sich bitte bis zum 27.09.2022 hier ortheil.hannsjosef@gmail.com anmelden (kommen Sie allein oder zu zweit?). Meine Mitarbeiterin Hanna Bernike wird Ihre Anmeldung bestätigen oder Sie bitten, es im nächsten Jahr noch einmal zu versuchen.

Eine Leserin, die bereits am „Sommergespräch“ (26.08.2022) teilgenommen hat, hatte die schöne Idee, die Unterhaltungen anschließend ab 20 Uhr (diesmal aber ohne mein Beisein)  während eines gemeinsamen Abendessens (in der „Alten Post“ in Wissen, am Siegufer) fortzusetzen. Auch dazu sollten Sie sich bis zum 27.09.2022 anmelden – und zwar hier: emmer-funke@t-online.de

Am Sonntag, 16.10.2022, können Sie um 11 Uhr im KulturWERK von Wissen die Lesung aus Ein Kosmos der Schrift und dem gerade erschienenen Buch Charaktere in meiner Nähe erleben.

Und am Nachmittag des 16.10.2022 könnten Sie um 17 Uhr an der Lesung des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow aus seinem neuen Buch Samson und Nadjeschda (ebenfalls im KulturWERK) teilnehmen.

Weitere Informationen (zu Karten für die beiden Lesungen etc.) finden Sie hier, in einem Artikel des AK- Kurier:

https://www.ak-kurier.de/akkurier/www/artikel/120792-wie-zu-beginn-des-jahrtausends–ein-literarisches-wochenende-in-wissen

Mit diesen schönen Aussichten und in Vorfreude wünsche ich Ihnen ein anregendes Wochenende!