Vorgestern habe ich vor der Veranstaltung in Fellbach („Heimat-en“) mit der Moderatorin Mareike Gries ein Gespräch über meine „Urheimat“ im Westerwald und mein neues Westerwald-Buch („Unterwegs im Westerwald“) geführt. Es wird heute in „SWR 2 am Nachmittag“ gegen 15.08 Uhr gesendet (Länge etwa 15 Minuten). Hier ist es bereits jetzt zu hören:
Am Schluss dieses Gesprächs komme ich auf Domenico Scarlatti zu sprechen. Da diese Musik nicht in dem aufgezeichneten Beitrag erscheinen darf, stelle ich sie den Leserinnen und Lesern dieses Blogs hier zur Verfügung.
Viel Freude mit alldem und ein schönes, sonniges Wochenende!
Ich habe eine Ur-Heimat, die befindet sich in dem westerwäldischen Ort Wissen/Sieg, in dem meine Großeltern und Eltern gelebt haben und später auch gestorben sind.
Die Häuser und Lebensräume meiner Ahnen und Urahnen bestehen alle noch und werden heutzutage von meinen Verwandten (Cousinen, Vettern etc.) bewohnt. Wenn ich mich in den Biergarten meines Vetters setze, der neben dem Gasthof meiner väterlichen Großeltern liegt, setze ich mich an einen Ort, der bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht und fast unverändert ist. Die schönen Linden hat mein Großvater pflanzen lassen, das Landbrot mit feinem Schinken stand schon auf der Speisekarte von 1910.
Sie leben aber doch auch in Stuttgart und in Köln, ist das richtig?
Ich lebe etwa die Hälfte eines Jahres in der Ur-Heimat – in meinem in den fünfziger Jahren von meinen Eltern erbauten Elternhaus. Damit verbinde ich noch immer die stärksten Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Wenn ich an einem größeren Projekt arbeite, ziehe ich mich dorthin zurück, gehe viel spazieren und schwimmen und genieße die ländliche Ruhe der Höhenzüge des Westerwaldes.
In Köln habe ich eine kleine Wohnung, die ich zusammen mit anderen Bewohnern nutze. Köln ist die Großstadt meiner Kindheit, etwa eine Stunde Zugfahrt von der Ur-Heimat entfernt. Beide Welten stehen aber in engem Kontakt, auch in Köln kann ich sehr gut arbeiten und denken, nur anders als im Westerwald – schneller, gegenwärtiger, was dann meist zu aktuellen, journalistischen Texten führt, von denen viele im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erscheinen.
In Stuttgart schließlich lebe ich in einem großen Gartengelände, das war und ist der Versuch einer Zweiten, Neuen Heimat – ein Anlauf, der sich aus familiären Konstellationen ergab. Stuttgart ist die Stadt, die ich seit vierzig Jahren durchlaufe und umkreise: eine Stadt ohne Kindheitserinnerungen, ein Studium der Fremde, die ich mir in Bruchstücken aneigne. Letztlich ist es ein Experiment der Beheimatung.
Gibt es eine Musik, die sie mit der Ur-Heimat verbinden?
Ja, das kleine Stück Kind im Einschlummern aus den Kinderszenen von Robert Schumann. Etwas mehr als zwei Minuten. Da ist alles drin: Das einsetzende Abdriften in die Fantasiewelten des Traums, das letzte Verweilen in den Tagesbildern, das Tröstliche beim Abschiednehmen von den vitaleren Lebenswelten – also das ganze heimatliche Bei-sich-Sein.
So ein Juwel konnte nur Robert Schumann komponieren, niemand sonst.
Am kommenden Donnerstag (12. Mai 2022), 19 Uhr, unterhalte ich mich in dem schön gelegenen Weinort Fellbach (bei Stuttgart) mit den Schriftstellerinnen Anna KatharinaHahn und Iris Wolff, moderiert von Silke Arning, über die Bedeutung, die sehr unterschiedliche Formen und Geschichten von Heimat für unser Schreiben haben. Bei dieser Gelegenheit spreche ich auch über mein neues Buch „Unterwegs im Westerwald“ (Insel-Taschenbuch). Dazu lade ich die Leserinnen und Leser dieses Blogs sehr herzlich ein:
gestern habe ich Ihnen in diesem Blog eines der neuen Bücher vorgestellt, das unsere Sicht auf Literatur und literarische Arbeit verändern und beleben könnte.
Am kommenen Montag, den 9. Mai 2022, spreche ich um 19.30 Uhr im LiteraturhausStuttgart mit der Autorin Carolin Amlinger („Schreiben“, gerade bei Suhrkamp erschienen) und der Literaturagentin Karin Graf genau über diese Themen.
Über Ihre Teilnahme vor Ort würde ich mich besonders freuen. Wer nicht anreisen kann, mag den Abend am Monitor/Bildschirm/Smartphone etc. verfolgen.
Ein schönes, kreatives Wochenende wünscht ihnen Hanns-Josef Ortheil- bis Montag!!
Die genaueren Informationen zu Montagabend finden Sie genau hier:
Die Vorstellungen davon, wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller existieren und wie sie ihr Leben finanzieren, sind noch immer stark idealisiert. Sie haben mit den schöngeredeten Fantasien über ein Leben zu tun, das sich in risikofreier Einsamkeit selbstbezogen organisiert.
Solche Träume sind Jahrhunderte alt, doch sie bestimmen auch noch immer die Fantasien des Lesepublikums, das die Literatur nur zu gern als ein Terrain genialen, kreativen Schaffens imaginiert.
Den kritischen Blick auf solche Fantasien schärft eine Anthologie, die nach den Lebensbedingungen der Schreibenden fragt und nach den Strukturen, mit deren Hilfe sie ihr Leben von Tag zu Tag organisieren.
Sie besteht aus konkreten Erfahrungs- und Erlebnisberichten von beinahe zwanzig Autorinnen und Autoren, die bestehende Schamschwellen überspringen und offen davon erzählen, wie sie das Schreiben als „Arbeit“ neben den Brotjobs anderer, meist nicht freiwilliger „Arbeiten“ betreiben. Ich empfehle:
Brotjobs & Literatur. Hrsg. von Iuditha Balint, Julia Dathe, Kathrin Schadt und Christoph Wenzel. Verbrecher Verlag 2021
Heute, am 5. Mai 2022, erscheint in dem Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch das Buch eines in Köln lebenden und arbeitenden Musikers und Autors, auf das ich lange gewartet habe: Azzurro von Eric Pfeil.
Es ist eine Italienreise ganz besonderer Art, denn es stellt 100 Canzoni vor, die Eric Pfeil ausgewählt hat, weil sie ihn während seiner Italienreisen begleitet haben und der unverzichtbare emotionale Hintergrund seiner Italien-Erlebnisse waren.
In einem Interview des Magazins für Insolvenz & Pop (Kaput) hat er das genauer erklärt:
Gestern früh schrieb ich einen Blogeintrag darüber, wie es mit meinen Projekten weitergeht. Gestern nachmittag schickte der Reclam-Verlag seine Vorschau für den Herbst 2022, so dass man sich jetzt auch ein Bild machen kann…
Herr Ortheil, Sie waren gerade einige Tage in Klausur, um ein literarisches Projekt zu beenden. Worum handelt es sich?
Ich arbeite eigentlich immer an mehreren Projekten zugleich. Das tut ihnen gut, denn dadurch konzentriert sich das Hirn nicht einfältig auf einen Text und sein Kontinuum, sondern switcht laufend zwischen den Molekülen mehrerer Projekte hin und her. Sie regen sich gegenseitig an, dadurch entstehen unerwartete Konstellationen.
Beendet habe ich in den letzten Tagen mein Theophrast-Projekt, von dem ich bereits einige Bausteine in diesem Blog veröffentlicht habe. Theophrast hat im alten Athen die Charaktere seiner nächsten Umgebung studiert und porträtiert, das habe ich zum Anlass genommen, aus heutiger Perspektive über „Charaktere in meiner Nähe“zu schreiben. Fünfzig Charaktere habe ich so entstehen lassen, kuriose, humoristische Betrachtungen zur Comédie humaine unserer Zeit.
Werden sie als Buch erscheinen?
Ja, die Charaktere in meiner Nähe werden in diesem Herbst 2022 im Reclam-Verlag erscheinen, wunderbar ausgestattet und mit einem Umschlag, der durch ein Bild von Edward Hopper gestaltet wird. Das wird ein sehr schöner und bestimmt anregender Band, der dazu verführen könnte, die Mitmenschen genauer zu beobachten und zumindest in bestimmten Hinsichten auch zu begreifen
An welchen Projekten arbeiten Sie außerdem?
Ich denke momentan sehr viel über Fotografien nach. Der Anlass ist ein Vortrag, den ich am 19. Mai im Siegener Museum für Gegenwartskunst über den Fotografen August Sander halten werde. Dabei geht es aber nicht nur um Sander, sondern eher um die Ideen und Philosophien, die ich mit Fotografie verbinde.
Ich frage also: Was hat dieses Medium mit mir gemascht, wo ist es in Erscheinung getreten, wie bin ich damit umgegangen? Daraus entstehen vielleicht neue Gedanken über Fotografie und Film. Die sollen nun wiederum in einem Band erscheinen, der im Frühjahr 2023 bei btb erscheint. Er wird jene „Kunstmomente“ sammeln und vorstellen, die in meinen bisherigen Werken eine wichtige Rolle gespielt haben.
Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich einen ruhigen 1. Mai, verbunden mit der neuen CD des gerade siebzig Jahre alt gewordenen norwegischen Pianisten KetilBjørnstad :