Gesundheit aus dem Garten

Pünktlich zum Frühlingsbeginn veröffentlicht der Reclam-Verlag ein bisher relativ unbekannt gebliebenes Buch eines römischen Autors aus dem 3. Jahrhundert: Gargilius: Gesundheit aus dem Garten. UB 14251. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Kai Brodersen. Darin stellt der Autor Listen mit Heilmitteln zusammen, die aus Gemüse und Obst hergestellt werden.

Das jeweilige Anwendungsspektrum ist dabei recht breit. Rettichsamen, mit etwas Honig eingenommen, lindert nicht nur Husten, sondern stimuliert (mit etwas Salz) auch das sexuelle Verlangen. Wassermelone ist ein Allheilmittel, es lockert nicht nur den Magen, sondern beruhigt generell. Pistazien sind sehr wohltuend, wenn man sie klein schneidet und vor dem Genuss in Wein einlegt. Und wer kaum noch Appetit hat, dem kann Quittensaft helfen, zwei oder drei Stunden vor einer Mahlzeit verabreicht.

Im Anhang gleicht der Medizinhistoriker Robert Jütte die antiken, von Gargilius fixierten Erfahrungen mit Erkenntnissen der modernen Forschung ab. In vielen Fällen ist die Wirkung bestimmter Gemüse und Obstsorten längst wissenschaftlich erwiesen. Porree zum Beispiel wirkt geradezu sensationell, antibakteriell, entzündungshemmend und reinigt, mit Honig zerkleindert, sogar Geschwüre!

Das sind ermunternde Hinweise, die den Blick in den eigenen Garten noch einmal neu sensibilieren. Hey, sagt der therapeutisch geschulte Gärtner zu den ergrünenden Gestalten in seinen Beeten: Was habt Ihr so drauf? Was könnt Ihr mir bieten? Als Minimum puren Genuss, im Extremfall vielleicht sogar ein längeres Leben.

Eine Zeit neuer Begegnungen (Eintrag 1300!!)

Das neue Infektionsschutzgesetz könnte zu einer Zeit neuer Begegnungen führen. Dazu passt ein Buch von Charles Pépin, das gerade erschienen ist:

Charles Pépin: Kleine Philosophie der Begegnung. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Carl Hanser Verlag 2022

Pépin ist Schriftsteller, unterrichtet Philosophie und lebt in Paris – so stellt der Verlag seinen Autor vor und deutet damit bereits einiges an.

Denn Paris ist d i e Stadt der schönen Begegnungen, die im Falle von Paris keine flüchtigen sind, sondern solche, die ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Solche Pariser Begegnungen mit anderen Menschen, Geschichten oder Büchern gehen unter die Haut und haben eine Tendenz zum Romanhaften.

Charles Pépin spielt viele von ihnen durch: Wodurch entstehen sie genau – und wie kann man sie verstehen und lesen? Seine Beispiele kommen aus dem alltäglichen Leben, aber auch aus Filmen oder Romanen, und da Charles Pépin wie gesagt Philosophie unterrichtet, tut er das ganz nebenbei auch in diesem Buch.

Keine Sorge, sein Unterricht ist durch und durch passioniert, man sitzt also eher mit ihm in einem Pariser Café und tauscht sich aus und gerät in ein gewisses Swinging des Denkens, „essayistisch“, wie es die Franzosen seit Jahrhunderten mögen. Und geht danach hinaus unter Menschen – und schon ist es wieder passiert…

Valentin Silvestrov

Die Kompositionen des ukrainischen, 1937 in Kiew geborenen Komponisten Valentin Silvestrov werden gegenwärtig in aller Welt gespielt (so etwa das Gebet für die Ukraine).

Hier seine Bagatellen für Klavier, opus 1-5, gespielt von Peter Bannister:

WDR3 Klassik Forum – zum letzten Mal

Nur noch heute (19.03.2022) kann man meine Moderation der Sendung Klassik Forum auf WDR3 verfolgen. Ich spreche über Musikstücke, die ich zum großen Teil selbst gespielt habe – und ich bette sie in den Erlebniskontext des Übens und Nachdenkens ein.

Die Sendung ist zum ersten Mal am 5.3.2022 gelaufen – inzwischen haben sehr viele Hörerinnen und Hörer sie mit großer Begeisterung gehört. Daher empfehle ich sie noch einmal:

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/klassik-forum/audio-wdr–klassik-forum-mit-hanns-josef-ortheil-100.html

buchmesse_popup in Leipzig 2022

In meinem Blogeintrag vom 11.02.2022 habe ich davon berichtet, dass viele Autorinnen und Autoren in einem offenen Brief gegen die Absage der Leipziger Buchmesse 2022 protestiert und dafür die großen Verlagskonzerne verantwortlich gemacht haben.

Inzwischen hat sich zum Glück einiges getan. Über sechzig Verlage präsentieren auf der buchmesse_popup von heute, 18.3.2022,  bis Sonntag, 20.3.2022, ihre Neuerscheinungen!

Welche Autorinnen und Autoren werden erwartet? Um welche Bücher geht es? Wie sieht das genaue Veranstaltungsprogramm aus? Werden bestimmte Lesungen und Gespräche auch gestreamt? Wo und wie erhält man Tickets?

Hier sind all diese notwendigen Informationen abrufbar:

www.buchmesse-popup.de

Mary Ruefle

Mary Ruefle soll in den USA, wie ich erst seit kurzem weiß, eine sehr bekannte Lyrikerin und Essayistin sein. Bei uns gab es lange Zeit keine Texte von ihr in deutscher Übersetzung zu lesen, jetzt aber hat der Suhrkamp-Verlag einen vorsichtigen Anfang (mit einer Übersetzung von Esther Kinsky) gemacht.

Mein Privatbesitz ist eine Sammlung von über vierzig kurzen Prosa-Inseln, deren Titel ganz wörtlich zu verstehen ist. Denn es geht wirklich um Dinge oder Gefühlszustände in einer sehr privaten und intimen Form des Besitzens und Aufbewahrens.

Sie gehören zu der einen Person, die von ihnen erzählt, und man gerät, wenn man diese hoch suggestiven Texte liest, in ein unaufhörliches Träumen und Schlingern, als wollten sie einen in eine andere Welt hinüberlocken: Dorthin, wo einen die eigenen Schlüssel merkwürdig anstarren oder wo es viele Nuancen von Traurigkeit gibt, eine blaue, rote, grüne und naturgemäß solche, die man selbst frei hinzuerfinden kann.

Man liest sich trunken an diesen Texten und verwandelt sich dabei in eine Figur, die ferne Sätze verknüpft, als webte sie an einem Teppich, auf dem sie endlich davonfliegt.

Mary Ruefle: Mein Privatbesitz. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag 2022

Tanja Maljartschuk

Durch die gestrige Ukraine-Veranstaltung im Stuttgarter Literaturhaus bin ich wieder auf die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk aufmerksam geworden, an deren Lesung während des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt im Jahr 2018 ich mich erinnerte.

Damals gewann sie mit der Erzählung Frösche im Meer den Hauptpreis, ein halbes Jahr später veröffentlichte sie den Roman Blauwal der Erinnerung (Kiepenheuer & Witsch), der eine historische Gestalt der ukrainischen Geschichte zum Mit-Protagonisten macht.

Die Lektüre eines solchen Romans könnte helfen, vor dem Hintergrund der aktuellen Nachrichten tiefergehend in die Vergangenheit einzutauchen.

Während der Leipziger Buchmesse 2019 erläuterte Tanja Malhartschuk, wie es zu diesem Roman gekommen war:

https://www.youtube.com/watch?v=GnnoKdqfNoE

Ukraine im Krieg – eine Veranstaltung im Stuttgarter Literaturhaus

Stefanie Stegmann, die Leiterin des Stuttgarter Literaturhauses, hat während ihres Studiums zwei Jahre als DAAD-Stipendiatin in Czernowitz verbracht. Aus dieser Zeit kennt sie viele ukrainische Autorinnen und Autoren, auch danach hat sie sich weiter intensiv mit den Themen und Problemen des Landes beschäftigt.

Daher hat sie bei Kriegsbeginn sofort gehandelt und versucht, Gäste aus der Ukraine und aus Deutschland zu einem Abend der Gespräche und Lesungen einzuladen. Morgen, am 14. März 2022, kann man diesen Abend ab 19 Uhr live vor Ort, aber natürlich auch per Livestream verfolgen, beides kostenlos.

Hier findet man die weiteren Informationen zur Dreigliederung des Abends (Einordnen/ Schreiben/ Handeln). Ich empfehle allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs, in welcher Form auch immer daran teilzunehmen:

https://www.literaturhaus-stuttgart.de/event/ukraine-im-krieg-5215.html

Benefizkonzert für Save the Children

Heute Abend sendet 3sat von 20.15 Uhr bis 22.15 Uhr die Aufzeichnung eines Benefizkonzertes für die Organisation Save the Children, das am 8. März 2022 in der Isarphilharmonie München stattfand. AnneSophie Mutter spielt das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven, und Münchener Orchester spielen Beethovens 5. Symphonie.

Hier ist das Konzert bereits zu verfolgen, und hier findet man auch die Angaben des Spendenkontos der Organisation:

https://www.3sat.de/kultur/musik/benefizkonzert-ukraine-102.html

Lagerbildungen seit Kriegsbeginn

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Ich kann mich nicht erinnern, jemals erlebt zu haben, dass meine Freunde so unterschiedlich wie jetzt auf gegenwärtige Weltereignisse reagierten. Seit Putins Kriegsbeginn haben sich die Lagerbildungen dramatisch verschärft und führen zu angedachten Konsequenzen, die nichts mehr miteinander zu tun haben. Als lebten die Lager nicht mehr in derselben Welt, sondern orientierten sich in völlig verschiedene Richtungen, die sich gegenseitig ausschließen oder im Weg sind.

Die Lagerbildungen entstehen dadurch, dass jede Gruppe ein bestimmtes Segment der Gegenwart als dominante Vorlage für ihre Reaktionen nimmt. Der Krieg ist das erste, nächstliegende. Er hat viele meiner Freunde in eine Lähmung versetzt, die sich in einem dauernden Medien- und Nachrichtenkonsum niederschlägt. Den ganzen Tag über bleiben sie auf Sendung, folgen den aktuellen Mitteilungen und spüren angesichts der furchtbaren Kriegsbilder ihre Ohnmacht nur umso mehr.

Einige spenden Geld, andere unterschreiben Petitionen, demonstrieren oder schließen sich Hilfsorganisationen für Flüchtlinge an. Die älteren fühlen sich an ihre eigene Vergangenheit erinnert, sprechen häufig darüber und tauchen in düstere traumatische Bildwelten ab. Das schlägt sich in vielerlei Lektüren nieder, solchen zur Geschichte der Ukraine, aber auch solchen über den Zweiten Weltkrieg und die Bombardierungen deutscher Städte. Die Mediengegenwart zieht die verdrängten Erlebnisse an und lässt sie nachts wieder aufleben.

Andere blicken weiter auf die aktuellen Corona-Daten. Ihr Kreis ist deutlich kleiner geworden, für manche ist die Pandemie trotz wieder steigender Infektionszahlen keine Bedrohung mehr. Sie bilden sich ein, im Fall einer Infektion mit einer Art Grippe davon zu kommen, und die wirklich Infizierten scheinen ihnen das zu bestätigen, weil kaum jemand offen von einer schweren Erkrankung berichtet.

Stattdessen ist man vor allem damit beschäftigt, wieder zum „normalen Leben“ früherer Tage zurückzufinden. Draußen essen, Veranstaltungen besuchen, gemeinsam etwas unternehmen – fast an jedem Tag wird neu vereinbart, wie man seinen Verlauf gestalten könnte. Das zieht andere Lektüren nach sich, nämlich solche über Programme der Lebenskunst, die jetzt auf dem Buchmarkt so gefragt sind wie noch nie. Dabei geht es um Entwürfe eines Lebens, das die Schocks der Pandemie aktiv verarbeitet und sich für die Zukunft neu rüstet: Was darf ich noch? Was kann ich vernachlässigen? Womit sollte ich mich intensiver als früher beschäftigen?

Das dritte Lager hat die bedrohlichen Szenarien des Klimawandelns nicht aus dem Auge verloren. Der Krieg hat sie in ein neues Licht gerückt, indem die Fragen nach der Herkunft unseres Energiebedarfs lauter geworden sind und mit Fragen nach der Zukunft von Kohle, Gas, Öl und erneuerbaren Energien verbunden wurden. Manche dieser Freunde haben ganz praktische Konsequenzen gezogen. Sie versuchen, sich in Kleingärten selbst zu versorgen, gründen Genossenschaften und kümmern sich um Projekte des Urban Farming. Auf einem Stück Land tätig sein und den Energiebedarf drosseln – das sind Projekte, die jetzt eine starke Anziehungskraft ausüben.

Schließlich gibt es aber auch Freunde, die an nichts anderes als baldigen Urlaub denken. Urlaub von allem, von Krieg, Pandemie und Klimawandel! Urlaub weit weg, möglichst auf sicheren, sonnigen Inseln, auf Mallorca oder Griechenland! Eine starke Fernbewegung ist im Gang, stärker noch als vor den Pandemiezeiten. Sie zieht meist nur eine einzige Konsequenz: vergessen, wegdriften, den Kopf in einen Fantasiemodus schalten, der dem von Fernsehfilmen mit gutem Ausgang ähnelt. Krisen sind dort flüchtige Erscheinungen, die man nicht ganz ernst nehmen muss. Sie gehören zum „Gang der Dinge“, und an ihrem Ende wartet immer „ein neuer Tag“.

Wo hat man das schon seit ewigen Zeiten gehört? Richtig, im Schlager. Ist das der Grund, warum er gerade jetzt einen so erstaunlichen Aufschwung nimmt?