Die Karlsruher Passion

Im Kölner Wallraf-Richartz-Museum ist seit einigen Tagen die Karlsruher Passion des Straßburger Meisters Hans Hirtz zu sehen. Es sind sieben Gemälde eines ergreifenden, hochdramatisch inszenierten Zyklus, die um 1450 entstanden sind.

Die Bilder sind keine Altarbilder, sondern Szenen, die man aus der Nähe, vorübergehend, wie auf einem Passionsweg, betrachtet. Sie sind voller erzählerischer Details, die nicht deutlich voneinander getrennt sind, sondern ineinander verwoben, so dass man sie miteinander verbinden muss. Als Erzählfolie dient die Passionsgeschichte des Neuen Testaments.

So etwa auf dem Bild, das Christi Gebet am Ölberg inszeniert, wie es im Matthäus-Evangelium (26, 36-46) erzählt wird:

Dann ging Jesus mit seinen Jüngern in einen Garten am Ölberg, der Gethsemane heißt. Dort bat er sie: »Setzt euch hier hin und wartet auf mich! Ich will ein Stück weiter gehen und beten.« 37 Petrus und die beiden Söhne von Zebedäus – Jakobus und Johannes – nahm er mit. Angst und tiefe Traurigkeit überfielen Jesus, 38 und er sagte zu ihnen: »Ich zerbreche beinahe unter der Last, die ich zu tragen habe.[a] Bleibt hier und wacht mit mir!« 39 Jesus ging ein paar Schritte weiter, warf sich nieder und betete: »Mein Vater, wenn es möglich ist, dann lass den Kelch an mir vorübergehen und erspare mir dieses Leiden! Aber nicht was ich will, sondern was du willst, soll geschehen.«

Hier ein Bildausschnitt: Der Engel reicht den Kelch des Leidens, im Hintergrund die Stadt Jerusalem und das  Waffenheer der Soldaten, die Jesus gefangen nehmen werden…

Biographeme

Eine Blog-Leserin aus dem Norden schrieb mir, dass sie von dem heiligen Hermann Joseph, der im Kloster Steinfeld in der Eifel als Mönch lebte, früher einmal in Köln gehört habe. Und zwar in Zusammenhang mit dem Kölner Komponisten Bernd Alois Zimmermann (1918-1970), der eine Schule von Kloster Steinfeld besuchte.

Eines seiner Hauptwerke, das Requiem für einen jungen Dichter, habe er dem heiligen Hermann Joseph gewidmet. Ob ich das Requiem kenne? Und ob es sich bei der Verbindung von Bernd Alois Zimmermann mit Kloster Steinfeld ebenfalls um ein Biographem handle? Und wenn ja – was denn eigentlich ein Biographem sei?

Ich antworte der Leserin aus dem Norden, dass ich von der Verbindung des Kölner Komponisten Bernd Alois Zimmermann mit Kloster Steinfeld nichts wusste und das Requiem für einen jungen Dichter nicht kenne. Ich werde mir das Stück aber sobald wie möglich anhören.

Außerdem antworte ich, dass es sich bei der Verbindung des Kölner Komponisten Bernd Alois Zimmermann mit Kloster Steinfeld in der Tat um ein Biographem handelt. Ein Biographem ist ein nicht fiktives, sondern reales, partikuläres Narrativ einer Biographie in Form eines einzelnen biographischen Elements. Ein Biographem kann Berührung mit Biographemen anderer Personen aufnehmen und dazu beitragen, ein räumliches oder zeitliches Netz entstehen zu lassen, zum Beispiel eines um das Kloster Steinfeld oder um den heiligen Hermann Joseph. In solchen Fällen könnten Panoramen entstehen, die um einzelne, zentrale Themen-Momente herum Ablagerungen von Biographeme anziehen.

Hermann Joseph und Hanns-Josef

Ein Blick in den Heiligenkalender sagt mir, dass heute an den heiligen Hermann Joseph erinnert wird. Viele meiner Freunde im Rheinland haben diesen Namen erhalten, der dann ein Vorname ist, im Falle des Heiligen aber kein Vorname war.

Denn Hermann Joseph (um 1150-1241) war ein Mönch mit Namen Hermann, dem wahrscheinlich die Ordensbrüder (des Prämonstratenserordens) den Beinamen Joseph gaben. Er wurde in Köln wohl in der Nähe der romanischen Kirche St. Maria im Kapitol geboren, in der er eine Marienstatue besonders verehrte. Einmal soll er – der Legende nach – dem Jesuskind einen Apfel angeboten haben, den die Gottesmutter für den Sohn dankend und lobend annahm. Daher der Beiname Joseph.

Die Vita des Heiligen ist eng mit dem Kloster Steinfeld in der Eifel verbunden, in das er bereits als Zwölfjähriger aufgenommen wurde. Da er schon früh Gebete, Danksagungen und Hymnen verfasste, gehören ein Tintenfass, ein Schreibheft und ein Federkasten zu seinen Attributen.

(Als mein Vater relativ spät darauf aufmerksam wurde, bereute er es, dass die Eltern mir den Vornamen Hanns-Josef gegeben hatten. „Hermann Joseph wäre treffender gewesen“, sagte mein Vater.

Und es stimmt – es gibt eine beachtliche Schnittmenge von Biographemen: Den gemeinsamen Geburtsort Köln, Besuche von St. Maria im Kapitol, das frühe und intensive Schreiben, die Freude an hymnischer Lyrik etc.)

Über Bäume

Mit dem allmählichen Verschwinden des Schnees macht sich das junge Frühlingsgrün der Sträucher und Bäume wieder bemerkbar. Dazu passt ein sehr lesenswertes Büchlein, das gerade im Reclam-Verlag erschienen ist. Der römische Autor Plinius stellte im 1. Jahrhundert n.Chr. das zu seiner Zeit zirkuliende Wissen über die Natur in monumentalen Enzyklopädien zusammen.

Der Reclam-Band bringt auf etwas mehr als zweihundert Seiten ausgewählte Passagen: Über Bäume (ausgewählt, herausgegeben und übersetzt von Bernhard Herzhoff, lateinisch/deutsch).

Die Einleitung feiert den „hohen Wert der Bäume“, dann geht es um besonders große und eindrucksvolle (wie etwa die Platane), um duftende, um die Dattelpalme und ihr Liebesleben, um Ölbaum, Lorbeer, um eicheltragende Waldbäume, um Nadelbäume, um Bäume und ihre Biotope generell – und besonders schön, um die „sinnliche Liebe zu einer Rotbuche“.

Über die Frühlingstage heißt es: Die Blüte ist ein Anzeichen des vollen Frühlings und des sich erneuernden Jahres, die Blüte ist die Wonne der Bäume. Dann zeigen sie sich in neuem Schmuck und anders, als sie gewöhnlich sind, dann schwelgen sie im Wettstreit ohne Unterlass in bunten Farbenspielen…

Retro-Schnee

In den letzten Nächten ist viel Schnee gefallen. Schnee Anfang April! Warum empfinde ich das als wohltuend? Warum könnte er, wenn es nach mir ginge, noch länger liegen bleiben?

Vielleicht, weil er nicht mehr der Schnee des Winters ist, sondern ein Schnee, der keine winterlichen Anforderungen stellt. Ski fahren? Schlitten fahren? Ach was! Ein Gang durch den schneebedeckten Wald? Ja, höchstens das.

Und was ist zu sehen? Keine dichten Schneedecken, sondern solche, die Wege und Markierungen noch erkennen lassen. Die Erdschichten erscheinen als Andeutungen, vage sichtbar, wie Zitate. Die faden Konturen des Vorfrühlings sind auslöscht, das poröse Weiss ist eine legere Textur, die etwas enorm Beruhigendes, Schlichtendes hat.

Stille, Ruhe, keine lauten Aktionen des Aufbruchs, keinerlei Frühlingsimpulse, die Zeit noch einmal stillgestellt, um ein wenig Luft zu schöpfen und durchzuatmen, bevor das Hasten und Streben und Laufen wieder beginnt…

In meinen Gärten und Wäldern stark erweitert

In den Zeiten meiner Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit habe ich mich in meine Gärten und Wälder zurückgezogen. Ich habe ihre Pflanzen, Sträucher und Bäume fotografiert und von ihren Lebensformen in Kurzprosatexten erzählt.

Dabei erscheine ich nicht als Gärtner oder Botaniker, sondern (kurios genug) als passionierter Eisenbahnlandwirt, der das Gartenleben auf sehr eigene Weise porträtiert.

Jetzt ist die zweite, stark erweiterte Auflage des schön gestalteten Buches in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung erschienen.

Sollten Sie dieses Buch kaufen oder erwerben (was mich besonders freuen würde – das Buch ist ein ideales Frühjahrs- und Ostergeschenk), achten Sie bitte darauf, dass Sie auch wirklich ein Exemplar der zweiten, erweiterten Auflage erhalten. (Sie hat 216 Seiten, während die erste Auflage 183 Seiten hat.)

Tomaso zieht um

Die venezianische Geigerin liebt Violinstücke von Tomaso Albinoni über alles. „Er war Venezianer“, sagt sie, „von der Geburt bis zum Tod. Er hat in der Umgebung von San Trovaso gelebt und danach in der Umgebung von San Barnaba. Beides merkt man seinen Stücken an.“ – „Inwiefern?“ frage ich. – „San Trovaso-Stücke haben einen spritzigen, lebendigen und humorvollen Charakter. San Barnaba-Stücke sind ernster, gesetzer und meist sehr ruhig. Tomaso leitete nebenbei eine Gesangsschule. Auch das merkt man seinen Stücken an. Ich singe sie, bevor ich sie auf der Geige spiele. Das führt zu einer subtilen Klangdichte.“ – „Wirklich erstaunlich“, sage ich und bitte sie, mir einige Takte vorzusingen. Wir verlassen ihre venezianische Wohnung bei San Trovaso, und sie singt draußen, auf der Gasse, bei San Barnaba nur für mich. Danach fahren wir hinaus auf den Lido, und sie spielt vor der offenen Meereskulisse dieselbe Komposition auf der Violine. „Das zeichnen wir auf“, schlage ich vor, „und stellen es später ins Netz. Gesang und Violine, ineinander übergehend, die Verbindung von Perle und Kristall.“ – „Eine fabelhafte Idee“, antwortet sie, „das hätte auch einem Venezianer einfallen können.“ – „Nicht wahr?“ entgegne ich, „aber kein Wunder, schließlich habe ich lange in der Umgebung des Rialto gelebt.“

In den japanischen Bergen

Am frühen Vormittag floh ich in die japanischen Berge. Meine Hütte hatte ich lange nicht aufgesucht und betreten.

Ich öffnete die Tür nicht sofort, sondern setzte mich davor in die Frühlingssonne. Ein schwacher Wind wehte von der Höhe herab, und das Sonnenlicht brach sich in so vielen Nuancen, dass ich bewundernd regungslos sitzen blieb.

Ich wartete – aber auf was oder wen?!  Ich wartete lange, bis mir die Verse des Haiku-Dichters Takakuwa Rankô einfielen:

Der Frühlingswind –

In Gräsern und Bäumen bewegt

Sich das Sonnenlicht.

Die Natur belauschen

Pauline de Bok ist eine niederländische Schriftstellerin, die in Amsterdam und in Mecklenburg auf dem Land lebt. Dort kümmert sie sich seit zwanzig Jahren um den Biotop eines früheren Kuhstalls samt seiner Umgebung.

Ihre „Kunst, die Natur zu belauschen“ ist jedoch keine passive Versenkung in ländlich-idyllische Details, sondern eine aktiv betriebene Teilnahme am Leben der Tiere in ihrer Umgebung. Alle, die sich melden und zeigen, betreut sie im Kreislauf der Jahreszeiten, ortet ihre Signale, beobachtet ihr Verhalten, feuert sie an und begleitet sie bei ihren Versuchen, die Umgebung zu nutzen und zu gestalten.

Das wird mit viel Empathie und einer zurückhaltenden Klugheit so genau erzählt, dass man die Szenen genau vor sich sieht und eine detaillierte Vorstellung davon erhält, was es bedeutet, in einem kleinen Kosmos unter anderen, fremden Lebewesen ein ganz eigenes Leben zu führen.

  • Pauline de Bok: Das Schweigen der Frösche oder Die Kunst, die Natur zu belauschen. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. C.H.Beck 2022