Auf meinem Nachttisch 2

Am 27.08.2021 habe ich die Leserinnen und Leser des Blogs gebeten, mir einige Ihrer Nachttischlektüren zu nennen. Ich konnte nicht ahnen, wie stark gerade dieses Thema viele beschäftigt. Ich habe über einhundert (100!) Rückmeldungen erhalten! Daher brauche ich etwas Zeit, mich in das Panorama der genannten Bücher zu vertiefen, doch ich kann immerhin schon erste Eindrücke mitteilen.

Nachttischlektüren werden (im Gegensatz zu den „Sofa-Lektüren“) besonders sorgfältig ausgewählt. Sie sollen oft beruhigend wirken und zum Weiterdenken anregen. Das aber in Maßen und in eher meditativer und nicht mitreissender Form. So regen sie allmähliche Übergänge ins Ausblenden der Umgebung und des jeweiligen Tages an.

Häufig wurden Gedichtbände genannt, erstaunlich oft auch Garten- und Pflanzenbücher. Überhaupt spielen Bücher mit geschlossenen, gut vorstellbaren und stark atmosphärischen Räumen eine große Rolle. Sie erleichtern das Hinübergleiten in Welten, die sich in den Träumen fortsetzen.

Nachttischlektüren sind daher meist Akte der Transformation. Sie sprechen Tageserlebnisse oder Tagesideen an und umkreisen sie in kaum merklichen Variationen. Solche Nachwirkungen werden auch durch Notate festgehalten. Ein Stift und ein Blatt/eine Karteikarte liegen gar nicht selten ebenfalls auf dem Nachttisch. Sie sind die Zeugnisse der Textverarbeitung, die sich mit einem erhofften Weiterträumen verbindet.

Meist sind es mehrere Lektüren, die den Nachttisch bevölkern. Sie werden je nach Stimmung ausgewählt und erscheinen als Repliken auf das tägliche Stimmungsbarometer. Oft ist auch ein Klassiker (meist ein umfangreicher Roman) darunter. Es freute mich, dass dreimal Adalbert Stifters Der Nachsommer genannt wurde. (Ich habe diesen Roman selbst viele Male in unterschiedlichen Lebensaltern gelesen.)

So, das sind meine ersten Eindrücke. Beim nächsten Mal nenne ich auch Titel, die mich besonders überrascht haben…

 

Ein Sonntag mit Martin Tingvall

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich einen entspannten Spätsommersonntag –

verbunden mit der Musik des schwedischen Jazz-Pianisten

Martin Tingvall, die das Fernsehteam des SWR in der vergangenen Woche mit mir zusammen u.a. als Hintergrundmusik  für die Filme über mein Leben und Schreiben ausgewählt hat.

Pitchen

(Am 8.9.2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Noch nie waren die meisten meiner Freunde vor einer Bundestagswahl derart unentschieden, wen oder was sie wählen sollen. Das Ende der Amtszeit von Angela Merkel bringt eine Palette der Möglichkeiten mit sich, die etwas Verstörendes hat. Die übergroßen Problemfelder erscheinen drängend und ungelöst, während die Programme der Parteien wie ein Stückwerk erscheinen, das die Phalanx der Themen höchstens abarbeitet, aber nicht im starken, großen Zugriff angeht und behandelt.

Bei der Lektüre falle auf, behauptet mein Freund Paul, dass sie ihre Angebote an das Wählervolk nicht mehr ideenreich pitchen können. Pitchen?! Paul arbeitet in einem Verlag, deshalb hat er laufend mit Manuskripten zu tun, die von Agenturen werbewirksam ins rechte Licht gesetzt und angeboten werden. Die Texte, die dabei entstehen, dürfen weder zu übertrieben noch zu bekannt wirken. Vielmehr sollen sie die Umworbenen überraschen, mit Aussagen, die neugierig machen und außerdem ein Erzählfeld eröffnen, das sich in daran anknüfenden Fantasien weitet.

Gut gepitchte Texte bleiben unverwechselbar in Erinnerung, setzen sich wie Ohrwürmer fest und verbinden sich mit den Namen der Auftraggeber. „Und läuft und läuft und läuft“ war einmal ein ideales Pitching von VW, das einem Schriftsteller der Konkreten Poesie eingefallen war. Das wirkte nur auf den ersten Blick schlicht und banal. Auf den zweiten traf es genau ins Zentrum, nämlich auf das Angebot eines Autos, das nichts anderes tat als beständig zu fahren, bei jedem Wetter, jahrelang, ohne Kummer zu machen.

Elegantes Pitchen vereint mögliche Attribute und Bestandteile eines Angebots zu einem erkennbaren Slogan und einer Botschaft, die das Angebot in vielfacher Brechung leuchten lässt. „Respekt für Dich“ tut das zum Beispiel nicht. Wenn man es an Straßenrändern liest, verbinden sich damit keine sich öffnenden Welten. Es könnte sich auch um Werbung für Baumärkte handeln, in denen man in der Tat auf Slogans wie „Respekt wer’s selber macht“ trifft.

Den Parteien gelingt das Pitchen nicht, weil sie sich textuell verfransen. Sie denken nicht mehr aus einem Guss, weil ihnen der soziale, ethische und kommunikative Hintergrund von Lebensentwürfen abhanden gekommen ist. Worauf sollen sie sich noch beziehen? Gibt es überhaupt noch so etwas wie „Weltbilder“, die früher vor den Programmen da waren und später Folien für die Behandlung der Themen waren?

Die Parteien erwecken eher den Eindruck, diffus vor sich hin zu werkeln. Sie schicken ihre Leute wie blasse Abziehbilder ins Rennen, die an den Haustüren ihre Diener machen und Blumen überreichen. Da kommt der Wahl-O-Mat gerade zur rechten Zeit. Er listet 38 Fragen in bunter Reihenfolge so auf, dass die Fragen einfach und direkt beantwortet werden können. Mein Freund Paul hat den Test gemacht und seine Antworten mit den Programmen aller Parteien abgleichen lassen, die sich gegenwärtig für den Bundestag bewerben.

Fasziniert las er das Ergebnis. Ginge es nach dem Wahl-O-Mat, sollte er den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) wählen. Warum den, um Himmels willen? Der SSW setzt sich anscheinend besonders stark für Minderheiten und die sozialen Belange der Menschen ein. Und er orientiert sich an der sozialdemokratischen Politik der skandinavischen Länder! Na sowas! Bedeutet das in letzter Konsequenz, dass Paul in den Norden auswandern sollte? Seit der Wahl-O-Mat für ihn gedacht hat, ist Paul der Gedanke nicht mehr fremd. Neuste Untersuchungen haben ergeben, dass die meisten glücklichen Menschen der Welt in Dänemark wohnen. Mich hat es heimlich immer dorthin gezogen, sagt Paul. Warum bin ich meinen Instinkten nicht längst gefolgt? Jetzt weiß ich viel mehr, als wen oder was ich wählen könnte…

Dreharbeiten im Westerwald

Mit einem Fernsehteam des SWR drehe ich in meiner westerwäldischen Heimat einen 60-minütigen Film, der in meiner Geburtstagsnacht (und danach in der Mediathek) gezeigt werden soll. Die Dreharbeiten wirken wie eine intensive Zeitreise in die vergangenen Jahrzehnte.

Sie konzentriert sich auf den roten Faden meiner seit den Kindertagen angefertigten handschriftichen Manuskripte, die bisher noch nie in ihrem engen Bezug aufeinander gezeigt worden sind (Chroniken, Tagebücher, Journalistische und Essayistische Texte – und natürlich die Erzählungen und Romane).

So wird zumindest in Andeutungen ein Leben sichtbar, das die verschiedensten Formate eines täglichen Schreibens in einem assoziativen Spiel miteinander kombinierte. Seit sechzig Jahren ist diese Textflut Teil eines großen Familienarchivs, das mein Vater nach dem Zweiten Weltkrieg angelegt und bis zu seinem Tod geführt hat. Es sammelte nicht nur die in der Familie entstandenen Texte, sondern fast alles Schrift Gewordene (Quittungen, Eintrittskarten, Zeitungsausschnitte und und und…).

Dieses Archiv ist so etwas wie die Ursuppe meines Schreibens. Aus ihm und durch seine Anregungen ist mein Schreiben entstanden und hat sich von Jahr zu Jahr mehr verzweigt. Die Details werden in dem Buch Ein Kosmos der Schrift beschrieben, das Mitte Oktober bei btb erscheinen wird.

(Das Foto zeigt den Wagen des SWR-Teams vor der Sala Ortheil in der Mittelstraße 16 von Wissen/Sieg und einen mit Kapuzinerkresse dekorierten westerwäldischen Eierkäse der Alten Vogtei in Hamm/Sieg.)

Die Filmfestspiele in Venedig beginnen

Gestern endete in Italien der lange Sommer, den viele am Meer verbracht haben. Heute fängt die Schule wieder an, und in Venedig beginnen die Internationalen Filmfestspiele. Damit ist der 1. September das Datum des landesweiten, auch für die kulturellen Aktivitäten bedeutsamen Herbstbeginns.

Meine venezianischen Freundinnen und Freunde freuen sich auf die anreisenden Gäste, sie haben Pässe, mit denen sie beliebig viele Veranstaltungen besuchen können. Schon seit Tagen haben sie sich jene Filme notiert, die sie unbedingt sehen wollen. Bald werden sie mir Fotos von den Szenen auf dem Lido Venedigs schicken, so dass ich zumindest über diese Bilder aus der Ferne teilnehmen kann.

Ein Sommerinterview 2

Herr Ortheil, der Sommer geht langsam zu Ende. Deshalb frage ich nach unserem ersten Gespräch am 11.8.2021: Stehen jetzt Lesungen aus Ihren beiden im Herbst erscheinenden neuen Büchern Ombra und Ein Kosmos der Schrift fest?

Ja, einige stehen bereits fest. Da ich aus gesundheitlichen Gründen nicht viele Lesungen absolvieren kann, haben wir sie auf große deutsche Städte der unterschiedlichsten Regionen verteilt. Die Lesungen beginnen während der Buchmesse in Frankfurt. Auf dem Messegelände werde ich nicht lesen, wohl aber in der Frankfurter Innenstadt, abends, in der Katharinenkirche, am 22. Oktober 2021. Dann lese ich und unterhalte mich mit der Moderatorin Judith von Sternburg, der Literaturredakteurin der Frankfurter Rundschau.

Wie geht es weiter?

Meinen 70. Geburtstag am 5. November 2021 möchte ich zusammen mit meinen Leserinnen und Lesern abends in meinem westerwäldischen Heimatort Wissen/Sieg feiern. Das Fest beginnt um 18 Uhr im Wissener Kulturwerk. Ich stelle meine neuen Bücher vor, die Moderation wird der Autor und Historiker Wolfgang Niess (SWR) übernehmen. Es wird, soviel kann ich verraten, einige Überraschungen an diesem Abend geben. Am darauf folgenden Tag, dem 6. November 2021, wird die offizielle Buchpremiere von Ombra abends in der Kölner Flora stattfinden. Auch das wird eine öffentliche Veranstaltung sein, die Denis Scheck moderieren wird.

Frankfurt, Wissen/Sieg, Köln – es fehlen noch der Norden, der Osten, der Süden…

Am 11. November 2021 werde ich im Stuttgarter Literaturhaus lesen, am  16. November 2021 in Hamburg (der Ort steht noch nicht fest) und am 25. Januar 2022 im Münchener Literaturhaus. Fehlt noch Berlin. Die Berliner Lesung ist noch in Planung.

Was haben Sie momentan vor, womit sind Sie beschäftigt?

Mit einem Film über die Jahrzehnte meines Schreiberlebens, den der SWR gerade dreht (Regie: Alexander Wasner). Er wird sechzig Minuten lang sein, das ist eine ordentliche Strecke, die Dreharbeiten haben gerade begonnen. Danach werde ich mir eine kurze Auszeit nehmen, um im Herbst fit für die weiteren anstehenden Termine zu sein. Es wird auch ausführliche Radiosendungen zu zentralen Themen meines Schreibens geben.

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit all diesen Unternehmungen!

(Das Gespräch führte Hanna Bernike, das Foto zeigt die Kölner Flora.)

 

Auf meinem Nachttisch 1

In WDR 5 läuft dann und wann eine nur wenige Minuten lange Sendung, die Auf meinem Nachttisch heisst und in der man ins Schlafzimmer von Leserinnen und Lesern schaut, die (laut Mitteilung des Senders) „verraten, welche Lektüre sie durch die Nacht begleitet.“

Diese Idee gefällt mir sehr, auch weil sie den Nachttisch in Erinnerung  bringt, der in vielen Schlafzimmern wahrscheinlich keine bedeutende Rolle mehr spielt. Besonders Jugendliche lassen sich nicht von einem Buch durch die Nacht begleiten, sondern von ihrem Laptop oder einem anderen Lesegerät. (Was ich nicht nur für ungesund, sondern auch für einen Verlust an Atmosphären halte.)

Ich selbst habe jedoch auf den verschiedenen Nachttischen meiner Schlafzimmer immer noch einige Bücher liegen, in denen ich nachts (manchmal auch abwechselnd) lese. Meist sind es Neuerscheinungen, aber es sind auch einige ältere Bücher darunter, „Klassiker der Nacht“, die ich (aus mir oft nicht ganz deutlichen Gründen) besonders liebe. Die russische Erzählliteratur (Tolstoi, Turgenjew, Tschechow) gehört dazu, aber auch die französische (Flaubert, Balzac, Stendhal).

Mit der Zeit habe ich entdeckt, dass sich viele Nachtlektüren nicht nur auf die jeweilige Zeit und ihre aktuellen Themen beziehen, sondern auch auf die Räume, in denen ich mich gerade befinde.

Ich werde das Thema noch länger verfolgen, möchte sie, die Leserinnen und Leser dieses Blogs, aber zuvor bitten, mir auch einige ihrer eigenen Nachtlektüren zu nennen. Wie immer unter: ortheil.hannsjosef@gmail.com

Vielen Dank!

 

Nomadland 2

Ich denke weiter über Nomadland nach, es geht jetzt um die Entstehungsgeschichte des Films. Was ist daran interessant und zeittypisch?

Dem Film liegt ein Sachbuch der Journalistin Jessica Bruder (Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century) zugrunde. Auf dieses Buch wurde die spätere Hauptdarstellerin des Films (Frances McDormand) aufmerksam. Sie kontaktierte die Regisseurin (Chloé Zhao) und schlug ihr vor, aus dem Stoff einen Film zu machen, in dem sie eine zentrale Rolle (die der Hauptfigur Fern) übernehmen wollte.

Diese Konstellationen der Entstehung sind selten. Der Film hat zunächst kein Drehbuch, sondern bezieht sich auf das thematische Ausgangsterrain eines Stoffs: Nomadisch lebende Menschen, meist allein unterwegs in den weiten Landschaften der USA. Darin besteht der dokumentarische Anteil des Films, der durch die späteren Laiendarsteller als Präsentation nicht fiktiver, sondern realer Menschen gesichert wird.

Fiktiv sind aber die biografischen Konstellationen der weiblichen Hauptfigur Fern, die vor dem Hintergrund eines persönlichen Scheiterns verschiedene Stationen ihrer Lebensgeschichte aufsucht. Diese fiktive Element führt und leitet durch den Film und bindet die nicht fiktiv konzipierten anderen Darsteller an seinen roten Faden.

Das Bezeichnende und Zeittypische besteht darin, dass die fiktive Geschichte nicht zentral, sondern das Leitungselement für einen dokumentarisch entwickelten Stoff ist. Die Regisseurin benutzt die Fiktion als Folie, vor der sich die Geschichten der anderen Darsteller in authentischer Weise abzeichnen. Genau daraus bezieht der Film seine starke Wirkung. Er verdrängt die Fiktion zugunsten eines „ehrlich“ erscheinenden Anspruchs eines prägnanten Themas.

Das sagt einiges aus über die gegenwärtige Rolle der Fiktion. Viele Regisseure und Schriftsteller halten ihre Dominanz für überholt. Angesichts der großen Krisen der Welt erscheint sie als zu schwach, um starke Inhalte in Szene zu setzen. Um das zu tun, greifen die Künste auf das reale Leben zurück und verwandeln seine Sprachen. Medial – so wenig wie möglich inszeniert.

Darauf wollte ich unbedingt hinweisen. Die überall sich bemerkbar machenden Spuren des Nicht-Fiktiven werde ich weiter verfolgen. Sie sind eminente Zeitzeichen…

 

Nomadland

So, jetzt habe ich endlich auch Nomadland gesehen! Es gab allen Grund, vor diesem außergewöhnlichen Film Respekt zu haben, denn er hat nicht nur den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig, sondern auch gleich mehrere Oscars und viele, viele weitere bedeutende Preise gewonnen.

Ich habe versucht, diesen Respekt zu verdrängen und als naiver, wenig vorinformierter Besucher einen Film anzuschauen, von dem ich nur wusste, dass seine Hauptfigur von der Schauspielerin Frances Louise McDormand gespielt wird (die ich aus dem Film Three Billboards Outside Ebbing, Missouri kannte – am 7.3.2018 habe ich  in diesem Blog darüber geschrieben).

Sie „spielt“ in Nomadland aber keine bloß erdachte Figur, sondern verkörpert eine Frau, die nach mehreren schweren Schicksalsschlägen mit ihrem Van auf den Straßen und in den südlichen Landschaften der USA unterwegs ist. Sie bleibt in ihrem Wagen weitgehend allein und für sich, trifft unterwegs aber immer wieder (in hinreissenden landschaftlichen Panoramen) auf Menschen, die wie sie allein unterwegs sind und sich bei Gelegenheit für Stunden oder Tage treffen, um sich auszutauschen.

Auch diese Menschen sind keine „Figuren“ im landläufigen Sinn, sondern verkörpern zunächst einmal sich selbst: ihr Leben, ihre Gewohnheiten, ihr Sprechen, Denken und Fühlen. Die meisten haben noch nie in einem Spielfilm mitgewirkt, daher erschienen sie nicht wie inszenierte Gestalten, sondern wie Laiendarsteller, die der Film in ihren eigenen Grenzen und Besonderheiten zu Wort kommen lässt.

Als „Nomaden“ sehen sie sich, als Menschen, die kein festes Zuhause haben und auch keines haben wollen. Um sich einen Verdienst zu sichern, übernehmen sie Teilzeitaktivitäten in Fabriken, Genossenschaften oder landwirtschaftlichen Betrieben. So arbeiten sie an einem in ihren Augen selbständigen Leben, ohne Bevormundung und beschränkende Eingriffe von außen.

An diesem auf den ersten Blick schlichten Dasein teilzunehmen, überraschte mich in der Rolle des Zuschauers. Laufend fragte ich mich, was ich an dieser uneitlen, geradlinigen, direkten und starken Hauptdarstellerin so eindrucksvoll fand. Und weiter dachte ich darüber nach, wie es einer Regisseurin (wie der in China geborenen Chloé Zhao, die seit langem in den USA lebt) gelungen war, in den letzten Krisenjahren einen Film zu drehen, der ohne jede Spur von Aggression oder Gewalt auskommt.

Selten habe ich nämlich so selbstverständlich erscheinende Formen von Zuneigung und Hilfsbereitschaft gesehen wie in diesem Film. Die Menschen stehen einander nie im Wege, sondern gehen unentwegt aufeinander zu, unterstützen und beraten sich und entwickeln dabei eine unaufgeregte Lebensklugkeit, die einen in jeder Szene verblüfft.

Als diese großen Stärken des Films mich erreicht hatten, begriff ich, warum es diesem Film gelungen war, derart viele Auszeichnungen zu erhalten. Es ist der Film, der zu unseren letzten Krisenjahren auf schon beinahe unheimliche Weise passt: Als Geschichte einer Frau, die sich von allem Vertrauten löst, ihr Leben selbst in die Hand nimmt und nur noch der eigenen Urteilskraft vertraut.

Nomadland entwirft in diesem Sinn ein eindrucksvolles Autarkiemodell unserer Tage: als Meditation über unterschiedliche Lebensformen, die alten Freiheitsideen abgewonnen werden, um sie neu zu aktualisieren. (Dass die Filmmusik von Ludovico Einaudi (gerade weil sie so „schön“ und „sentimental“ daherschleicht und sich jeder Autofahrt anschmiegt, als wollte sie am liebsten gleich mit einsteigen) nicht dazu passt, habe ich immer mehr zu überhören versucht und mich auf die Bilder verlassen…)

Ich werde Nomadland bald noch einmal sehen und seinen therapeutischen Ehrgeiz noch genauer studieren. Schon die Entstehungsgeschichte des Films (im entsprechenden Wikipedia-Artikel kurz erläutert) ist langes Nachdenken wert.