Nachtrag Klavierspielen mit links

Gestern haben mich Recherchen zum Klavierspielen mit links zu weiteren Aufnahmen und CDs (oder auch Streamingangeboten) von Maxime Zecchini geführt – und ich habe fast den ganzen Tag lang immer erstaunter gehört, was Zecchini alles nur mit links eingespielt hat: Transkriptionen von Liszt, Kompositionen von Schumann, Chopin, Ravel, Bach, Prokofiev, aber auch Filmmusik – zu Star Wars, Jurassic Park oder Jenseits von Afrika

Klavierspielen mit links

Klavierspielen gelernt zu haben, bedeutet nicht nur, ein Instrument zu beherrschen, sondern viel mehr. Im idealen Fall lernt man, es als ein „Lebewesen“ zu verstehen.

Das beginnt mit dem Blick darauf, wie es gebaut wird, wie ein bestimmtes Klavier „funktioniert“, welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Klavierbaufirmen bestehen und welches Klavier für welche Stücke besonders geeignet ist.

Von Kindheit an (am besten etwa ab dem fünften/sechsten Jahr) wächst man allmählich in den Klavierkosmos hinein, begreift, wie Komponisten für Kinder und Jugendliche komponiert haben, studiert ihre Zyklen und erforscht Stück für Stück die Klavierliteratur, ihre Möglichkeiten und Wirkungen.

Das alles ist ein elementarer, jede Klavierschülerin und jeden Klavierschüler psychisch und physisch verändernder Prozess. Nach einigen Jahren lebt man mit dem Klavier, geht in viele Konzerte, schaut und hört sich um. Ist man dann noch immer „bei der Sache“ und hat das Spielen und Üben nicht aufgegeben, wartet ein unendlicher Reichtum von Musik, der einen das ganze Leben lang begleitet.

Diesen erweiterten, wunderbaren Lernprozess durchsichtiger zu machen, war eine der Zielsetzungen meines Buches Wie ich Klavierspielen lernte (Insel Verlag). Es erzählt auf ungewöhnliche, biografische Weise, wie das Klavierspielen und ein Instrument in ein Leben eindringen, es immer mehr prägen und starke Folgen zeitigen. Daher ist es eine Art Psychobiografie des jugendlichen Klavierspielens.

Die starken Folgen erkenne ich zum Beispiel daran, dass ich mich fast täglich nach Neuigkeiten zum Thema umschaue. Ich verfolge die Geschichten bestimmter Interpretinnen und Interpreten, ich lese Musikbücher, und ich setze mich ans Klavier, um am Tag zumindest etwa eine Stunde zu spielen (momentan sehr eingeschränkt, da die beiden Hände nach einer Krankheitsphase noch nicht wieder aufeinander abgestimmt sind).

Um so mehr hat mich heute morgen ein Artikel von Michael Stallknecht in der Neuen Zürcher Zeitung elektrisiert, in dem er von dem französischen Pianisten Maxime Zecchini erzählt.

https://www.nzz.ch/feuilleton/das-spielt-er-glatt-mit-links-der-pianist-maxime-zecchini-ld.1595496

Zecchini studiert seit langem die Klavierliteratur für die linke Hand, spielt viele der Stücke ein und zeigt, dass sich fast alle Stücke auch nur mit einer Hand spielen lassen.

Hier ein erstaunliches Programm, vorgestellt von Zecchini:

Fermers Wanderungen 22

Am Mittag lag der über Nacht eingetrudelte Schneefall auf den weiten Feldern, allmählich schwächer geworden, geduckt, zusammengesunken. Noch immer wirkte er wie eine dichte Hülle, belebt von den dunklen Graphismenreihen der Maisstrünke, die ihre Notenlinien ins Weiß zogen und eine Schrift aus Ton und Wort suggerierten. Er blieb stehen und blickte am Geschlängel der Linien entlang, als wollte er auf ein Summen ringsum lauschen. Das Schneeweiß ließ den Raum wachsen, betonte die Distanzen, verstärkte die Plastik des Eindrucks – und kam ihm dadurch entgegen. Er spürte, wie die Kopfkälte nachließ und im Hirn eine fiebrige Lust entstand: weiter zu gehen, sehr weit. Dazu wünschte er sich einen knorrigen Stock, etwas zur Begleitung der Tiere, die hinter ihm herzogen. Die Krähen waren längst in den Wipfeln der Bäume untergetaucht und stiegen schwarmartig ins Helle, wenn er in die Hände klatschte, rhythmisch, um die Herde hinter sich zusammenzuhalten.

(Kurze Erläuterung: Fermer ist die männliche Hauptfigur in meinem Debütroman Fermer aus dem Jahr 1979. In Fermers Wanderungen schreibe ich diesen Roman in der Gegenwart segmentartig weiter – in der Form von kurzen Natur- und Landschaftsbeobachtungen.)

Ich reise nicht mehr – Henri Michaux

In meinen pubertären Jahren habe ich vor allem (und manchmal fast nur) französische Literatur gelesen. Es war die Literatur meiner Vorfahren.

Noch nie habe ich darüber geschrieben, wie mich diese Literatur  begleitet hat. Sie hatte einen besonderen goût, etwas Herbes, Frisches, Belebendes, etwas von Bohème-Atmosphären und etwas sehr Individuelles, als bestünde sie aus lauter Autodidakten, die sich ein eigenes Leben entworfen hatten.

Damals habe ich auch Werke von Henri Michaux (1899-1984) gelesen, seine Essays, seine Studien über Malerei (er war selbst auch ein bedeutender Maler), Notate von seinen Reisen in ferne Kontinente.

Heiner Goebbels (geb. 1952) hat kurze, reflektierende (französische und deutsche!) Textpassagen von Michaux mit Musik konfrontiert. Daraus ist ein Hörspiel entstanden, das auf die gegenwärtigen Zustände unserer Psychen reagiert. Der SWR hat dieses Hörspiel produziert und gesendet:

https://www.swr.de/swr2/hoerspiel/gegenwaertig-lebe-ich-allein-swr2-hoerspiel-studio-2021-01-07-100.html

 

Die Passion der Farbe

In einem längeren Artikel für die FAZ (4. Januar 2021) hat Marc Zitzmann von einem Besuch bei dem französischen Kulturwissenschaftler Michel Pastoureau erzählt. Dessen großes Thema ist die Geschichte der Farben: welche Bedeutung und Geltung sie in den verschiedensten Epochen der Geschichte hatten und wie diese Zuweisungen sich veränderten.

Die Farbe Blau zum Beispiel hatte erstaunlicherweise in der Antike keine herausragende Bedeutung, erst im frühen christlichen Mittelalter wurde sie stark konnotiert (Farbe des Marienmantels, hoher Rang in den Kleiderordnungen etc.). Heute ist sie in Europa sogar die Lieblingsfarbe seiner Bewohner.

Nachlesen kann man diese aufschlussreiche Geschichte in Pastoureaus Buch Bleu – Histoire d’une couleur, die im Wagenbach-Verlag auch in deutscher Übersetzung durch Antoinette Gittinger erschienen ist (Blau – Geschichte einer Farbe).

Erweitern und anwenden ließe sich diese kulturgeschichte Perspektive aber auch so, dass man nach den subjektiven Farbpassionen eines jeden Menschen fragt: Welche Farben haben mich in meinem Leben besonders begleitet/animiert/verfolgt? Und in welchen Zusammenhängen (Ereignisse/Kleidung/Räume/Dinge etc.) haben sich solche Passionen entwickelt?

Ginge man diesen hoch interessanten Fragen nach, schriebe man seine eigene Geschichte des Farbenspektrums,  bezogen auf eine private Vita. Auch so ließe sich eine Biografie also erzählen, entlang eines selbst gewählten Leitfadens…

Michel Pastoureau hat das gereizt, und er hat es getan – in seinem mit einem hohen französischen Literaturpreis ausgezeichneten Essay-Buch Les Couleurs de nos souvenirs (englische Version: The Colours of Our Memories)…

Ortheil liest 3

Meine nächste Online-Lesung organisiert das Literaturhaus Stuttgart. Dort lese ich am Mittwoch, 20. Januar 2021, 19.30 Uhr (!), aus meinen Büchern „In meinen Gärten und Wäldern“ und „Was ich liebe und was nicht“.

Eintritt (Euro): Livestreamticket: 5,- (sagenhaft preiswert!!)

Das Livestreamticket kann bis 60 Minuten vor Veranstaltungsbeginn gebucht werden und steht Ihnen dann 72 Stunden zur Verfügung.
Sie müssen nur noch Ihren persönlichen Zugangscode eingeben, den Sie mit Kauf des Tickets erhalten.
Hier entlang zum Livestream: https://stream.reservix.io/1642267

Im siebzigsten Jahr 1

An Neujahr dachte ich daran, dass 2021 mein siebzigstes Jahr ist. Anfang November werde ich meinen runden Geburtstag feiern. Aber wie?!

Eine gute Freundin rät zum Abtauchen: Im kleinen Kreis verreisen und nicht lange drüber reden. Mein bester Freund ist ganz anderer Meinung: Du solltest mal richtig auf den Putz hauen! Großes Fest, die Leserinnen und Leser einladen! Mein Verlag wiederum denkt an etwas Offizielles, mit Reden, Lesung und Empfang.

Und ich?! Ich überlege noch. Und bemerke, wie häufig ich mich nach Personen umschaue, die etwa in meinem Alter sind. Was machen die momentan? Woran denken die?

So entsteht in meinen Fantasien ein Raum des Zeitgenössischen. In ihm ist alles zu Hause, was mich in meinem Leben begleitete und berührte. Blättere ich aktuelle Zeitungen durch, sind sie voller Signale: Mit der oder dem hast Du…, die oder der war damals…, dieses Lied war und ist… – ich gebe zu, dass ich eine geheime Freude an diesen inneren Mono- oder Dialogen habe. Sie lassen frühere Zeiten auferstehen und verbinden sie mit der Gegenwart: Was war, was hat sich verändert und: Wie geht Leben?!

Ein Beispiel: In der Weihnachtsnummer der SZ entdeckte ich einen Artikel über Cat Stevens. Seit zehn Jahren lebt er in Dubai. Ein Foto zeigte ihn hochgradig entspannt, wie er in einem Sonneneck eine Tasse Tee trinkt. Auf einem runden, kleinen Tisch vor ihm liegt ein Buch, an der Wand steht eine Gitarre. Ein Mann, der zur Ruhe gekommen und mit seinem Leben zufrieden ist.

Angeblich arbeitet er an seiner Biografie, einem Kinderbuch und einer Neuaufnahme seines Albums Tea for the Tillerman. Vor fünfzig Jahren ist es erschienen – und ich erinnere mich genau. Wie oft habe ich diese Songs gehört, obwohl ich doch jemand war, der auf beinahe sträfliche Weise die neusten Songs nicht mitbekam, weil er geradezu penetrant nur Klassik und Jazz hörte.

Im Fall von Cat Stevens jedoch war das anders. In meinen spätpubertären Anfällen sah ich mich unterwegs: On The Road To Find Out…

Poetologien des Schreibens

Meine Buchhinweise im Neuen Jahr beginne ich mit einer sehr lesenswerten Anthologie, die ein großes Spektrum von Poetologien enthält.

Angeregt durch einen Essay der amerikanischen Schriftstellerin Anne Tyler (Still just writing) hat Ilka Piepgras, die Herausgeberin dieser Anthologie, vergleichbare Texte von mehr als zwanzig zeitgenössischen Autorinnen aus Europa und den USA gesammelt, die skizzieren, „warum sie schreiben und wie sie geworden sind, was sie sind“. Ziel dieser Anthologie sei es, heißt es weiter im Vorwort, „die Situation schreibender Frauen zu erhellen – in bewusster Abgrenzung von Männern“.

Entstanden ist so ein breit angelegtes Gegenwartspanorama von Schreibbedingungen, Schreibmotivationen und inspirativen Wegen. Hoch interessant für alle, die nicht nur viel lesen, sondern sich auch mehr oder weniger intensiv im Schreiben versuchen.

Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben. Kein & Aber 2020 

Rückblick und Ausblick – das alte und das neue Jahr

(Am 6. Januar 2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Meine Freunde haben Silvester in großer Stille erlebt, wie schon Weihnachten und die Tage zwischen den Jahren. Die alten Erlebniswelten sind zerbrochen, und es wird einige Zeit brauchen, bis die Reste wieder notdürftig zusammengeflickt sind. Wir haben kurz telefoniert, aber es gab nur wenig zu sagen. Früher verabredeten wir uns locker miteinander, zu einigen Kölsch, einem Essen, einem Zusammensein in kleinen Runden. Jetzt werden wir bei Telefonaten verlegen, denn niemand von uns telefoniert noch gern und wir sind es leid, die Coronathemen weiter zu wälzen.

Die Pandemie hat unser Leben im letzten Jahr wie nichts anderes geprägt und uns zu immer neuen Reaktionen gezwungen. Mit dem Blick auf unerwartete und laufend gesteigerte  Anforderungen haben wir uns verhalten und ausrichten müssen. Ein ganzes Jahr unter hochgradig zugespitzten, täglichen Informationsströmen. Sie betrafen unsere Existenzen bis in jedes alltägliche Detail, faktisch und vor allem auch psychisch.

Solche extremen Nachrichtenlagen, in denen jede Nachricht einschneidende, konkrete Wirkungen auf den Einzelnen hat, gab es in unserem Nachkriegsdasein bisher noch nicht. Wir erlebten, dass wir nicht mehr frei waren, zu tun und zu lassen, was wir wollten. Der Gedanke, jedes einzelne Leben sei durch seine Aktionsradien mit verantwortlich für das Weiterleben der Anderen, gewann eine noch nie dagewesene Priorität.

So gesehen waren die Einzelnen in der Pflicht, sich an dem auszurichten, was möglich und zum Wohle aller erlaubt war. Das Jahr 2020 hat uns daher zu Alltagskantianern gemacht, die den kategorischen Imperativ des Philosophen verinnerlichten: Handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.

Dass wir in großer Zahl zu einem solchen Umdenken und In-die-Pflicht-Genommenwerden bereit waren, ist erstaunlich. Manchmal erschien es uns sogar so, als erhielten die uralten christlich-aktiven Impulse der Sorge für den anderen einen aktuellen, neuen Sinn. Oder als wären die emphatischen Hymnen des deutschen Idealismus auf den Glauben an die Menschheit nicht blasse Schemen von vorgestern, sondern lebenserhaltende Gesänge, die auf unseren Balkonen eine schöne Wiedergeburt erlebten.

Wir planten 2020 als Beethoven-Jahr mit Tausenden von Konzerten in aller Welt, aber ganz anders als wir gedacht hatten, war der große Weltenträumer des „Alle Menschen werden Brüder“ uns auch ohne solche Konzerte so nahe wie noch nie. In seinem radikalen Leiden wie auch in seiner Fähigkeit, Freude aus den sonst meist übersehenen irdischen Dingen und der tröstenden Natur zu schöpfen.

Beethovens 250. Geburtstag feierten wir in bescheidenem Rahmen am Ende des Jahres. Seltsamerweise war es so, als erhielten seine utopischen Entwürfe eines trotz aller Widrigkeiten gelingenden Lebens wie durch Zauberhand frische Impulse der Hoffnung.

Zuletzt erschienen uns die Ankunft der Impfdosen und die häufig gesehenen Bilder der ersten Impfungen wie symbolische Handlungen: Die nackte Haut wurde hingehalten, um dem Virus eine letzte, ihn hoffentlich vernichtende Gegenwehr anzubieten. Solche Bilder der geimpften älteren Menschen wurden von befreit wirkendem Winken und erleichterten Rufen begleitet. Als nähmen uns die Älteren freundlich an der Hand, um Geduld bittend und darum, die Hoffnung auf das wieder bessere Leben nie aufzugeben.

Meine Freunde sind still geworden im letzten Jahr. Doch die Erfahrungen dieser einzigartigen Krisen haben uns mehr denn je zusammengeführt. Bald werden wir wieder sitzen und plaudern, und wir werden einander erstaunt anschauen und zuhören: ungläubig und etwas unsicher darüber, was aus uns so alles geworden ist.

Das Neue Jahr 2021

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich Gesundheit, Kreativität und jede Menge Freude im Neuen Jahr 2021!

Für Ihre Treue im vergangenen Jahr danke ich Ihnen sehr. Ich werde mich bemühen, auch das Neue Jahr mit vielen Blogbeiträgen abwechslungsreich zu begleiten!