Olga Scheps – ein Skiflug in der Kölner Philharmonie

Gestern Abend, 19.50 Uhr, zehn Minuten vor Beginn des Konzerts der Pianistin Olga Scheps in der Kölner Philharmonie. Ich sitze in einer der obersten Reihen und schaue hinab auf das Podium. Von so weit oben wirkt der Flügel wie ein Spielzeug und der Klavierhocker wie ein Puppenstubenmodell.

Der Saal ist voll, fast 2000 Zuhörerinnen und Zuhörer sind gekommen, darunter auch viele jüngere. Ich schaue und erlebe, wie sich die Massen versammeln und die Erwartung spürbar steigt.

Plötzlich aber bekomme ich es ein wenig mit der Angst zu tun. Der Blick in die Tiefe erinnert mich an genau jenen Blick, den Skifliegerinnen und Skiflieger ertragen müssen, bevor sie sich von ihrem Sitzbalken lösen und in die Tiefe stürzen.

Wie hält Olga Scheps das aus? – habe ich mich in diesen Minuten vor dem Beginn gefragt. Sie sitzt jetzt in der Garderobe und hört das Raunen, und dann muss sie ein Paar Stufen hinab zum Podium nehmen, wird sich verbeugen, wird auf den Hocker Platz nehmen und die vielen Blicke der Menschen spüren.

Sie wird ein abenteuerlich schweres Programm spielen: Zwei Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven (opus 13 und opus 110) – und nach der Pause die vier großen Balladen von Frédéric Chopin. Meine Herren! Wie wird sie… – wie ist das… – es rumorte in mir, und das Kribbeln wurde stärker.

Dann sah ich Olga Scheps in einem langen blauen Kleid das Podium betreten, sie verbeugte sich nach zwei Seiten, nahm Platz – und der große Abend begann.

Es war Skiflug – und es war Stierkampf (mit dem schwarzen Monster unter ihren Händen), und es war ein langer, wunderbar ausholender wilder Tanz – über zwei Stunden lang.

Hinterher lief ich über den verfrorenen Domplatz und sang  – und meine Freunde riefen „nicht so laut!“, und ich sang weiter, und sie sagten „du bist ja bekloppt“, und ich war weiter bekloppt und voll des Gehörten, und es wurde ein Uhr in der Nacht, bis ich endlich den Mund hielt und nur noch leise in mich hinein summte.

Stimmungen der Zwanziger Jahre

(Am 16.01.2024 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4

Die Stimmungen im Land sind „aufrührerisch“, so nennen es viele meiner Freunde und meinen damit etwas Rebellisches, das seit Beginn der Zwanziger Jahre immer stärker wurde. Manche, sehr unterschiedliche, aber in den Methoden vergleichbare soziale Gruppen artikulieren sich in Massenprotesten, weil sie sich abgehängt fühlen. Die Bauern blockieren die Straßen, die Lokführer streiken – überfüllte Autobahnen und menschenleere Bahnhöfe, das sind die dramatisch wirkenden Signale eines Ausnahmezustandes, den man lange nicht so massiv erlebt hat.

Auffällig sind auch die Sprachen des Protests, deren Wortwahl aufhorchen lässt. Das Angebot der Bahn sei „vergiftet“, glaubt etwa der Führer der Lokgewerkschaft sagen zu müssen, weil er mit dieser überdrehten Formulierung Empörung auslösen und die Proteste anheizen will. Erscheint der Bundeskanzler in einer vom Hochwasser mitgenommenen und zerstörten Region, wird er als „Vaterlandsverräter“ beschimpft und bekommt als Begrüßung ein „hau ab!“ zu hören. Unter Androhung von Gewalt wird der Vizekanzler auf seinen privaten Wegen am Fortkommen gehindert und muss auf einer Fähre die Flucht ergreifen, weil die Weiterfahrt auf dem nahen Festland zu gefährlich ist.

Dazu passen die plumpen Vokabeln der Passanten auf den Straßen, die von manchen Medien gierig aufgeschnappt und gestreut werden. Beckenbauer, sagt ein älterer Münchener, sei eine „Koryphäe“, privat aber „eine Niete“ gewesen. Beide Zuordnungen sind schief und abstoßend. Wer so spricht, ist außer sich und vergreift sich in der Wortwahl, ohne zu erkennen, welche von ihm gar nicht bedachten Vokabeln er im Mund führt. Im gesellschaftlichen Umgang miteinander geht jede Fassung verloren, die Worte zündeln und taumeln.

Das alles sind Warnzeichen unserer frühen zwanziger Jahre, und im Ausmaß der Anspannung erinnern sie an frühe Warnzeichen der Weimarer Republik, als der atmosphärische Überdruck breite Schichten ins rechte Lager abdriften ließ. Minister Habeck nimmt diese Zeichen ernst und spricht bereits von Umsturzfantasien, die sich keine Bahn brechen dürften. Meine Freunde verstehen seine Sorgen und bringen die Erregung mit der Pandemie in Verbindung.

Verräterisch sei es, wie rasch sie totgeschwiegen und abgetan wurde, als habe es sie nie gegeben und als könne man endlich zur ersehnten Normalität übergehen. Dabei erkenne man die tiefersitzenden Nachwirkungen jetzt deutlich. Die Zwanziger Jahre hätten mit massiven Eingriffen des Staates in die privaten Belange der Menschen begonnen, die zum Schweigen angehalten und deren Verhaltensformen bis ins letzte Detail geregelt worden seien.

Dieses Schweigen und die aus ihm resultierende Stille säßen noch tief in den unterbewussten psychischen Schichten sehr vieler Menschen. All das habe Angst gemacht, und diese Angst sei noch latent vorhanden und suche sich nun Kanäle der Befreiung. Die Massenproteste mit ihrer marktschreierischen Wortwahl und die Aussetzer vieler Einzelgänger seien deshalb nichts anderes als eine späte Reaktion: Schreien, möglichst lauthals und so, dass man unüberhörbar und unübersehbar sei, das sei an der Tagesordnung.

Wie aber weiter? Fragt man Soziologen oder Psychologen und liest man ihre Expertisen, wird man beinahe mutlos. Denn sie bieten meist nichts anderes an als die gute, alte Geduld der Dialogkunst. Miteinander reden, aufeinander zugehen, obwohl gerade das die Wenigsten können und wollen. Das explosive Gemisch dieser Tage hat seine ganz eigenen Kulissen und Formate, sie sind nebelverhangen und undurchsichtig, und sie ermöglichen keine beruhigten Zonen des Gesprächs oder des Nachdenkens. Vieles liegt in der Luft, und man kann nur hoffen, dass es nicht im Entsetzen endet.

Winterliche Speisen aus Venetien

Zum Start ins Neue Jahr begeben wir uns auf den Spuren von Ernest Hemingway nach Venetien und besuchen die Osteria Madonnetta, die er beschrieben und während des Ersten Weltkriegs mehrmals aufgesucht hat:

https://www.osteriamadonnetta.it/de/osteria-madonnetta/

Natürlich reisen wir nicht nur aus diesem Grund, sondern auch wegen der besonderen Küche der Region, die in kalten, winterlichen Zeiten mit Speisen aufwartet, die wir besonders schätzen:

https://www.osteriamadonnetta.it/de/traditionelle-gerichte-aus-venetien/

Unter ihnen befinden sich Kutteln nach venezianischer Art, aber auch der für die Gegend typische Musetto, der meist mit Linsen serviert wird.

Nach unserer Rückkehr setzen wir unsere Erinnerungen in die Tat um und bereiten für unsere Freunde einen Cotechino zu, der mit dem Musetto verwandt ist. Statt Linsen setzen wir auf einen Vogerlsalat, dessen Rezept wir aus Österreich importiert haben. Guten Appetit!

Winterliche Land-Art 2024 – in Zeiten der Bauernproteste

Strenge Windböen über den angeeisten Gräsern und ihrem sonnenbestrahlten Raureif.

Die Felder als gebürstete Formationen aus Brauntönen mit den letzten Signalen des Spätherbstes: Maisstrünke und aufgelockerte Erdhaufen der unterirdischen Wühler.

Die dürftig schimmernden Überbleibsel des Wassers in einer Kuhtränke – aus Zeiten, in denen die Tiere noch Schlange standen.

Die Galerie der gut verpackten und mit schwarzer Folie ummäntelten Strohballen am Waldrand – das Stillleben der Ernten.

Die metallene Raufe mit schwungvollem Dach und den steil aufragenden Zahnreihen für das entschwundene Futter.

Der geschützte Feldbrunnen mit seinem hellen Schachbrettdeckel und der pittoresk thronenden Entlüftungshaube.

Die Brennholzsammlung der vom Sturm angeschlagenen Äste – frei nach Joseph Beuys als artistisches Stegreifkonzept auf mattgrün verdunkelndem Grund.

Katharina Roßbach übernimmt den „Buchladen“ in Wissen/Sieg

(Foto:  © Rhein-Zeitung)

An letzten Wochenende, genauer gesagt am 6. Januar 2024, hat Katharina Roßbach, die neue Besitzerin des „buchladens“ in meinem westerwäldischen Heimatort Wissen/Sieg, Freundinnen und Freunde, Leserinnen und Leser zu einem Neujahrsempfang und einem Glas Sekt eingeladen.

Seit Jahrzehnten bin ich mit dieser Buchhandlung eng verbunden, zunächst dadurch, dass sie ihren Platz in Räumen gefunden hat, die ich in der Kindheit unzählige Male aufgesucht habe. Sie gehörten meinem mütterlichen Großvater, Karl Ewald Müller, einem in der ganzen Wissener Region bekannten Kaufmann, der in einem der Räume in der Tiefe des Fachwerkhauses (heute nicht frontal begehbar) sein Büro hatte.

Dann dadurch, dass ich mit Maria  Bastian-Erll in diesen Räumen über die Westerwälder Literaturtage sprach, die 2001 starteten und die wir ein Jahrzehnt zusammen leiteten, bevor sie die alleinige Leitung übernahm. Wie viele Lesungen und Veranstaltungen haben wir zusammen geplant und uns über die große Anteilnahme aller Lesenden, die oft von weither anreisten, gefreut!

Jetzt also hat Katharina Roßbach nicht nur den „buchladen“, sondern auch die Leitung der 23. Westerwälder Literaturtage übernommen, die das Thema des Kultursommers Rheinland-Pfalz „Sterne des Südens“ haben und am 5. Mai 2024 feierlich im Kulturwerk von Wissen/Sieg eröffnet werden.

In einem Artikel der Journalistin Katharina Behner im digitalen AK Kurier wurde von der Übernahme des „buchladens“  bereits im November 2023 berichtet. Hier ist er nachzulesen:

https://www.ak-kurier.de/akkurier/www/artikel/124156–der-buchladen–in-wissen–von-buchhandlungspreis-und-sanftem–bergang

Ich wünsche Katharina Roßbach viel Erfolg, freue mich über ihren Start und bitte alle Leserinnen und Leser dieses Blogs, sie in allen Belangen zu unterstützen. Ab Mitte Januar 2024 sind im „buchladen“ zehn Bücher deutscher und fremdsprachiger Literatur aus meiner früheren Hausbibliothek antiquarisch zu erwerben, die ich handschriftlich mit „Hausbibliothek Ortheil“ ausgewiesen habe. Die durch ihren Verkauf erzielte Geldsumme ist als kleines Startgeschenk für die neue Besitzerin gedacht. 

Melody Gardot – zum Jahresbeginn

Zum Jahresbeginn hier der Mitschnitt eines Konzertes von MELODY GARDOT, schon vor einigen Jahren in Basel aufgezeichnet, aber völlig zeitlos, eine hinreißende Stimme, einzig, in deren Begleitung der Sturz ins Neue Jahr leicht schwindelerregend gelingen könnte!

Ein kreatives 2024 wünsche ich allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs!

Past Lives – In einem anderen Leben

Zum Jahresbeginn 2024 habe ich mir den viel gelobten Film Past Lives – In einem anderen Leben angeschaut, der in unseren Kinos läuft, aber auch über Angebote im Netz abrufbar ist.

Regie und Drehbuch stammen von der in Südkorea aufgewachsenen Autorin Celine Song, die sich dabei an eigene Erlebnisse anlehnte. Als zwölfjähriges Kind ist sie mit ihren Eltern nach Kanada ausgewandert und hat dabei einen etwa gleichaltrigen Freund zurückgelassen.

Im Film nimmt sie dieses Motiv zum Ausgangspunkt der Geschichte und lässt die junge Frau zwölf Jahre später nach dem Verbleib ihres Freundes in den sozialen Medien recherchieren. Sie entdeckt ihn dort wahrhaftig und nimmt mit ihm Kontakt auf.

Wiederum zwölf Jahre später treffen sich die beiden dann auch real – in New York, wohin der koreanische Freund für einige Tage gereist ist, um seine Kinderliebe wiederzusehen. Sie ist inzwischen verheiratet, die Begegnung wird zu einem Treffen zu dritt…

Das Begeisternde an diesem Film ist der leichte und doch in den Tiefenschichten der Seelen nachspürende Umgang mit dem Stoff, dessen Kitschpotential erheblich ist, aber nie berührt und umgesetzt wird. Zwei Menschen kommen ohne einander nicht aus und müssen lernen, mit dem Verzicht umzugehen. Die dritte Figur ist dabei der hilfreiche Mediator, der dazu beiträgt, dieses Niveau zu erreichen, ohne sich selbst drohend oder sonst wie beharrend ins Spiel zu bringen.

Die Leichtigkeit dieser Filmkunst im wahren Sinn  besteht auch darin, Räume und Städte unauffällig in Szene zu setzen. Sie beherrschen die Szenen nicht, sondern erscheinen (niemals dekorativ, eher punktierend) als intime Zonen von Gesprächen, als Binnenräume von Lesarten verschiedener Kulturen, in denen sich die Figuren suchend und sich orientierend bewegen.

Zu  Beginn eines neuen Jahres wirkte dieser Film wie ein kleines, nachdrückliches Signal: Dazu, Begegnungen zu erforschen und ernst zu nehmen, ohne die typischen Tragödienversionen auszuschlachten, die in allen Begegnungen latent schlummern.

Kreatives Schreiben erforschen und angehen

„Kreatives Schreiben“ besteht nicht nur aus Trainingssimulationen für Schreibwillige, sondern ist auch ein Forschungsterrain. Dann werden die einzelnen Schritte kreativer Akte in ihren offenen und verborgenen Bezügen erforscht. Genau das versucht die literarische Kreativitätsforschung.

In einer kleinen Bildcollage habe ich einige Schritte veranschaulicht. Das Gemälde unten rechts ist von dem italienischen Maler Lorenzo Lotto und zeigt, 1526 gemalt, einen schreibenden Dominikanermönch. Er ist in einem Moment des Nachdenkens oder der Besinnung erstarrt und schaut den Betrachter fragend an. Was kommt als nächstes? Was erwartet das Schreiben von mir, und was erwarte ich vom Schreiben?

Drei Alternativen sind angedeutet: 1) Oben rechts die Suche nach einem Zugang und damit nach einem zentralen und weiterführenden Einfall, erschwert durch allerhand an den Rändern auftauchendes Ideengestrüpp, 2) Oben links die Bewegung der Einfälle oder Ideen, die sich auf einen Fluchtpunkt hin orientieren, aber noch nicht austariert sind, 4) Unten links die durch Waben und Mini-Gehäuse verbundenen Einfälle, die gespeichert sind und auf Abruf warten.

Zu Beginn des neuen Jahres 2024 wünsche ich allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs viel Freude am eigenen Schreiben! Beginnen Sie gleich damit oder schreiben Sie weiter! Ich werde mich bemühen, Sie durch Anregungen in diesem Blog dann und wann zu begleiten.

Ein Jahresrückblick 2023 – Die Arbeit am Blog

Am Ende des Jahres 2023 ergibt sich die Gelegenheit, auch einmal auf die viele Arbeit an diesem Blog zurückzublicken.

Sage und schreibe 225 Einträge gab es zu lesen, mit weit über sechzig  Buchempfehlungen, unzähligen Musikvideos und vielen Hinweisen auf Filme, Radiosendungen oder Zeitungsausschnitte.

Die Motive und Themen des Blogs entstehen vor dem Hintergrund von anregenden oder inspirierenden Texten in den Tages- und Wochenzeitungen (Kölner Stadt-Anzeiger/ FAZ/ SZ/ Rhein-Zeitung/ Stuttgarter Zeitung/ DIE ZEIT/ SPIEGEL), deren regelmäßige Lektüre erweitert wird durch das Schauen von Fernsehsendungen und das Stöbern in Mediatheken.

Die Buchempfehlungen ergeben sich durch das ebenfalls regelmäßige Studium von Newslettern und Programmvorschauen der Verlage. Die mich interessierenden Bücher werden dann bestellt/ gekauft oder in Bibliotheken ausgeliehen.

Auch die Auswahl der Musikvideos und Filmausschnitte ergibt sich durch ein regelmäßiges Kontaktieren von aktuellen Playlists oder Kinoprogrammen.

Eine solche Arbeit verläuft an sieben Tagen in der Woche. Die Primärkosten für den Blog belaufen sich dabei auf mehrere Tausend Euro (Kosten für Bücher, Zeitungen, Büro, Assistenz, Buchbeschaffung). Die Sekundärkosten (Lektürezeit, Planungs- und Schreibarbeit) lassen sich nicht berechnen, sie sind, wie leicht vorstellbar, recht hoch.

All das ist allein nur schwer finanzierbar. Ich versuche es, so gut es geht, und arbeite ohne jede mäzenatische Unterstützung von Firmen, Verlagen oder sonstigen Werbeträgern. Und warum? Weil ich den Blog auch als ein soziales Projekt („soziale Plastik“ hätte Joseph Beuys es genannt) betrachte, das gegenwärtig ca. 50 000 regelmäßige Nutzer und Nutzerinnen informiert, unterhält und ihnen hoffentlich etwas Freude macht.

Die SALA ORTHEIL in Wissen/Sieg (Mittelstraße 16) ist (neben meinen Lesungen und sonstigen Veranstaltungen) ein Versammlungsort für das Gespräch über die Blogthemen. 2023 fanden dort u.a.  vier Sitzungen einer Schreibakademie des Kreativen und Literarischen Schreibens statt, in deren Verlauf neue Texte über Wissen, Sieg entstanden und lektoriert wurden. Auch die SALA ist allein nur schwer finanzierbar. Ich versuche jedoch, diese Räume weiter für Gespräche über das Schreiben und Lesen bereitzuhalten. Und warum? Weil ich die SALA ebenfalls als ein soziales Projekt („soziale Plastik“…) betrachte, das Literaturinteressierte und Schreibwillige zusammenführt.

Ich danke besonders allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs, die meine Arbeit durch Mails, Kommentare oder durch finanzielle Wertschätzung am Leben gehalten haben. Viele Rückmeldungen haben mich motiviert, nicht nachzulassen oder aufzugeben, sondern noch ein wenig weiterzumachen. Aus einer anerkennenden Rückmeldung einer Leserin möchte ich abschließend zitieren:

Sehr geehrter Herr Ortheil,

herzlich danken möchte ich Ihnen für Ihre hervorragenden und unterhaltsamen Blog-Einträge in diesem Jahr. Wir Leser sind Tag für Tag immer wieder aufs Neue überrascht, welche Gedanken da jeweils immer wieder so wunderbar auf den Punkt gebracht werden. Es macht einfach Freude, Ihre Blogeinträge zu lesen.

So soll es sein! Großen Dank und ein gutes, kreatives Neues Jahr 2024!!

Die Zeit zwischen den Jahren 3 – Eine Modigliani-Ausstellung

 

Die Zeit zwischen den Jahren ist eine der anregendsten überhaupt: nicht die üblichen täglichen Pflichten, sondern die Freiheit, einige Tage nach Lust und Laune zu verbringen, bis Silvester vorbei ist. Eine Zeit für Museen, Kino und Theater!

Ich habe sie genutzt, um eine Modigliani-Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart anzuschauen, die noch bis zum 17. März 2024 zu sehen ist.

Der in Livorno geborene Künstler Amedeo Modigliani (1884-1920) erhielt als junger Mann in Florenz und Venedig eine Ausbildung im Zeichnen und Malen, die ihn noch später stark prägte.

Die Ausstellung widmet sich aber vor allem seinen Jahren in Paris, wo er seit 1906 in den Arrondissements von Montmartre und Montparnasse lebte. Als aufmerksamer Besucher hat man den Eindruck, große Teile seines Freundeskreises genauer kennenzulernen. Das geschieht fast ausschließlich durch Porträts. Man mustert seine Bekannten, die ihm Modell sitzen, und erlebt, wie sie einem begegnen: als näher rückende Personen, die einen offen und interessiert anschauen oder sich hinter einem gestisch verstärkten Distanzblick verbergen.

Es sind Freundinnen, Literaten und Kunsthändler, aber auch namentlich nicht bezeichnete Menschen des alltäglichen Umgangs. Auf den dicht nebeneinander hängenden Gemälden erscheinen sie als plastische Gestalten, die von Modigliani durch die Brille der Skulptur betrachtet und geformt wurden, so, wie er es zunächst in seinen bildhauerischen Arbeiten erprobt hatte.

Eine Karte von Paris ist während des Rundgangs auf einer großen Wand zu sehen. Daneben befinden sich Fotografien der realen, porträtierten Personen. Mit der Zeit bezieht man die Menschen aufeinander und nimmt sie als Spiegelungen von Atmosphären und Stimmungen der Stadt wahr, die Modigliani durch seine Porträtkunst auf indirekte Weise eingefangen hat. Die Gestalten werden lebendig, und man glaubt, sie die schmalen Gassen und Straßen von Montmartre treppauf und treppab schlendern und in die Cafés von Montparnasse einkehren zu sehen.

So wird der Gang zu einem beinahe intimen Flanierweg durch Paris, deren begleitende Kreise man nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören glaubt: im leisen Austausch mit Modigliani, der eine Welt erfunden und ihr ein Zentrum gegeben hat.

Hier ist der Zugang zu einem Trailer, einem Ausstellungsfilm, aber auch zu einem 360 Grad-Rundgang abrufbar, der einen diese Ausstellung auch aus der Ferne zumindest provisorisch erleben lässt:

https://www.staatsgalerie.de/de/ausstellungen/aktuell/modigliani