Der Laubfall – in meinen Gärten und Wäldern

In diesen Tagen schreibt der Laubfall seine Geschichten. Die Äste und Zweige der mächtigeren Bäume treten prägnant und mit leicht metallischem Glänzen hervor.

Sie entwerfen die dunkle, stabile Struktur einer Plastik, die den Wuchs des zurückliegenden Jahres bewahrt und fragen lässt, wie man ihm weiter begegnet: Zurückschneiden? Hier und da kürzen? Kleine Eingriffe in den Gesamtbau, um eine harmonischere Form zu erzielen?

Die trockenen Blätter weiten sich ein letztes Mal und betonen die feinen Adern. Dann lösen sie sich leicht und hinterlassen eine minimale Wunde, die sich schon bald wieder schließt. Auf dem Boden sammeln sie sich schichtweise, lagern sich breit, rollen sich mehr und mehr zusammen und bilden allmählich den Winter hindurch eine feine Streu, die sich zu Erde zersetzt.

Die dunkle Plastik jedoch setzt sich den kälteren Wettern aus, unterzieht sich der Kühlung, bündelt Energien und wartet, bis die Böden sich wieder öffnen und feuchtes Venengeäder anbieten.

(Das Buch In meinen Gärten und Wäldern ist gerade erschienen, dieser Text aber ist neu und wird irgendwann in einer erweiterten zweiten Auflage auftauchen.)

Ich danke

Den überwältigend vielen Leserinnen und Lesern dieses Blogs, die mir gestern zum Geburtstag gratuliert haben, danke ich ganz herzlich! Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich die sehr zahlreichen Mails nicht einzeln beantworten kann.

Ich habe bei idealem Herbstwetter einen sehr schönen, ruhigen Tag erlebt, jetzt gehe ich wieder an die Romanarbeit…

Margaret Atwoods Gedichte

Es ist Zeit für langsame, assoziierende Lektüren und Entdeckungen… – wie etwa für die Gedichte von Margaret Atwood:

  • Margaret Atwood: Die Füchsin. Gedichte 1965-1995. Übertragen von Ann Cotten, Ulrike Draesner, Christian Filips, Dagmara Krauss, Kerstin Preiwuß, Elisabeth Plessen, Monika Rinck, Jan Wagner und Alissa Walser. Berlin Verlag

Die kanadische Schriftstellerin ist nicht nur eine der großen Erzählerinnen der Gegenwart, sondern eben auch eine bedeutende Lyrikerin, die seit ihren Anfängen als Autorin mehr als zwanzig Gedichtbände veröffentlicht hat. Die Füchsin enthält eine chronologisch geordnete Auswahl aus diesen Bänden, die (und das ist besonders selten und packend) ein ganzes Leben als einen einzigen, anregend mäandernden Gesang erscheinen lässt.

Die Gedichte liegen im Original und in freien Übersetzungsversionen von neun unserer besten und bekanntesten deutschen Lyrikerinnen und Lyriker vor.

Ein Buch voller metaphernreicher und verspielter Reflexionen über gut nachvollziehbare Szenarien des Lebens!

Zur Vertiefung eignet sich das Porträt von Margaret Atwood, das Arte momentan noch in seiner Mediathek anbietet: Aus Worten entsteht Macht…

 

Eine neue Arbeitsmoral

(Gestern, am 2. November 2020, auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Mein Freund Harald, von Beruf Ingenieur, ist mit seinem Sohn nicht zufrieden. Fragt er ihn, welche Zukunftspläne er hat, winkt er ab. Er will nichts „werden“ und denkt daher auch nicht an einen bestimmten Beruf. Stattdessen will er vor allem „leben“. Was aber soll das heißen?

Fragt man nach, erhält man lauter Antworten, die vor allem vieles ausschließen. So will Haralds Sohn zum Beispiel nicht immer dasselbe tun. Morgens früh aufzustehen und zur Arbeit zu eilen, um so etwas wie Karriere zu machen, ist ihm ein Graus. Er behauptet, mit wenig Geld auszukommen, und ist sicher, dass er dieses wenige Geld, wann immer er es braucht, auch irgendwie beschaffen wird. „Irgendwie!“ – das lässt meinen Freund Harald aufbrausen. Und wenn nicht – was dann? Soweit denkt sein Sohn angeblich nicht. „Genügend Geld ist immer da“, ist einer seiner Schlüsselsätze, und er trägt solche Weisheiten so gelassen und ruhig vor, als käme er gerade aus der Schule asiatischer Weisheitslehrer.

Früher war Arbeit ein geradlinig verlaufender, sich steigernder und die Ansprüche mit der Zeit erhöhender Prozess, der den ganzen Menschen forderte. Das Leben bestand aus dieser Arbeit, und daneben gab es „Freizeit“ und „Urlaub“, die mühsam erkämpft und teuer waren und gar nicht so selten langweiliger als alle Arbeit.

„Freizeit“ und „Urlaub“ beansprucht Haralds Sohn aber ebenso wenig für sich wie Arbeit. Er denkt nicht in solchen Kategorien, sondern will sich „dem Lebensprozess“ überlassen. Die Welt, die Zeit und die Dinge sollen etwas mit ihm machen, anstatt von ihm in die Hand genommen und nach festen Regeln geformt und gestaltet zu werden. „Alles ist im Fluss“ ist in Coronazeiten einer der Glaubenssätze, die er mit einem sanften Lächeln ins Spiel bringt, als hätte er eine tiefere Ahnung von geheimem Wissen.

Vor kurzem hat er sich um ein Stipendium für Nichtstun beworben, das von der Hamburger Hochschule für bildende Künste ausgeschrieben wurde. Auf dem Bewerbungsformular waren vier Fragen zu beantworten: Was wollen Sie nicht tun? Wie lange wollen Sie es nicht tun? Warum ist es wichtig, genau das nicht zu tun? Warum sind Sie der/die Richtige, das nicht zu tun?

Die Antworten fielen Haralds Sohn leicht: Er will nicht arbeiten. Er will es ein Leben lang nicht tun. Nicht zu arbeiten, ist wichtig, weil es den Blick auf die vielen interessanten Dinge des Lebens öffnet, die man sonst gar nicht zur Kenntnis nehmen würde. Natürlich ist er auch genau der Richtige, nicht zu arbeiten, weil er das verfügbare Vermögen des Vaters abschätzen und sich im Notfall darauf verlassen kann.

Die 1600 Euro, die für den Erhalt des Stipendiums gezahlt werden, möchte er seinem Vater schenken. Damit er als ehrgeizarmer Sohn eines ehrgeizigen Vaters erst gar nicht auf die Idee kommt, das Geld für sich arbeiten zu lassen. Das soll vielmehr der Vater tun: Es gut anlegen und vermehren. Notfalls könnte daraus irgendwann eine Stiftung entstehen: gemeinnützig und getragen von all jenen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld.

Eine Gedankenübertragung besonderer Art

Manche Kompositionen höre ich immer wieder, und es fehlt mir etwas, wenn ich sie eine Weile nicht gehört habe. Die meisten sind Stücke für Klavier solo, auf viele habe ich auch bereits in diesem Blog hingewiesen.

Nun aber ist eine neue CD der Pianistin Khatia Buniatishvili erschienen (Labyrinth), deren Konzerte und Aufnahmen ich seit vielen Jahren genau verfolge.

Was soll ich sagen?! Es muss sich um eine Gedankenübertragung handeln, denn sie spielt wahrhaftig lauter Stücke, die ich mir gewünscht haben könnte: Die Gymnopédies von Erik Satie, Vocalise von Sergej Rachmaninoff, Les Barricades Mystérieuses von François Couperin, eine Sonate von Domenico Scarlatti, mehrere Flüsterstücke von Johann Sebastian Bach und und und…

Was ist da bloß passiert? Es muss sich um eine Art Gedankenübertragung handeln, anders kann ich es mir nicht erklären. In diesen Tagen, in denen man angehalten wird, Kontakte zu reduzieren, scheinen sich andere Kontakte zum Glück auf geheimnisvolle Art zu vertiefen…

Ein kleines Wunder! Bitte unbedingt hören – ein stilles, intimes Fest!

Ein „Buch der Stunde“

Heute stellt die SWR-Redakteurin Leonie Berger in SWR 2 am Samstagnachmittag mein gerade erschienenes Buch In meinen Gärten und Wäldern in einer klugen und kenntnisreichen Besprechung als ein „Buch der Stunde“ vor.

Hier ihre Rezension:

https://www.swr.de/swr2/literatur/hanns-josef-ortheil-in-meinen-gaerten-und-waeldern-100.html

Wer die Sendung live hören will, kann das ab etwa 14.30 Uhr, dann erlebt er zusätzlich auch meine kurze Lesung eines Ausschnitts („Das Mirabellenblütenfest“), die in der Online-Version nicht erscheint.

(Eine kleine Korrektur des Beitrags möchte ich noch anfügen: Ich bin kein „emeritierter“ Professor an der Universität Hildesheim, sondern weiter als Seniorprofessor für das dortige Literaturinstitut tätig…)

Eine Botschaft für Frau Merkel

(Am 30. Oktober 2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger, S. 4)

Guten Tag, Frau Merkel, ich melde mich aus meiner einsamen Klause: Häuschen, Garten und ein Stückchen Wald. Ich bin gesund, ich habe die neusten Beschlüsse zur Kenntnis genommen und handle entsprechend.

Der Morgen beginnt mit einem Blick auf das Alpenpanorama von 3sat, minutenlange Bilder von Alpengletschern und weiten Tälern. Der Wilde Kaiser, das Nebelhorn. Kein Mensch ist zu sehen, kein Tier, keine Bewegung, selbst die Sessellifte stehen still – das ist ein wunderbarer Auftakt für den weiteren Tag, an dem nichts so sehr geboten ist wie das Vermeiden von Kontakten oder intensive Bewegung.

Ich tröste mich mit dem Blick auf die hochaktiven Eichhörnchen, sie planen den Winter und sammeln momentan eine unvorstellbare Zahl von Nüssen und anderen Delikatessen. Ich selbst vermeide Delikatessen, schon das Wort ist mir fremd geworden, lieber gehe ich in mich gekehrt und selbstverständlich allein durch den Garten, ernte Äpfel, Birnen und Quitten und verspeise sie morgens, mittags und abends.

Ich denke nicht mehr daran, meine nächsten Kreise längere Zeit zu verlassen, schon bei der bloßen Vorstellung sehe ich Sie vor mir, wie Sie ihr strenges Pokerface aufsetzen oder genervt mit den Augen rollen. Wenn Sie Putin, Trump oder Boris Johnson begegnen, lassen Sie diesen Merkelroller kreisen, ich träume bereits davon, und wenn ich einen Schritt hinaus ins freiere Leben mache, begleitet er mich, und ich blicke verschämt zu Boden. Wie konnte ich nur daran denken, mich mit meinen Freunden zu treffen? Wie kam es mir bloß in den Sinn, meinen baldigen Geburtstag fröhlich und in großer Runde zu feiern?

Ich werde natürlich darauf verzichten, liebe Frau Merkel, ich werde allein bleiben, nur meine Frau wird mir als einzige Live-Gratulantin ein Ständchen singen. Nein, sie wird mich nicht umarmen, auch einen Kuss ersparen wir uns. Wir werden sprachlos durch die herbstlichen Wälder tappen und schnüffelnden Hunden ebenso ausweichen wie kinderreichen Familien. Sollte es uns dennoch für ein Stündchen zum Einkauf in die Stadt verschlagen, werden wir unser markantes Maskendeutsch intonieren: Knappe Ansagen, keine Adjektive und Verben, Ausrufezeichen nach jedem Substantiv!

Hehre Mutter des Landes, ich werde gehorsam sein und mich so wenig regen wie möglich. Das ferne Leben werde ich über Webcams verfolgen und mir den Angsttraum eines Grabsteins verbieten, auf dem stehen könnte: „Er war mit allem einverstanden.“

Beethoven 5

Das Beethovenjahr geht auf sein Ende zu. Mitte Dezember wird man seinen 250. Geburtstag feiern. Auf dieses Datum möchte ich (nach mehreren Blogeinträgen in diesem Jahr) abschließend hinführen – durch einige weitere Vorschläge, sich mit diesem gewaltigen Musikkontinent zu beschäftigen. Bewusst wähle ich Verblüffendes, wenig Bekanntes, das noch einen starken Überraschungscharakter hat:

Ludwig van Beethoven ist neunzehn Jahre alt, als er sich – noch in seiner Geburtsstadt Bonn – eine Kompositionsaufgabe stellt: Ein kurzes musikalisches Motiv durch alle Dur-Tonarten zu führen. So entstehen zwei Präludien (op. 39), hier geht es um die Nr.1.

Die folgende Videoprojektion macht den Wechsel der Tonarten gut nachvollziehbar. Man hört (und sieht), wie Beethoven die verschiedenen Tonarten charakterisiert, welches Tempo er für sie wählt und wie er insgesamt jeweils mit einer bestimmten Tonart umgeht und ihr zu einem eigenen Ausdruck verhilft.

So gehört (und gesehen) erlebt man ein Kompositionstraining als Hörtraining.

Viel Vergnügen!

Thomas Oppermann ist gestorben

Gestern erfuhr ich, dass Thomas Oppermann, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, unerwartet und plötzlich in Göttingen gestorben ist. Von 1998 bis 2003 war er in Niedersachsen Minister für Wissenschaft und Kultur. In dieser Zeit spielte er in meinem Leben eine wichtige Rolle, denn er war es, der mich auf eine Professur an der Universität Hildesheim berief.

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich auf einer Autobahnraststätte einen plötzlichen Handy-Anruf von ihm erhielt. Dabei fragte er mich, ob ich bereit sei, diese Professur zu übernehmen und den Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ weiter zu entwickeln und zu profilieren. Ich sagte sofort zu.

Nach meiner Berufung hat er mich dann und wann erneut angerufen und mit mir über diese Aufgabe gesprochen. Er war ein kluger, sensibler und humorvoller Politiker mit einem starken Interesse an Literatur und den Künsten, so dass jedes Gespräch viel mehr war als eine blosse Information über universitäre Angelegenheiten. Bis zu seinem Tod habe ich ihn immer im Auge behalten, so, wie man einen alten, sympathischen Bekannten im Auge behält, mit dem man sich irgendwann wieder treffen und unterhalten wird.

Er hatte mitgeteilt, dass er nicht erneut für den Bundestag kandidieren und aus politischen Ämtern ausscheiden werde. Wie gerne hätte ich ihn in Göttingen wiedergesehen, um nicht nur über das Hildesheimer Schreibinstitut, sondern über viel mehr zu sprechen. Ich werde mich mein Leben lang an unsere Gespräche erinnern.