Kleine Heimat(en) 1

Vor kurzem habe ich mit Mariana Leky und Arnold Stadler über Heimat(en) gesprochen (vgl. 01.06.2019). In diesen Gesprächen haben wir verschiedene Heimatbegriffe unterschieden: Die „erste Heimat“ (als Raum der frühsten, prägenden Begegnungen und Erfahrungen), die „zweite Heimat“ (als neuen Raum, in den man als Jugendlicher aufbricht, um dort eine Heimat für sich zu entwerfen), die „ferne Heimat“ (als weiten Raum des Jenseitigen und weit Entfernten, das ganz anders ist als das frühere Zuhause), die „europäische Heimat“ (als Heimat der Nachbarschaft der europäischen Völker), die „neue Heimat“ (als Heimatsuche der Menschen, die sich als Fremde/Flüchtlinge in einem nicht freiwillig aufgesuchten Raum etablieren) – und schließlich die „globale Heimat“ unseres Welt-Universums, deren Ganzheit und Vielfalt uns spätestens seit den Raumflügen der späten sechziger Jahre und dem Blick auf den blauen Globus ganz bewusst geworden sind.

Gegenwärtig denke ich weiter über diese Begriffe nach und möchte ihnen heute die „kleine Heimat“ hinzufügen. Sie ist jener oft begrenzte und minimale Raum zu Hause und anderswo, den wir sehr häufig in unserem Leben aufgesucht haben und in dem wir uns für die meist zeitlich bemessene Dauer eines Aufenthaltes beheimatet fühlen.

Einige Beispiele: Bin ich in München unterwegs, eröffnet sich im Englischen Garten rund um den Chinesischen Turm eine „kleine Heimat“, in der ich schon viele Stunden meines Lebens verbracht habe. Fahre ich nach Hamburg, gehe ich fast immer die Straße „Lange Reihe“ in der Nähe des Hauptbahnhofs entlang, in der ich beinahe jedes Geschäft, Café oder Restaurant kenne. Besuche ich Bonn, streife ich im Beethovenhaus meist sehr langsam durch alle Räume, als wäre ich nicht längst schon über fast alles darin im Bilde. Und so weiter.

„Kleine Heimaten“ sind Inseln des Geborgenseins. Jede ist anders und leitet einen zu einem stark emotionalen Teil des eigenen Selbst zurück. Worin die Verbindung zwischen dem oft entfernten Weltausschnitt und mir dann jeweils besteht, weiß ich nicht genau zu sagen. Auf jeden Fall aber spüre ich in solchen Heimaten eine enorme Anziehung, die von winzigen Details ausgeht. Das Studium dieser Details könnte stark dazu beitragen, dass ich mich, naiv gesagt, noch besser und genauer „kennenlerne“. Als hätte ich mit einer fremden Person zu tun, deren Spleens ich detektivisch aufdecken würde, um dadurch ihre Bekanntschaft zu machen (und vielleicht sogar ihre Freundschaft zu gewinnen).

Sicher, liebe Leserinnen und Leser, kennen auch Sie solche „kleinen Heimaten“. Schicken Sie mir doch bitte einen kurzen Text, in dem Sie zumindest eine von ihnen beschreiben oder von ihr erzählen.

Neues Wohnen 1

 (Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

In den letzten Wochen habe ich meinem Freund Peter bei seinem Umzug geholfen, schon seit einem halben Jahr hat er die Aktion vorbereitet. Zunächst legte er Listen mit älteren, aussortierten Möbeln, Kleidungsstücken, Küchengeräten und Büchern an und stellte sie ins Netz. Das meiste davon verkaufte er, einiges verschenkte er auch. Der Umzug erwies sich dadurch als ein grundsätzlicher gedachtes Vorhaben. Peter wollte nicht nur von einer Wohnung in eine andere wechseln, sondern er plante den bewusst vollzogenen Beginn eines neuen Lebensabschnitts, dessen Ausrichtung und Charakter die veränderten Räumlichkeiten spiegeln sollten.

Peter hatte eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit kleiner Küche und Bad in der Nähe seines Arbeitsplatzes in einem belebten Viertel der Stadt gefunden. Er wollte nicht mehr wie in den letzten Jahren der Ausbildungszeit abgeschottet und relativ isoliert leben, sondern „unter Menschen wohnen“. Daher stellte er ausführliche Erkundigungen über die nachbarliche Umgebung an. Welche Geschäfte, Kneipen und Treffpunkte gab es dort, wo würde er rasch Anschluss und Kontakte finden? Bisher hatte er seine Wohnung als eine Art Höhle betrachtet, in der er seine Studien und Passionen betrieben, anderen aber fast keinen Zugang gewährt hatte. Entsprechend dunkel und farblos hatte es in ihr ausgesehen. Die neue Wohnung soll ganz anders werden: hell, farbig, offen für Gäste, mit denen zusammen er in seiner Küche kochen und essen will.

Seinen Wagen hat Peter verkauft, denn zum Arbeitsplatz kann er nun mit dem Fahrrad fahren. Das Frühstück davor isst er nicht mehr eilig zu Hause, sondern in einer Bäckerei mit Stehausschank. Bei seinem dritten Besuch wurde er schon erkannt und geriet mit den Verkäuferinnen rasch ins Gespräch. So wie dort ist es auch an anderen Orten: Mehrmaliger Besuch führt zu Bekanntschaften und Unterhaltungen über alles, was in der Umgebung „so läuft“.

Peter wohnt seit neustem daher nicht mehr in einer „Höhle“, sondern eher in einem „Nest“. Es soll luftig, reich an Atmosphären und leicht zugänglich sein. Nach zwei bis drei Jahren könnte vielleicht schon ein weiterer Umzug anstehen, mit einem wiederum ganz anders gearteten Programm. So, sagt Peter, verstehe er nämlich „das neue Wohnen“: als zeitlich begrenztes, auf eine Umgebung bezogenes Lebensprojekt.

Nachtkerzen

Sie sind der nächtliche Begleitreigen der königsgelben Schwadron. Streckt diese sich brütend in der Gluthitze des Tages, so beginnen die Nachtkerzen ihren Tanz am frühen Abend, in jenen Stunden, da es allmählich kühler wird. Die dunkelgrünen, ledrig erscheinenden Kelchblätter umschließen das dämmernde Gelage der gelben Blüten, bis deren gestockte Kraft sie sprengt und die einzelnen Blütenblätter hervorschießen und sich entrollen. Geöffnet bilden sie zwei ineinandergreifende Lagen von hellgelben Fächern, die sich an der Frische der Nacht nähren, bis sie, sobald die Hitze wieder erstarkt, in sich zusammenfallen und mit einer bekümmert und schwächelnd erscheinenden Pantomime ihren Abschied verkünden.

Der erste Walkman und seine Folgen

Als vor genau vierzig Jahren der Walkman auf den Markt kam, war ich sofort begeistert. Meine erste Fahrt mit dem neuen Gerät verlief auf einem Fahrrad von Köln aus. Ich fuhr in Domnähe los und immer weiter nach Süden, direkt am Rhein entlang. Manchmal machte ich Station, setzte mich irgendwo ins Grün und hörte Klaviermusik. Bach, Mozart, Schumann – meine Pausen dauerten jeweils etwa zwanzig Minuten, und ich genoss die Befreiung von all den Innenräumen und Wohnungen, in denen ich früher solche Stücke gehört hatte.

Die Schallplatte hatte einen vom Hören im Konzertsaal befreit, der Walkman befreite einen darüber hinaus von schweren Geräten, Lautsprechern und Elektroanschlüssen. Das mobile Hören mit Hilfe eines kleinen handlichen Geräts war genau das, was ich mir immer gewünscht hatte.

Ich fuhr bis Weiß und nahm die Personenfähre nach Zündorf. Später ging es auf der rechten Rheinseite wieder zurück. Ich hatte eine große musikalische Schleife hingelegt und sie mit lauter Musikstationen bestückt.

Der nächste Schritt bestand darin, weitere solcher Musikprogramme zusammenzustellen. Das Weiß-Zündorf-Programm war die Nummer 1, Wochen später gab es bereits beinahe fünfzig solcher Nummern, darunter das Wuppertaler Schwebebahn-Programm, das Kölner Dombesteigungsprogramm oder das Nippeser Brauhausprogramm. Überallhin begleitete mich nun Musik, die ich für die entsprechenden Orte und Räume eigens ausgewählt hatte.

So verdankte ich dem Walkman die Autonomie des Hörens und damit bald auch ein neues Leben als Aficionado von Klaviermusik jedweder Art.

Herzliche Gratulation für Leander Fischer

Sonntag, 30. Juni 2019, 11.24 Uhr: Leander Fischer, Masterstudent am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim, gewinnt beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt den Preis des Deutschlandfunks (in Höhe von 12 500 Euro). Seine Masterarbeit wird gegenwärtig von Thomas Klupp betreut. Herzliche Gratulation!!

Calor 2

Diese nervenzerreißenden Tage, an denen Du den Lesungen in Klagenfurt folgst und Dich von kalten Getränken ernährst und der alte Fernseher laufend abschaltet und seltsame Zeichen auf monochromem Grund meldet, ein Hellgrün, ein verwaschenes Weiß, externer Player, wer spricht da, wer sendet mir das, und eine Jurorin der Hitze erliegt und von Sanitätern aus dem Studio getragen wird, während der Sender den Dienst versagt und plötzlich Bilder der tagesschau eingeblendet werden, die Kanzlerin mit einem Anfall immensen Zitterns, die Arme verschränkt, und im nächsten Moment in einem Flieger davonzwitschernd zum Osaka-Gipfel, dessen Sequenzen ich durch einen Druck auf die Fernbedienung hinter mir lasse, nicht darauf reagierend, dass in der Hitze-Hölle des Draußen meine ehemals grüne Schwadron sich in eine fiebrig gelbe Löwenblickhorde verwandelt und mich auffordert, endlich die Regie ihres Daseins zu übernehmen, cut, schreit sie, und es ist, denke ich, etwas vom Klagenfurtbeben darin, von den wächsernen Leibern der Vorlesenden und den feuchten Augenwinkeln der Jury, die laufend Goldnymphchen zum Fliegenfischen verteilt, während unser aller Talent, Leander Fischer, den Quellen und Bächen entsteigt und Wetten daraufhin eingeht, ob er oder Katharina Schultens ein Mehr an Preisgeld einfahren … (Lektüre des Tages – Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt 2010)

Calor

Diese wunderbaren Tage, an denen man noch früher aufsteht als sonst, morgens gegen Fünf, wenn das erste Licht da ist und ein schwacher Wind die Erdlungen durchpustet und man glaubt, unendlich viel Zeit zu haben und eine Flasche Wasser der Nachtexpedition hinterherschickt, heute kein Rasieren, kein Duschen, das Wasser ist ja eh allüberall, und man lässt sich in die kleinen Rinnsale fallen und schwimmt mit ihnen bergabwärts, die Winde kehren noch ein wenig die Astgabeln frei, und man ist sowas von gut drauf und hat lauter auf den Punkt zugespitzte Gedanken, alle Fenster sperrangelweit auf, die Kühle noch greifbar – und dann öffnet sich der riesige Schlund aus Gelb, Orange und Blutrot und sprengt die Verhältnisse, und Du schließt Dich ein ins Dunkel, stundenlang, während sich draußen der gewaltige Ofen inszeniert, fauchend und mit einer gelassenen Kraft, die Du sonst nur aus Rom kennst, und Du bist wieder Teil der asketischen Zeiten der Jahrhunderte nach Christi Geburt, als die Asketen in Höhlen lebten und ausharrten und Michel Foucault sie besuchte, um ihnen die Beichte abzunehmen … (Lektüre des Tages – Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Vierter Band: Die Geständnisse des Fleisches. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp 2019)

Ingeborg Bachmann-Wettbewerb

Heute bereiten wir uns auf den 43. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt vor. Vierzehn Autorinnen und Autoren werden dort ab morgen ihre noch nicht veröffentlichten Texte (in Lesungen von jeweils einer halben Stunde Länge) einer Jury präsentieren. Diese wird sofort nach der Lesung über die Texte urteilen und am Sonntagmorgen einige dieser Autorinnen und Autoren mit Preisen auszeichnen. Übertragen werden die Lesungen live von 3sat (morgen und an den Tagen darauf ab 10 Uhr).

Natürlich sind wir besonders darauf gespannt, wie unsere „Hildesheimer Schreibschule“ bei diesem wichtigen Wettbewerb abschneidet. Vertreten ist sie durch Katharina Schultens und Leander Fischer, die beide in Hildesheim studiert haben.

Unser erster Blick gilt den Präsentationsvideos, die beide (zusammen mit 3sat) als „Porträts“ hergestellt haben. Man findet sie auf der Autorinnen-/Autoren-Seite, wenn man die jeweilige Autorin/den jeweiligen Autor anklickt:

https://bachmannpreis.orf.at/tags/autoren2019/

Was fällt uns auf?

1) Leander Fischer wählt eine klassische Präsentationsform: Der Autor geht spazieren, setzt sich, geht weiter, besucht eine Buchhandlung – und spricht (poetologisch) über sein Schreiben. Das „Porträt“ wird dadurch zu einem Selbstkommentar, der typische Momente des Autorendaseins umkreist: Wie diszipliniere ich mich für das Schreiben? Wie gehe ich mit Vorbildern um? Woher beziehe ich meine Themen und Stoffe?

2) Katharina Schultens porträtiert sich ganz anders: Visuell in Form eines imaginären Gangs durch einen Raum (Entwurf und Zurücknahme). Die Sprache ist nicht die des Kommentars, sondern die eines Gedichts (Katharina Schultens ist Lyrikerin), in dem typische Fragen einer Poetik anklingen und mit anderen Motiven (der Körper/die Lust/die Empfindungen) kontrastiert werden.

Heute Abend wird die Reihenfolge der Lesungen ausgelost. Morgen um 10 Uhr werden wir dann in einem vorgekühlten Raum mit vorgekühlten Getränken vor dem Fernseher sitzen und uns der Sommerhitze entziehen (während einer Lesung ist auch der jeweilige Text abrufbar, aber immer erst dann: https://bachmannpreis.orf.at/tags/texte2019/ ) …

 

Haben Sie Glenn Gould …

… wirklich in Salzburg an der Salzach getroffen? fragte mich der Moderator Martin Hagen von SWR 2 in einem Gespräch über mein neues Buch Wie ich Klavierspielen lernte (Insel-Verlag), das heute in der Sendung Treffpunkt Klassik gesendet wurde:

https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/treffpunkt-klassik/musikgespraech-das-neue-buch-von-hanns-josef-ortheil-wie-ich-klavierspielen-lernte/-/id=660614/did=24311080/nid=660614/p9yo3w/index.html

34 Gradi und mehr

Bei 34 Gradi und mehr kündigen wir heute und an den nächsten Tagen die Arbeit, suchen entlegene Waldseen auf und ernähren uns nur noch von gekühlten Getränken und gutem Eis der sommerlichen Geschmacksrichtungen (von links nach rechts: Rhabarber, Cassis und Spargel!) …