Hildesheimer Wege 2

„Salve, mein Sohn“, hatte mich Rainald van Dassel in Hildesheim begrüßt, „wohin führen Dich Deine Wege?“ Ich hatte geantwortet und gesagt, dass ich zunächst den altägyptischen Schreiber Heti im Roemer- und Pelizaeus-Museum aufsuchen werde. Das hatte ich dann auch getan.

Am nächsten Tag aber ging ich in den Hildesheimer Dom. Dort befand sich an einem Pfeiler die zweite „Ikone“ des Hildesheimer Schreibens, die ich in meinem Buch „Nach allen Regel der Kunst, Schreiben lernen und lehren“ auf den Seiten 165ff. u.a. so beschrieben habe:

„Es ist eine gotische Madonnenfigur aus Holz, blau gewandet, mit großer, goldener Krone, die dem nackten Jesusknaben auf dem linken Arm einen Sitzplatz bietet.

Einzigartig an dieser Skultur ist das Tintenfass in der rechten Hand der Madonna. Der Jesusknabe hält eine Schreibfeder in Händen, die anscheinend dazu bestimmt ist, die Buchrolle auf seinen Knien zu beschriften. Gleich wird er die Feder in das Tintenfass tauchen, das ihm seine Mutter hinhält. So erscheint die Tintenfassmadonna wie eine zeichenhafte, vorwegnehmende Vorausdeutung auf eine Einweisung in Schreiben und Schrift.“

Mit den Jahrhunderten wurde oft vergessen oder vernachlässigt, dass die Gestalt der Gottesmutter Maria oft als Leserin (in der Bibel), sehr selten aber auch als Schreiberin dargestellt wurde. Hier ist sie nicht nur das, sondern auch eine Lehrerin, die Lehrerin der Kunst, Buchstaben zu malen und auf einem Papier zu ordnen.

So gesehen, ist sie das christliche Pendant zu Heti, dem männlichen altägyptischen Schreiber, der übrigens von seinem Vater (als Lehrer) in die Kunst des Schreibens eingeführt wurde.

In der kommenden Woche

In der kommenden Woche gibt es zwei Veranstaltungen und Lesungen, auf die ich gern aufmerksam machen möchte, weil ich weiß, dass viele Leserinnen und Leser erst durch diesen Blog davon erfahren.

Am Donnerstag, 23. Januar 2025, stelle ich um 19 Uhr im Kulturwerk von Wissen/Sieg mein neues Buch „Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren“ vor.

https://kulturwerkwissen.chayns.site/

Und am Freitag, 24. Januar 2025, lese ich um 20.00 Uhr in der Kölner VENTANA-Kirche aus mehreren, in Italien spielenden Büchern. In den gelesenen Passagen geht es darum, wie man im verführerischen Süden ankommt und die starken Erlebnisse der Ankunft in den Versuch eines gelingenden Lebens umsetzt. Darauf antworten die Cellistinnen Birgit Heinemann und Uta Schlichtig (Violoncello à deux) mit von ihnen ausgewählter Musik. Ein Abend im Zeichen von „La dolce vita“.

https://ventana.koeln/#inconcert

Zu beiden Veranstaltungen lade ich herzlich ein und freue mich über guten Besuch.

          Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich ein vitales Wochenende, verbunden mit Musik von Niccolò Paganini.

Hildesheimer Wege

„Salve, mein Sohn“, begrüßte mich Rainald van Dassel in Hildesheim, „wohin führen Dich Deine Wege?“ Ich dachte kurz nach und antwortete: „Ins Roemer- und Pelizaeus-Museum, und dort in die altägyptische Sammlung – zu einem guten Bekannten.“

Es ist der Schreiber Heti, den ich in meinem Buch Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und Schreiben lehren als eine „Ikone des Schreibens“ vorgestellt habe (S. 86ff.)

Die Figur des sitzenden Schreibers stammt aus der Zeit um 2300 v.Chr. und zeigt ein Mitglied der Oberschicht in einer charakteristischen Sitzpose mit untergeschlagenen Beinen. Heti hält eine Papyrusrolle in den Händen und ist dabei, sie zu beschriften. Der Schreibpinsel in der rechten Hand ist verloren gegangen, mit diesem Binsenstengel würde er das nach dem Eintauchen des Pinselns in schwarze oder rote Tinte tun.

Die Statue hat mich immer stark fasziniert, in Hildesheim habe ich die jeweiligen Erstsemester der Schreibstudiengänge zu ihr geführt und darum gebeten, anhand dieser Figur über das Schreiben als Tätigkeit und Geste nachzudenken.

Was man sofort erkennt: Der starke Grad von Konzentration. Die Strenge des Ausdrucks, die vom Körper stillhalten und Ruhe verlangt. Die meditative Versenkung in den Schreibakt – es gibt nichts darüber hinaus, das Schreiben beansprucht alle Kräfte, die inneren wie die äußeren.

So gesehen, ist Heti eine Ikone, die durch die Jahrtausende zentrale Momente des Schreibens als Ausdruck bündelt und festhält.

Hildesheimer Begrüßung

Als ich in Hildesheim ankomme, begrüßt mich in den winterlich kalten Anlagen nahe am Kalenberger Graben eine Gestalt, die sowohl mit Hildesheim als auch mit Köln und Italien eng verbunden ist.

Es ist Graf Rainald van Dassel (1115-1167), der Propst am Hildesheimer Dom, Erzbischof von Köln und Kanzler des Reiches unter Friedrich I. (Barbarossa) war.

Als Kölner weiß ich dankbar zu schätzen, dass er 1164 die Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln in den Dom bringen ließ, wo sie zu den größten Pilgermagneten in der europäischen Geschichte wurden und die Anziehungskraft des Doms bis heute steigerten.

Und als Hildesheimer Spaziergänger weiß ich zu schätzen, dass er dort die erste steinerne Brücke über den Fluss Innerste errichten ließ.

Mit Italien war er darüber hinaus eng verbunden und wirkte dort nicht nur als Diplomat, sondern auch als Heerführer. In Rom ist er gestorben, beerdigt aber ist er in Köln.

„Salve, mein Sohn“, flüstert Rainald van Dassel, „wohin führen Dich Deine Wege?“ Ich denke kurz nach und antworte…

Rückkehr nach Hildesheim

(Eingang zum Alten Pächterhaus, Domäne Marienburg)

Morgen kehre ich nach Hildesheim zurück, wo ich seit 1990 Kreatives und Literarisches Schreiben unterrichte. Bis 2019 bin ich fast jede Woche dorthin gefahren, weite Strecken, gespannt auf alles, was mich dort an Lehre und Forschung über Themen des Schreibens erwartete.

Ich freue mich auf diesen Aufenthalt, zumal ich seit fünf Jahren nicht mehr dort war. Zunächst hielt mich die Pandemie davon ab, danach ein katastrophaler Wasserrohrbruch im alten Pächterhaus auf der mittelalterlichen Domäne Marienburg, wo sich die Arbeitszimmer der Lehrenden und die Seminarräume befanden. Bis heute sind diese Räume noch nicht wiederhergerichtet, erst im Laufe dieses Jahres werden sie wieder bezugsfertig sein.

(Die mittelalterliche Domäne Marienburg, der Kulturcampus der Universität)

Während der Jahre meiner Absenz habe ich an dem Buch über meine mehr als dreißigjährige Hildesheimer Lehre (Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren) geschrieben. Von 2020 bis 2024 habe ich daran gearbeitet, im November 2024 ist es erschienen.

Am 15. Januar 2025, 19 Uhr, werde ich es im Gespräch mit meinem Hildesheimer Kollegen Prof. Dr. Christian Schärf im Audimax der Universität (in dem ich früher viele Vorlesungen gehalten habe) vorstellen. Alle am Schreiben Interessierten sind herzlich dazu eingeladen. Hier die Meldung der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung:

Nach allen Regeln der Kunst – eine Besprechung in SWR Kultur

SWR Kultur sendet heute nach 14.30 Uhr in der Sendung Kultur am Samstagnachmittag ein aufschlussreiches Gespräch mit der Redakteurin Leonie Berger über mein neues Buch „Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren“, das mit vielen gängigen Vorurteilen über die Erlern- und Lehrbarkeit des Schreibens aufräumt.

https://www.swr.de/swrkultur/literatur/schreiben-lernen-und-lehren-hanns-josef-ortheil-und-sein-buch-nach-allen-regeln-der-kunst-100.html

Rachel Ruyschs Bilder

In meinem neusten Buch Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren (Insel-Verlag) kreist ein Kapitel um die Anregungen, die Schreibwillige durch die Betrachtung von Bildern erhalten. Besonders geeignet sind solche, die geschlossene Räume und Stillleben zeigen, weil der genaue Blick sich dem Studium der Details widmen und sich in die Facetten der Dinge und Menschen vertiefen kann. Solche Konzentration liefert Anregungen dafür, in eigenen Texten ähnlich dichte Szenen in den Formaten kurzer Prosa zu entwerfen.

In der Alten Pinakothek in München ist nun eine wunderbare Ausstellung der Malerin Rachel Ruysch (1664-1750) zu sehen, die geradezu ideal für das lange Schauen und das sich daran anschließende Imaginieren ist. Daher empfehle ich den Besuch dieser Ausstellung sehr.

https://www.pinakothek.de/de/nature-into-art

Schreiben am Meer

Ich lese gerade ein Buch der Kulturjournalistin Kristine von Soden. Sie wurde in Hamburg geboren und lebt heute in Schwerin. Schon diese beiden Wohnorte mögen andeuten, dass sie gerne und am liebsten am Meer lebt.

Aus dieser prägenden Passion ist ein Buchprojekt entstanden. Es heißt Schreiben am Meer. Wo der Himmel größer ist und ist im Transit Verlag erschienen.

In vierzehn Essays und Erzählungen wird das Leben von Schriftstellerinnen und Schriftstellern porträtiert, die diese starke Passion geteilt und sich ans Meer zurückgezogen haben, um dort den idealen Ort zum Schreiben zu finden. Dabei geht es nicht um kurzfristige Ferienentscheidungen, sondern fast immer um lebensverändernde.

Das weite Meer und der offene Himmel sind die Räume, ohne die man nicht mehr leben mag. Sie sind tägliche Inspirationen und Stichwortgeber für präzise, oft kurze Texte, in denen die Dinge und Menschen der Umgebung in ihrer besonderen Schönheit und Verbindung zur Natur erscheinen.

So begleitet die Autorin Thomas Mann auf der Kurischen Nehrung nördlich des früheren Königsberg an der Ostsee, Else Lasker-Schüler im alten Kolberg an der Pommerschen Riviera, Bertolt Brecht in Dänemark, Meersüchtige auf Sylt, Siegfried Lenz und seine Frau in Hamburg, Katherine Mansfield an der Côte d’Azur oder Rose Ausländer in Venedig.

Es erstaunt nicht, dass dieser enthusiastische Schwarm, der in diesem Buch fast wie eine verschworene Gemeinschaft erscheint, am Meer nicht nur ins Träumen, sondern stärker noch ins Philosophieren und vor allem ins genaue Beobachten und Schauen gerät. Die kleinen und unauffälligen Dinge ziehen die Blicke an, und viele nehmen nicht nur passiv und schauend, sondern direkter und handelnd mit Sand, Strand und Strandgut Kontakt auf, forschen, bauen, legen Aussichtsplätze an und entwerfen Erlebnisräume, die immer ums Schreiben kreisen.

Es macht Freude, sich in diesen Zonen mittreibend zu bewegen, und man erinnert sich an die schönen Zeiten, in denen man in Frühjahr, Sommer und Herbst selbst viele Tage am Meer verbrachte. Eine Lektüre nicht nur für die Auffrischung dieser Erinnerungen, sondern auch für neue Pläne: Bald wieder ans Meer reisen, um dort zu leben und zu schreiben!

Mit Gianni Rodari unterwegs

Bianchi heißt ein Buchhalter aus Varese, den der italienische Schriftsteller Gianni Rodari (1920-1980) durch die Regionen Italiens reisen lässt. Unermüdlich ist er sieben Tage in der Woche unterwegs, so dass ihn seine kleine Tochter meist nur am Sonntag zu sehen bekommt. An den anderen Tagen telefoniert er abends mit ihr, wenn er seine Arbeit getan hat. Jeden Abend erzählt er ihr eine Gutenachtgeschichte, ohne die sie nicht einschlafen kann.

Der Trick, das Besondere: Die Geschichten haben fast alle dasselbe Format und dieselbe Länge, denn die Telefonate waren zu früheren Zeiten, als diese Geschichten spielen, noch recht teuer. Gerade das aber ist kein Nachteil, sondern kommt den Geschichten zugute. Sie schweifen nicht aus und verheddern sich nicht, sondern erzählen an einem fortlaufenden inneren Strang entlang kuriose und für junge Menschen erfundene Geschichten, die mühelos weitererzählt werden könnten. Alle haben etwas Fantastisches und handeln von Menschen, die meist eine Marotte oder Besonderheit kultivieren.

Alice Purzelchen fällt zum Beispiel überall hinein und ist dann nicht mehr leicht auffindbar. Und drei kleine Brüder aus Barletta laufen über das Land und entdecken eine Schokoladenstraße. In Gavirate lebt eine Frau, die sämtliche Nieser anderer Leute zählt. Und der kleine Martin ist am Ausgang eines Dorfes ausgerechnet auf dem Weg ins Nirgendwo.

Illustriert wurden Rodaris Gutenachtgeschichten am Telefon von Anna Ring, Ulrike Schimming hat sie ins Deutsche übersetzt (Susanne Rieder Verlag, München 2024).

Alle, die ein wenig Italienisch verstehen, könnten sie aber auch selbst übersetzen. Dann sollte man die kleine, rote Reclam-Ausgabe der Favole al telefono (herausgegeben von Michaela Banzhaf) in der Reihe der Fremdsprachentexte Italienisch kaufen.

Auf jeder ihrer Seiten findet man unter dem italienischen Text einige hilfreiche Worterklärungen, so dass man sich nie im Fremdtext verliert. Im Gegenteil, man übersetzt das Italienische im Laufe der Lektüre von Tag zu Tag immer schneller und leichter.

Im Schlussteil gibt es wertvolle Literaturhinweise zu Gianni Rodaris Werk und ein Nachwort von Michaela Banzhaf, das als kleine Einführung in seine Texte, die in Italien längst Klassiker sind, zu verstehen ist.

„Era una persona spiritosa e molto intelligente“, hat Rodaris Frau über den Meister gesagt, und ein guter Freund fügte hinzu: „Era un uomo colto con una fantasia incredibile.“

Meine Empfehlung: Lesen, Übersetzen, Mitfantasieren!!