Hildesheimer Begrüßung

Als ich in Hildesheim ankomme, begrüßt mich in den winterlich kalten Anlagen nahe am Kalenberger Graben eine Gestalt, die sowohl mit Hildesheim als auch mit Köln und Italien eng verbunden ist.

Es ist Graf Rainald van Dassel (1115-1167), der Propst am Hildesheimer Dom, Erzbischof von Köln und Kanzler des Reiches unter Friedrich I. (Barbarossa) war.

Als Kölner weiß ich dankbar zu schätzen, dass er 1164 die Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln in den Dom bringen ließ, wo sie zu den größten Pilgermagneten in der europäischen Geschichte wurden und die Anziehungskraft des Doms bis heute steigerten.

Und als Hildesheimer Spaziergänger weiß ich zu schätzen, dass er dort die erste steinerne Brücke über den Fluss Innerste errichten ließ.

Mit Italien war er darüber hinaus eng verbunden und wirkte dort nicht nur als Diplomat, sondern auch als Heerführer. In Rom ist er gestorben, beerdigt aber ist er in Köln.

„Salve, mein Sohn“, flüstert Rainald van Dassel, „wohin führen Dich Deine Wege?“ Ich denke kurz nach und antworte…

Rückkehr nach Hildesheim

(Eingang zum Alten Pächterhaus, Domäne Marienburg)

Morgen kehre ich nach Hildesheim zurück, wo ich seit 1990 Kreatives und Literarisches Schreiben unterrichte. Bis 2019 bin ich fast jede Woche dorthin gefahren, weite Strecken, gespannt auf alles, was mich dort an Lehre und Forschung über Themen des Schreibens erwartete.

Ich freue mich auf diesen Aufenthalt, zumal ich seit fünf Jahren nicht mehr dort war. Zunächst hielt mich die Pandemie davon ab, danach ein katastrophaler Wasserrohrbruch im alten Pächterhaus auf der mittelalterlichen Domäne Marienburg, wo sich die Arbeitszimmer der Lehrenden und die Seminarräume befanden. Bis heute sind diese Räume noch nicht wiederhergerichtet, erst im Laufe dieses Jahres werden sie wieder bezugsfertig sein.

(Die mittelalterliche Domäne Marienburg, der Kulturcampus der Universität)

Während der Jahre meiner Absenz habe ich an dem Buch über meine mehr als dreißigjährige Hildesheimer Lehre (Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren) geschrieben. Von 2020 bis 2024 habe ich daran gearbeitet, im November 2024 ist es erschienen.

Am 15. Januar 2025, 19 Uhr, werde ich es im Gespräch mit meinem Hildesheimer Kollegen Prof. Dr. Christian Schärf im Audimax der Universität (in dem ich früher viele Vorlesungen gehalten habe) vorstellen. Alle am Schreiben Interessierten sind herzlich dazu eingeladen. Hier die Meldung der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung:

Nach allen Regeln der Kunst – eine Besprechung in SWR Kultur

SWR Kultur sendet heute nach 14.30 Uhr in der Sendung Kultur am Samstagnachmittag ein aufschlussreiches Gespräch mit der Redakteurin Leonie Berger über mein neues Buch „Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren“, das mit vielen gängigen Vorurteilen über die Erlern- und Lehrbarkeit des Schreibens aufräumt.

https://www.swr.de/swrkultur/literatur/schreiben-lernen-und-lehren-hanns-josef-ortheil-und-sein-buch-nach-allen-regeln-der-kunst-100.html

Rachel Ruyschs Bilder

In meinem neusten Buch Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren (Insel-Verlag) kreist ein Kapitel um die Anregungen, die Schreibwillige durch die Betrachtung von Bildern erhalten. Besonders geeignet sind solche, die geschlossene Räume und Stillleben zeigen, weil der genaue Blick sich dem Studium der Details widmen und sich in die Facetten der Dinge und Menschen vertiefen kann. Solche Konzentration liefert Anregungen dafür, in eigenen Texten ähnlich dichte Szenen in den Formaten kurzer Prosa zu entwerfen.

In der Alten Pinakothek in München ist nun eine wunderbare Ausstellung der Malerin Rachel Ruysch (1664-1750) zu sehen, die geradezu ideal für das lange Schauen und das sich daran anschließende Imaginieren ist. Daher empfehle ich den Besuch dieser Ausstellung sehr.

https://www.pinakothek.de/de/nature-into-art

Schreiben am Meer

Ich lese gerade ein Buch der Kulturjournalistin Kristine von Soden. Sie wurde in Hamburg geboren und lebt heute in Schwerin. Schon diese beiden Wohnorte mögen andeuten, dass sie gerne und am liebsten am Meer lebt.

Aus dieser prägenden Passion ist ein Buchprojekt entstanden. Es heißt Schreiben am Meer. Wo der Himmel größer ist und ist im Transit Verlag erschienen.

In vierzehn Essays und Erzählungen wird das Leben von Schriftstellerinnen und Schriftstellern porträtiert, die diese starke Passion geteilt und sich ans Meer zurückgezogen haben, um dort den idealen Ort zum Schreiben zu finden. Dabei geht es nicht um kurzfristige Ferienentscheidungen, sondern fast immer um lebensverändernde.

Das weite Meer und der offene Himmel sind die Räume, ohne die man nicht mehr leben mag. Sie sind tägliche Inspirationen und Stichwortgeber für präzise, oft kurze Texte, in denen die Dinge und Menschen der Umgebung in ihrer besonderen Schönheit und Verbindung zur Natur erscheinen.

So begleitet die Autorin Thomas Mann auf der Kurischen Nehrung nördlich des früheren Königsberg an der Ostsee, Else Lasker-Schüler im alten Kolberg an der Pommerschen Riviera, Bertolt Brecht in Dänemark, Meersüchtige auf Sylt, Siegfried Lenz und seine Frau in Hamburg, Katherine Mansfield an der Côte d’Azur oder Rose Ausländer in Venedig.

Es erstaunt nicht, dass dieser enthusiastische Schwarm, der in diesem Buch fast wie eine verschworene Gemeinschaft erscheint, am Meer nicht nur ins Träumen, sondern stärker noch ins Philosophieren und vor allem ins genaue Beobachten und Schauen gerät. Die kleinen und unauffälligen Dinge ziehen die Blicke an, und viele nehmen nicht nur passiv und schauend, sondern direkter und handelnd mit Sand, Strand und Strandgut Kontakt auf, forschen, bauen, legen Aussichtsplätze an und entwerfen Erlebnisräume, die immer ums Schreiben kreisen.

Es macht Freude, sich in diesen Zonen mittreibend zu bewegen, und man erinnert sich an die schönen Zeiten, in denen man in Frühjahr, Sommer und Herbst selbst viele Tage am Meer verbrachte. Eine Lektüre nicht nur für die Auffrischung dieser Erinnerungen, sondern auch für neue Pläne: Bald wieder ans Meer reisen, um dort zu leben und zu schreiben!

Mit Gianni Rodari unterwegs

Bianchi heißt ein Buchhalter aus Varese, den der italienische Schriftsteller Gianni Rodari (1920-1980) durch die Regionen Italiens reisen lässt. Unermüdlich ist er sieben Tage in der Woche unterwegs, so dass ihn seine kleine Tochter meist nur am Sonntag zu sehen bekommt. An den anderen Tagen telefoniert er abends mit ihr, wenn er seine Arbeit getan hat. Jeden Abend erzählt er ihr eine Gutenachtgeschichte, ohne die sie nicht einschlafen kann.

Der Trick, das Besondere: Die Geschichten haben fast alle dasselbe Format und dieselbe Länge, denn die Telefonate waren zu früheren Zeiten, als diese Geschichten spielen, noch recht teuer. Gerade das aber ist kein Nachteil, sondern kommt den Geschichten zugute. Sie schweifen nicht aus und verheddern sich nicht, sondern erzählen an einem fortlaufenden inneren Strang entlang kuriose und für junge Menschen erfundene Geschichten, die mühelos weitererzählt werden könnten. Alle haben etwas Fantastisches und handeln von Menschen, die meist eine Marotte oder Besonderheit kultivieren.

Alice Purzelchen fällt zum Beispiel überall hinein und ist dann nicht mehr leicht auffindbar. Und drei kleine Brüder aus Barletta laufen über das Land und entdecken eine Schokoladenstraße. In Gavirate lebt eine Frau, die sämtliche Nieser anderer Leute zählt. Und der kleine Martin ist am Ausgang eines Dorfes ausgerechnet auf dem Weg ins Nirgendwo.

Illustriert wurden Rodaris Gutenachtgeschichten am Telefon von Anna Ring, Ulrike Schimming hat sie ins Deutsche übersetzt (Susanne Rieder Verlag, München 2024).

Alle, die ein wenig Italienisch verstehen, könnten sie aber auch selbst übersetzen. Dann sollte man die kleine, rote Reclam-Ausgabe der Favole al telefono (herausgegeben von Michaela Banzhaf) in der Reihe der Fremdsprachentexte Italienisch kaufen.

Auf jeder ihrer Seiten findet man unter dem italienischen Text einige hilfreiche Worterklärungen, so dass man sich nie im Fremdtext verliert. Im Gegenteil, man übersetzt das Italienische im Laufe der Lektüre von Tag zu Tag immer schneller und leichter.

Im Schlussteil gibt es wertvolle Literaturhinweise zu Gianni Rodaris Werk und ein Nachwort von Michaela Banzhaf, das als kleine Einführung in seine Texte, die in Italien längst Klassiker sind, zu verstehen ist.

„Era una persona spiritosa e molto intelligente“, hat Rodaris Frau über den Meister gesagt, und ein guter Freund fügte hinzu: „Era un uomo colto con una fantasia incredibile.“

Meine Empfehlung: Lesen, Übersetzen, Mitfantasieren!!

Ein Moment der Entspannung – Space Night mit Alexander Kluge

In Heft 1/2025 der von mir sehr geschätzten Kunst-Zeitschrift Monopol entdeckte ich ein Gespräch, das Silke Hohmann mit dem Schriftsteller Alexander Kluge über ein „Bauhaus der Gefühle“ geführt hat.

Darin kommen die beiden auch auf das Weltall zu sprechen. Was Kluge dazu sagt, hat mich nicht losgelassen und ich bin ihm nachgegangen: „Sie können mich verrückt machen, wenn Sie mir vom Kosmos erzählen. Dass er so alt ist und auch so jung – und uns mit Gewissheit überlebt. Es gibt mir Trost. Wenn ich merke, dass unsere Zeit verrücktspielt, dann spielt der Kosmos noch längst nicht verrückt. Ich kann dann schon wieder besser hingucken. Und vielleicht finden wir doch einen Ausweg, wenn wir einen Moment entspannen.“

Meine Wege führten mich von diesen Überlegungen zu einem Konzert-Abend in München, in dem das All so gegenwärtig ist wie unsere Gefühle – aufgehoben in Formaten der Musik, die auf Bilder des Alls antworten: Space Night im Sinne von Alexander Kluge!

https://www.ardmediathek.de/video/br-klassik-im-tv/space-night-in-concert-vol-4/br/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdC9GMjAyNFdPMDA1MDI2QTA

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des Blogs ein zumindest halbwegs entspanntes Wochenende!

Twitterpoesie

Gerade jetzt, zu Beginn eines Neuen Jahres, könnte ich die Leserinnen und Leser dieses Blogs an meinen seit ewigen Zeiten verlaufenden Experimenten, die vergehende Zeit festzuhalten, teilhaben lassen. Wie mache ich das? In welchen Formaten? Mit welchem Hintersinn? Ja, das werde ich bald tun.

Zuvor möchte ich jedoch mit einem Lektüreeindruck beginnen, der zur Entspanntheit des Schreibens beitragen könnte. Ich lese nämlich gerade ein Buch von Clemens J. Setz. Es heißt Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie und ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Ich muss vorausschicken, dass ich nie getwittert habe und dass mich die jahrelang anhaltende, dann aber rasch abkühlende Begeisterung für diese Kurzbotschaften von 140 und später 280 Zeichen nie erreicht hat.

Im Fall von Clemens J. Setz war das jedoch anders. Er hat auf Twitter Getextetes mit großer Neugierde wahrgenommen, manche Texte gespeichert und ihre poetischen Valenzen nachempfunden. Sein Buch ist über lange Strecken eine Anthologie seiner eigenen Twittergedichte und im zweiten Teil ein Überblick über Getwittertes anderer Autorinnen und Autoren (und daher eine „Geschichte der Twitterpoesie“ im Kleinen).

Lese ich das nun in Folge und lasse mich in diese im coolen Sinn „lyrischen Momente“ hineinziehen, entsteht eine anhaltend entspannte Laune und eine Freude daran, sprachliche Details auszukosten. So etwa die des Winters, den Clemens J. Setz so einfängt: „Manchmal hebt sich ein Gedanke/wie so eine Parkplatzschranke/und so können Maus und Lurch/wieder ungehindert durch“.

Je länger ich las, umso mehr spürte ich die ansteckende Wirkung dieser Minimalpoesie. Es ist ein Vergnügen, sich auf diesen Wellenlängen zu bewegen, vor allem jetzt, in den dunkleren Jahreszeiten. Das Buch stellt viele Genres und einfache Techniken des Poesiemachens vor, dadurch erinnert es an die Experimente der Dadaisten und Surrealisten, die oft auch im kleinen Kreis dichteten und den Zufällen von Klang und zweiter Bedeutung großen Raum ließen. Eine Lektüre also fürs Mitmachen und Mittexten!

 

Ein Gutes, Neues Jahr!

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs,

während der Weihnachtspause meiner Blogeinträge habe ich viele freundliche, anerkennende und teilweise sogar begeisterte Mails erhalten, die mich gebeten haben, mit der Arbeit an diesem literarischen Projekt unbedingt fortzufahren. Dafür danke ich ganz herzlich. Besonders freue ich mich darüber, dass der seltene Charakter dieses Blogs so häufig erkannt und benannt wurde.

Der Blog ist ein autobiografisches Projekt der Werk-, Arbeits- und Performance-Geschichten eines einzelnen Autors, der seine Leserschaft einlädt, sich an diesen Geschichten kommentierend, fragend und erweiternd zu beteiligen. Er tut das in kalendarischem Modus, indem er auf Besonderheiten der Tage und Jahreszeiten eingeht und daher auch als Chronik gelesen werden kann. 

Außergewöhnlich ist auch, dass die implantierten Geschichten mehrere Künste (Foto/Video/Musik/Kulturjournalismus) einbeziehen und beziehungsreich miteinander verknüpfen. 

Eng verbunden ist er mit meinen Schreibakademien in der SALA Ortheil in Wissen/Sieg sowie den Forschungen des Instituts für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim, für das ich als Seniorprofessor tätig bin.

Ich wünsche Ihnen ein gutes, Neues Jahr 2025, diesmal mit dem Blick auf das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker, seinen Dirigenten Kirill Petrenko, das zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms und Daniil Trifonow am Klavier!

https://www.arte.tv/de/videos/121411-001-A/silvesterkonzert-der-berliner-philharmoniker/