Rückblick 1

Jetzt, etwa in der Mitte des Jahres, möchte ich den Blog einmal selbst zum Thema machen. Warum ist er so gut? (Bitte nicht wörtlich nehmen …) Könnte er noch besser sein? (Bitte wörtlich nehmen …) Ich werde an den nächsten Tagen (zusammen mit Ihnen, den Leserinnen und Lesern) darüber nachdenken. Zuvor einige Zahlen, zur Information.

Ich habe im Oktober 2016 mit diesem Blog begonnen und zunächst nur in größeren Abständen einen Text geschrieben. Vorsichtig und etwas zögernd habe ich losgelegt, und erst ab dem März 2017 relativ regelmäßig etwas veröffentlicht. Anfang Mai 2017 hatte meine Schreiblust den Blog dann aber vollständig erobert – und von da an wurden es immer mehr Einträge. Bis ich (ab dem Advent 2017) dazu überging, jeden Tag einen Text zu schreiben. Hinzu kamen die Fotos, die ich alle selbst gemacht habe, ohne viel Aufwand, meist nur mit einem Smartphone, nebenbei, im Vorübergehen. (Seit Oktober 2016 sind es nun immerhin 362 Einträge …)

Ich betrachte den Blog nicht als „Arbeit“, dazu macht er zuviel Freude. Insgeheim folgt er einem kleinen „Programm“: Aktuelles vom Tage (was mir eher zufällig auffällt) in Form einer kurzen „Meditation“ zu beschreiben/zu erzählen – und manchmal auch zu feiern. Im Rahmen dieses Programms gibt es mehrere durchlaufende „Zeitlinien“ (darüber später einmal mehr). Verstecktes Ziel der Eintragungen ist es, ein deutlicheres Bewusstsein von Zeit (Jahreszeiten/Religiöse Feste/Aktuelle Ereignisse etc.) zu erzeugen. Für die Dauer der Lektüre erleben die Leserinnen und Leser (im besten Fall) mit mir zusammen „vergehende und angehaltene Zeit“: in Form von „Zeitinseln“, die dem Innehalten, Vergegenwärtigen, Räsonieren, Denken und Träumen vorbehalten sind.

Was mich überraschte: Dieser Blog hat mit der Zeit erstaunlich viele Leserinnen und Leser gefunden. Die meisten leben in Deutschland, es gibt aber auch solche aus Österreich, der Schweiz, den Vereinigten Staaten (besonders zahlreich), Australien, Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Polen, Tschechien … – ja, der Blog wird sogar in Asien und Mittelamerika gelesen. Beinahe jeden Tag erhalte ich Antworten/ Reaktionen/ Kommentare (die ich leider nicht alle beantworten kann – sonst würde aus dem Blog wirklich „Arbeit“).

Meine Fragen für heute: Welche Einträge (zu welchen Themen) lesen Sie besonders gern? Welche halten Sie für entbehrlich? Welche fehlen Ihnen? Und (eher spielerisch gemeint): Warum macht ausgerechnet dieser Blog viele von Ihnen manchmal „glücklich“ (kein Witz – denn viele Leserinnen und Leser schreiben genau das …)?

Antworten/Reaktionen wie immer unter: ortheil.hannsjosef@gmail.com

21. Juni

Sommeranfang, o ja! – der längste Tag des Jahres! – stimmt auch. Seit Anfang Mai haben wir darauf hingelebt, bereits damals begann schon das sommerliche Dasein mit seinen immergleichen, hellen Tagen: Dem frühen Blinken des Lichts, dem Weiterlodern, dem Glühen am Mittag und dem langsamen Abwandern der Strahlung bis in den stillen Abend hinein.

Solche Regelmäßigkeit lässt uns leichter leben als sonst. Wir „kümmern“ uns nicht, wir streifen nur etwas über, wir leben „luftig“, ohne schweres Essen, mit selbst gemachten fruchtigen Getränken. Ein Leben fast ohne „Kleidung“ oder aufwändige „Mahlzeiten“, ein einziges Driften im Licht, und später grad da, wo die Schatten besonders aufmerksam sind.

Zum heutigen, besonderen Anlass haben wir Dominic Miller eingeladen, niemand begleitet das, was wir gerade erleben, besser und konzentrierter: Silent Light heißt seine neue CD (sehr passend), und wir hören sie immer wieder von vorn, bis in die Nacht, auf der alten Terrasse, wo kleine Feuer noch am frühen Morgen vor sich hin glimmen.

Sommerbild 4

Die Früchte aus Nachbars Garten leuchten jetzt vermehrt und beachtlich. Sie wurden am frühen Morgen eigenhändig gepflückt. Die hohe Leiter steht noch am Kirschbaum, und in den Kronen der Bäume fehlen nun die roten Akzente. Auch die Himbeersträucher erscheinen matt, gelbgrün und monochrom, als wäre man ihnen mit der Ernte zunahe getreten.

Das Leuchten markiert den letzten Schwung dieser Früchte des Sommers vor dem Verzehr, der sie von ihrem hinfälligen Dasein erlöst und zugleich dessen späten Höhepunkt ausmacht.

Wir nehmen sie mit, um sie am Abend auftanzen zu lassen, die Kirschen im flachen Korb hingestreut – und die Himbeeren zum Schluss, in pyramidaler Form, wie auf dem bekannten Gemälde Chardins.

Sommerbild 3

Sie ist die Einzige, solitär, noch nie wurde sie von einer aus ihrer Art begleitet. Und sie begrüßt mich am Gartentor, angelehnt an die alte Trockenmauer. Wenn ich das Tor öffne, blicke ich in das Weiß ihres tief liegenden, zurückhaltenden Augenpaars – und sehe weiter: dass sie aus raren Kleidern besteht, Kleidern nach letzten Tänzen, sommerlich übermüdet. Nirgends sonst leben Blütenblätter, um- und ineinander verschlungen, so schön in den Rhythmen aus der Ferne kommender Klänge, verdächtig nahe dem Tango. Ich starre ihr Duo an, wie gern wäre ich in diesem Reigen der Dritte!

0:1 in Mexiko

Unsere Korrespondenten waren in Mexiko-City live vor Ort, als die deutsche Nationalmannschaft gegen Mexiko gestern ihr erstes Vorrundenspiel der WM 2018 bestritt und 0:1 verlor. Zusammen mit einer unüberschaubaren Menschenmenge von Mexikanern verfolgten sie das Spiel auf einer Großleinwand, die den zentralen Platz der Hauptstadt, den berühmten Zócalo (Kathrin Wildner: Zócalo. Die Mitte der Stadt Mexiko City. Ethnographie eines Platzes. Reimer 2003), unvorteilhaft zustellte.

Unsere Korrespondenten berichten, dass sie ihre Blicke, je länger das Spiel dauerte, immer mehr von dem Geschehen abwandten und stattdessen die alte Kathedrale der Stadt (mit ihren mächtigen Glockentürmen und der großen Kuppel) betrachteten. Sie war Ende des sechzehnten Jahrhunderts von den spanischen Eroberern genau an jener Stelle gebaut worden, wo sich davor der aztekische Tempelbezirk befand.

Unsere Korrespondenten berichten weiter, dass sie nach der Niederlage der deutschen Mannschaft an der großen Fiesta teilgenommen und bis in die Nacht (das Spiel fand in Mexiko um 10 Uhr am Vormittag statt) mit den Einheimischen gefeiert hätten. Der Jubel des Tages soll in der Millionenstadt ein kleineres Erdbeben ausgelöst haben.

Sommerbild 2

Wenn das letzte Sonnensträuben erlischt (abends, gegen 19 Uhr), bei einsetzender, noch kaum merklicher Kühle – öffnen sich die Blüten der Nachtkerzen. Nacheinander, in raschem Wechsel, springen sie auf, schälen sich aus ihren Tagesbehausungen und strecken die Fühler aus. Ein paar letzte Falter und Insekten touchieren sie, lassen dann aber endgültig (und wie auf Geheiß) von ihnen ab. Sind sie endlich allein, atmen sie die Düfte der Nacht und erstrahlen. Im stärker werdenden Dunkel leuchten sie und werden zu gelben Oasen, jede für sich, schöne Autonomie – und dennoch eins mit den anderen in den gemeinsamen Hymnen und Liedern (Claude Debussy: Suite bergamasque 3: Clair de Lune, gespielt von Menahem Pressler).

Peter-Wust-Preis

Heute habe ich in der Römerstadt Trier den Peter-Wust-Preis 2018 der Theologischen Fakultät Trier und der Peter-Wust-Gesellschaft verliehen bekommen. Ich wurde für mein „umfangreiches literarisches Wirken“ und mein „Engagement als Gründer einer Schreibschule an der Universität Hildesheim für Studierende aus unterschiedlichen Kulturkreisen“ ausgezeichnet. Die brillante Laudatio hielt Prof. Dr. Erich Garhammer von der Universität Würzburg.

Der mit 5000 Euro dotierte Preis ist nach dem Philosophen Peter Wust (1884-1940) benannt, der zuletzt als Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster lehrte. Das Hauptwerk von Wust ist Ungewissheit und Wagnis (1937), Bruchstücke einer Autobiographie findet man in Gestalten und Gedanken (1940).

 

 

Sommerbild 1

Ein früher Sommerabend, gegen 18 Uhr. Die Schatten legen sich auf die Gartenflächen. Am Tag wurden Kirschen geerntet. Etwas Rauch zieht vom Tal herauf.

Ein kleiner Teller steht jetzt bereit: Hauchdünner, sehr zarter Polpo, mit (u.a.) Fenchel, Sojasprossen, Tomaten, Olivenöl. Dazu das Getränk: ein Glas Weißwein aus Griechenland. Dazu die Lektüre: das wunderbare Buch über den Kraken (Untertitel: Versuch über die Logik des Imaginativen) von Roger Caillois. Dazu die Musik: Waves von Ludovico Einaudi, eingespielt von Jeroen van Veen.

Die Fußball-WM 2018 beginnt

Heute, am 14. Juni 2018, beginnt in Moskau die Fußball-WM. Leider wird sie uns einige Zeit kosten, viel Zeit, die wir in den schlimmsten Fällen besser anders verbracht hätten (als vor den diversen Public Viewing-Leinwänden unseres Landes).

Die schlimmsten Fälle – das sind langweilige Spiele „ganz ohne Höhepunkte“ oder aber nichtssagende, trostlose Interviews (von so Interviewkanonen wie Peter Großmann (ARD) oder Thomas Skulski (ZDF)) oder aber endlos sich dehnende Minuten in den berüchtigten WM-Studios, in denen jede kleine Meldung zum neunzigsten Mal (wir nennen nur: Katrin Müller … ja, genau die!) breitgeredet wird.

Ganz schlimm aber könnte es werden, wenn diese WM nicht zu markanten (und unser ganzes Leben lang in Erinnerung bleibenden) „Geschichten rund um den Fußball“ führt. Der aufgeschlitzte Oberschenkel von Ewald Lienen (am 14. August 1981 im Bundesligaspiel zwischen Werder Bremen und Arminia Bielefeld), die Selbsteinwechslung von Günter Netzer (am 23. Juni 1973 im Pokalendspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln) oder die schönste Bundesligaschwalbe von Andreas Möller (am 13. April 1995 im Bundesligaspiel zwischen Borussia Dortmund und dem Karlsruher SC) – genau solche Ereignisse der Fußballgeschichte meinen wir. Jeder Fußballbegeisterte hat sie im Gedächtnis und kann von ihnen bei jeder Gelegenheit erzählen.

Kaum einer aber kann das so gut wie Rainer Moritz. In seinem neuen Buch Als der Ball noch rund war. Schreckliche, unangenehme und grandiose Fußball-Erinnerungen. Atlantik 2018) lässt er die ganze Palette solcher Meilensteine der Erinnerungskultur an uns vorüberziehen. Locker, humorvoll, pointenreich und ganz im Stil des von uns (trotz aller Machenschaften) noch immer geschätzten Spiels: Mit thematischen Steilvorlagen (vom Málaga-Eis zu Schiedsrichter Wolf-Dieter Ahlenfelder), mit direkt verwandelten Freistößen (die schönsten/schlimmsten Fußball-Schlager) oder mit virtuosen Flankenläufen (Lars Ricken kam, sah und schoss …).

Dank dieses wunderbaren Legendenbuches sind wir also für die schlimmsten Minuten der WM hervorragend präpariert. Wenn Großmann, Skulski, Müller H oder Béla Réthy mal wieder losfabeln – greifen wir einfach zu (den fast dreihundert spannenden Seiten) Moritz und summen (verzückt): Schlag nach bei Moritz (allein das Register hat über zehn Seiten), bei dem steht was drin … (natürlich in der Cole Porter Version von Kiss me, Kate …) …

Die Lebensgefährtin/Der Lebensgefährte 2

Mein Blogeintrag über das Thema Die Lebensgefährtin/Der Lebensgefährte hat (vielen Dank!) zu regen Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern geführt. Einige werfen ein, dass es neben dem „Lebensgefährten“ auch den „Lebensabschnittsgefährten“ (zum Beispiel für bestimmte Lebensphasen/Lebensperioden etc.) geben könnte. Dann bekäme man vielleicht zu hören: „Hey, Leute, das hier ist Cornelius, mein Lebensabschnittsgefährte seit dem vierundsechzigsten Lebensjahr, vorläufig schon mal vorausabonniert bis zum siebzigsten …“

Wem das zu detailliert oder zu umständlich ist, der/dem könnte eine extrem verknappte Version gefallen: „Hey, Leute, das ist Gudrun, meine Gefährtin!“ „Gefährtin“ hat etwas Zupackendes, das nach gemeinsam zu bestehenden Abenteuern klingt. Mit der „Gefährtin“ oder dem „Gefährten“ ist man auf rauem Gelände (und manchmal eben nur da und nicht gleich wieder in einer gemeinsamen Wohnung) unterwegs. Aber Vorsicht: Auch anhängliche tierische Gesellen können „Gefährten“ (oder sogar „treue Gefährten“) sein.

Eine weitere Version für „die Lebensgefährtin/den Lebensgefährten“ wäre „die bessere Hälfte“ (ich muss zugeben, dass ich damit meine Schwierigkeiten habe). „Die bessere Hälfte“ ist vor allem dann zu verwenden, wenn man sich sein eigenes Leben überhaupt nicht mehr ohne die „andere Hälfte“ vorstellen kann. Man denkt also schon beim Aufstehen gleichsam doppelt: „Sechs Uhr. Ich/Wir (Edeltraud und Oskar) stehen nun (in Nachthemd und Schlafanzug) auf (mit dem rechten/mit dem linken Fuß zuerst).“ Ein derartiges Leben heißt in der psychoanalytischen Theorie „Stereophoner Komplex better half“ und ist mit all seinen unterschiedlichen Praxiskomponenten ausführlich erforscht worden.

Schlicht und unkompliziert bleibt das Ganze, wenn man einfach „Freundin“ oder „Freund“ sagt: „Das ist Brunhilde, meine Freundin.“ Solche Schlichtheit könnte Brunhilde allerdings extrem verletzen, und zwar besonders dann, wenn sie schon seit längerer Zeit „eine Freundin“ ist. „Freundin“ ist jedoch zum Glück steigerungsfähig: „Das ist Brunhilde, meine gute/langjährige/beste/allerbeste Freundin.“

Faszinierend ist der schlichteste Vorschlag. Der hat was, unbedingt. Wie nämlich wäre es, „die Lebensgefährtin/den Lebensgefährten“ einfach durch Nennen des Vornamens vorzustellen: „Das ist Peter.“ Schluss. Aus. „Das ist Eva.“ Schluss. Aus. Dann müssen alle, die so etwas in kleiner oder großer Runde hören, sich einmal selbst Gedanken machen. Hä?! Wer ist denn Peter, wer Eva? In so einem Fall bleibt das Leben geheimnisvoll – und in den Köpfen der anderen entstehen im Stillen laufend neue, vertrackte Geschichten.